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So. 3.11.19 23:24

Es kann jeden Augenblick so weit sein, aber da es noch nicht so weit ist, kann Herr M. sich zurücklehnen und warten, was der November bringt. Es könnte ja Frieden werden. So etwas kommt vor, so wie es Krieg gibt, nur Krieg sollte es besser woanders geben, damit es hier nicht die Abläufe stört, es reicht, wenn die Börsen sensibel reagieren. Deshalb übergeben wir jetzt, drei Tage zu spät (wir waren am Meer und hatten zu tun und all das
) - das Kommando an den November, einen der anregendsten Monate des Jahres, in dem sich alles zum Monochromen wendet, dahinter bleibt dennoch viel Farbe.


Mo 4.11.19
10:40 sonnig mit Wolken

Der Poeta Laureatus fragt sich, ob die Teilnahme an einem Auswahlverfahren, durch das er den Job als Dorfschreiber gekriegt hat, schon unter Kollaboration/Korruption fällt. Ein Nein, wäre schön. Ein Ja brächte die Eitelkeit ins Spiel, die Sucht nach Anerkennung wüchse unstillbar zum Wunsch nach Ruhm. Wie gesagt, lautete die Antwort ja, wird man sagen zum Ende müssen, was man immer über Dichter sagen muss. M. war ein Arschloch. Gerechterweise wird man anmerken müssen, wie es je anders hätte sein können.


12:35

Wie wohltuend ein Tempolimit sich auf die Seele eines Autofahrers legt. Herr M. hat zudem einen Tempomat auf die jeweilige Höchstgeschwindigkeit gestellt und nun rollt er dahin. Er muss nur den Mund aufmachen, dann steckt sie ihm etwas hinein, immer das, was er will, und dann noch der Genuss, kein heran jagendes Auto zu fürchten. Man muss nur sehn, dass man nicht von der Straße abkommt.

19:39

Es wäre Herbst, mal wieder ein Herbst, dächte einer, und wieder das gleiche Ziel. Man würde ankommen, wo man alles kennt und trotzdem nichts versteht, am wenigsten sich selbst und wieso das Meer eine solche Anziehungskraft ausübt. Der Fahrer brächte sich in Gefahr, um es zu erreichen. Seine Schutzengel hätten seit über siebzig Jahren alle Hände voll mit ihm zu tun. Das Ende, falls in Sicht, ist für ihn unsichtbar. Er existierte in den folgenden Tagen nur für das Meer. Er registrierte, dass auch andere dieser Faszination erlegen wären, fühlte sich solidarisch, vermied es jedoch, jemandem nahe zu kommen.

Er würde das Meer nur für sich wollen. Es spülte ihm Überflüssiges fort und hinterließe Leere. Es erinnerte ihn an lange Vergangenes und an die Zukunft, die brodelt und Fragen hat, aber andere. So wäre das, erzählte einer vom Meer, der nicht einmal wüsste, ob einer überhaupt vom Meer erzählen könnte, ohne als Lügner dazustehen. Keine Lüge ist, dass die Welt rund ist. Das sähe man dort. Das wäre noch schöner als das Meer.

Auf dieser Reise, von der erzählt werden würde, wäre er tatsächlich dorthin gefahren, gäbe es das Meer als spiegelnde Folie, als grünschwarzes Nichts und in Wellen erbost. Feiner Sand flöhe vor ihm über den Strand in die Dünen, wo er sich türmte und das dahinter sich ausbreitende Land langsam verschlänge. Am Himmel flögen große Flugzeuge, darin viele Menschen, die so kurz vor der Landung still wären und gespannt. Hunde würden nicht begreifen, dass sie die Möwen nicht kriegten, aber die Spatzen begriffen, wie sie die Menschen herauslockten auf ihren Balkon, um Futter auf die Brüstung zu legen. Weit hinten im Wald leuchtete nachts der Turm eines großen Hauses. Und oben wäre die Milchstraße.

So also wäre das, führe einer ans Meer. Und nähme er eine Freundin mit, würde alles genauso, nur anders. Würde man das beschreiben, führte es zu Komplikationen, die einer, der ans Meer führe, nie beschreiben könnte.


Die 5.11.19
20:15 war bewölkt, hat mal geregnet

T. redet oft mit Gott, und immer sagt er, T., du musst aufräumen. Während sie es versucht, denkt sie an ihn und den Tod und sofort sorgt sie sich, was mit ihren Sachen wird. Ihre beste Freundin, V. sagt: Mach dir nicht so viele Sorgen. Du hast doch nix. - Trotzdem, sagt T. und guckt auf den Wellensittich auf dem Lampenschirm neben dem Sofa. Eines musst du versprechen, sagt T. kichernd. Ja, sagt die Freundin und spürt auch schon ein Glucksen. Wenn es so weit ist, sagt T., und kriegt einen Hustanfall, bei dem sie rot anläuft, will ich, schreit sie, WILLLLLL IIIIIIIIIICHHHHHHH eine Schachtel Zigaretten, Feuerzeug, dicke Socken, meine roten Puschen, meine Gitarre, und vielleicht - wenn ich noch mehr Lieder aufnehme, auch die CDs und den Player - braucht man den da? - mit ins Grab. Kein Problem, versucht ihre Freundin zu sagen. An dieser Stelle blende ich neidisch aus.


Do 7.11.19 11:00 bewölkt, aber recht hell

Weder würden sie Egmond, noch Schorl erreichen, wie sie es früher erreicht hätten, hätten sie sich auf den Weg gemacht, denn wenn sie losgehen würden, wie sie früher losgegangen waren, ohne auf die Zeichen des langsam fortschreitenden körperlichen Verfalls und der zunehmenden Vertrottelung zu achten, hätten sie bald feststellen müssen, dass ihre Beine schwerer wären als sonst.
Das hätte nicht allein mit Verfall und Vertrottelung zu tun, sondern auch mit dem Konsum verschiedenster Lebens- und Genussmittel. Was immer sie äßen, tränken oder rauchten, und sie rauchten gern, alles wäre sowohl gesund als auch ungesund. Egal, ob der Wind von vorn käme oder von hinten, er würde die Sache zusätzlich erschweren. Wenngleich man sagen müsste, dass der Rückenwind, bliese er in erregterer Stimmung, das Laufen leicht ins Traben übergehen ließe, während der Gegenwind, wäre man tatsächlich losgegangen, eher den Wunsch verspüren ließe, fliegen zu wollen wie Heringsmöwen.

Zudem würde man, hätte man es gewagt, das Luxusappartment, das einem wegen Überbuchung eines nur halb so teuren Appartements aus Kulanzgründen zum gleichen Preis angeboten worden wäre, zu verlassen, feststellen, dass sich am Zustand der wahrnehmbaren Welt an den vorgegebenen Koordinaten nichts geändert haben würde, wenngleich man natürlich hätte wissen können, dass diese Weite demnächst von dem, was man Klimawandel nennt und nicht wahrhaben will, überflutet werden würde.

Nach einer gewissen Weile also, die man trabend oder mit dem innigen Wunsch, eine Heringsmöwe zu sein, vorankommen würde, vorausgesetzt, man hätte das Luxusappartment mit Blick aufs Meer, Dünen und den trostlosen Boulevard verlassen, würde sich in den Dünen ein Weg auftun, der Rettung verspräche. Der kürzerste Weg, nähme man an, und wäre einer weiteren Täuschung auf den Leim gegangen, denn kaum hätte man die Düne überquert, täte sich ein Tal auf, durchzogen von sandigen, nur mit Mühe zu begehenden Wegen, die zum Wald wieder anstiegen, den man durchqueren müsste, um auf einen asphaltierten Weg zu gelangen, auf dem Männer aller Altersstufen auf elektrifizierten Mountainbikes ihrem Glück hinterher rasten.

Man hätte schon vorm Losgehen einen gewissen Appetit verspürt, wenn nicht sogar Hunger, aber da man losgegangen wäre, wären die rettenden Pavillions jetzt meilenweit entfernt. Man hätte zwar etwas zu Trinken dabei, man würde auch Substanzen inhalieren, die der Welt eine zusätzliche Pointe gäben, aber den Hunger stillte das nicht, eher das Gegenteil wäre der Fall, und diesen Appetit würde man erst stillen können, ginge man weiter und weiter und würde nicht von den Männern zu Tode gebracht.

Schlussendlich aber, das darf nicht verschwiegen werden, würde man, hätte man sich all diesen Strapazen, die ja auch schön sind, ausgesetzt, einen Pavillion erreichen und dort, trotz der fortgeschrittenen Jahreszeit draußen sitzend, ausgesprochen leckere Fritten essen können.
Aber wie gesagt, noch hockte man im Luxusappartment und wollte eigentlich nirgendwo hin, höchstens, dass man davon träumte, man könne alles jederzeit tun, wäre da nicht dieser verfluchte Konjunktiv.



Fr. 8.11.19 10:32 sonnig

Das ist mein Baum. Ein paarmal habe ich ihm Efeu vom Leib geschnitten, letzten Sommer habe ich ihn einmal gegossen, aber ich kümmere mich nicht. Er ist ein Solitär wie ich, wir wissen also, was wir vonbeinander zu halten haben. Er stand schon dort, als ich 83 hier einzog, aber ich erinnere mich nicht mehr, wie groß er damals war. Seitdem ist er jeden Augenblick anders. Bei leichtem Wind winken einzelne Blätter sich zu. Nachts zittern düstere Falter auf ihm. Im Winter ist er ein Radierer, der messerscharfe Linien in den Himmel ritzt. Im Frühjahr ist er verliebt, was sonst. Noch übersteht er die Sommer.


 

Sa 9.11.19 14:10 bewölkt

Um sieben hing Nebel zwischen den Häusern. Tröstlich, fand ich. Ich ging spazieren und fror trotz des dicken Mantels. Ich frühstückte, verschob die Grundreinigung der beiden noch ausstehenden Zimmer auf die nächste Woche und beschloss, den Tag zu vertrödeln. Ich hatte mir gestern auf die Schulter geklopft, nachdem die Lektoratsarbeit für das Lesebuch mit meinen Texten so entspannt und flott abgeschlossen war, ich habe es verdient, hatte ich gedacht, und das Trödeln wäre der Lohn.

Ich versuchte es auf dem Sofa, las Zeitung, aber Politik ist ein so vertracktes Geschäft, dass es einen gruselt, wenn man weiß, was auf der Welt los ist. Also zog ich mir die Decke über den Kopf und schlummerte. Ich wollte faul sein und mich bedingungslos lieben. Das ist noch schwieriger als trödeln. Sofort setzen Übersprungshandlungen ein. Klavierspielen. Girl von den Beatles probieren. Ansatzweise hinkriegen. Abbrechen. Kaffee kochen. Video gucken. Einkaufen. Eine einsam Geschiedene treffen, die gar nicht aufhört zu reden. Sie ist zu alt. Unfuckable. Ich bin zu alt. Wie kann man überhaupt so alt werden und den Mut nicht verlieren. Videos gucken. Kochen vorbereiten. Im Grunde aber will ich nichts weiter, dass es Abend wird. Heute abend spielt ein polnisches Tango Orchester in der Stadt. Meine Lieblingstänzerin wird da sein. Also doch jetzt, kochen. Essen. Weiter herumspringen. Doch noch schreiben?


Mi 13.11.19
nasskalt


Do 14.11.19 frisch 23:45

Als Karl Mill die Tür schloss, wusste er, dass es das letzte Mal war. Er hatte gekämpft. Es reichte, mehr war nicht zu sagen, er würde verschwinden und der Rest fände sich. Ein Glück nur, dass keine Frau ihn vermissen würde.


Fr 15.11.19 00:04

Komisch, plötzlich kümmere ich mich.


10:54

Der jüngste Enkel brachte ein Einhorn. Oh, sagte ich, ein Einhorn. Lustig oder, sagte der Enkel. Ja, sagte ich. Soll ich es auf den Tisch stellen? Ja, sagte der Enkel. So begann ein Spiel, das sich über eine Stunde hinzog. Ich habe vier Enkel, vier Jungs, da kommt einiges zusammen, so dass der Tisch schließlich von Einhörnern, Giraffen, Pferden, Hunden, Schlangen, Tigern, Löwen, Elefanten, Elfen, Hyänen, Zebras und Dinosauriern bevölkert war. Jedes Tier bekam einen vom Enkel zugewiesenen Platz. Muss dahin, sagte er, und wenn es da stand, sagte er lustig, oder? Wie oft er von den Spielkisten zum Tisch und zurück lief, weiß ich nicht mehr, aber er hat eine gehörige Strecke zurückgelegt, wobei ihm der Schnott aus der Nase lief, den ich ab und an wegwischte. Hin und wieder wurde einem Tier ein Familienmitglied zugeordnet. Ich war ein Saurier mit hohem, orangenen Rückenkamm. Als der Tisch voll und die Spielkisten leer waren, setzten uns auf das Sofa und warfen uns einen handgroßen Ball zu. Lustig, oder? Ja. Der Schnott lief noch immer. Schließlich kamen die großen Brüder nach Hause. Die beiden Ältestens begannen sofort, die auf dem Tisch aufgestellten Tiere in zwei Lager zu teilen: links die Vegetarier, rechts die Fleischfresser. Und dann sitzt der Opa da, seine Frau lebte noch, sie könnten das Glück teilen, aber die Frau lebt nicht mehr und das Glück ist brüchig und für einen zu groß.





Sa 16.11.19 17:07

Die beiden sind laut, blond, und tragen ihre Brüste so, dass jeder sie sehen kann. Sie kiechern und liegen sich in den Armen, während eine telefoniert und sagt, sie käme so gegen drei, er solle sein Handy nicht abstellen, sonst müsse sie draussen schlafen. Ach ja, und vielleicht kommt Gina mit. Gina ist mit einem Griff in ihren Ausschnitt links beschäftigt. Ob der Bus zum Rüschhausweg führe, hatten sie anfangs gefragt, ja, hatte der Busfahrer gessagt, jetzt hält er am Hüfferstift und sie fragen einen gegenüber sitzenden Mann, ob die Altstadt schon vorbei wäre. Ja, sagt er. Dann müssen wir aussteigen, sagt die eine zu Gina. Der Mann sagt, sie sollten bis zum Coesfelder Kreuz fahren, da fänden sie leichter einen Anschlussbus. Sie setzen sich wieder, starren auf ein Smartphone, krass, sagt eine, beide schreien vor Lachen, der Bus hält wieder, und sie steigen überstürzt aus.

21:58

Die Idee, die Wohnung von Grund auf zu reinigen, stammte nicht von Herrn M. Er hat nichts gegen elegante Verlotterung, er kann mit Spinnen und Staub leben, hat nie Allergien gehabt und kriegt hoffentlich auch nie eine. Die Idee stammte von einer Frau. Herr M., erst erbost über ihre Kritik, hielt Rücksprache mit seiner Schwester, und die fand auch, dass seine Wohnung eine Grundreinigung vertragen könne. Jetzt, drei Wochen danach, ist die Wohnung bis auf ein Zimmer blitzblank geputzt, und Herr M. hat Freude daran. Seitdem sieht man ihn häufig mit Putzlappen.



So 17.11.19 11:43 bedeckt






Das ist Else. Else hält sich an das auf dem Teller ausgelegte Futter, während Meisen den unterm Balkon aufgehängten Spender, Spatzen und Heckenbraunellen die einen Meter daneben hängenden Futtersäckchen bevorzugen. Ich liege derweil auf dem Sofa, trinke Kaffee und beobachte meine Gäste. Artistische Anflüge. Umeinander kreisen auf engstem Raum. Kolibriartiges Flattern, wohl, um den rechten Anflugpunkt fixieren zu können. Abfallen, halbschräg in den Büschen verschwinden.

19:06

versehentlich
vergaß ich heute früh zu leben
und war, zu mittag wurd's mir klar,
wohl tot,
ich dachte nach, beschloss, mir ein' zu heben,
so kam der blues ins boot.

da sitze ich, die nacht hat welt verschluckt,
kein mond in sicht, kein anfang,
ich hätte gerne aufgemuckt,
stattdessen hänge ich im windfang.

wer weiß, ob einer klingelt, nach mir schaut,
ich glaube eher, es klingelt nicht,
denn was ich mir bis jetzt verbaut,
wird nie mehr helles licht.

jetzt die moral,
vergiss das leben nicht
nimm es mit cunilingus
oder nimm es nicht,
nimm's, wie es kommt,
denn es kommt sowieso,
sag abends danke und sei froh.


Mo. 18.11.19
11:52 bedeckt, feucht




Das ist Paula. Paula kommt seit gestern regelmäßig. Sie hat Abitur, aber weil sie die Nase von Schule voll hatte, studierte sie trotz Drängens ihrer Eltern nicht und wurde Sängerin.


Di 19.11.19
18:05 bedeckt, heute früh Regen

Wenn man ihn empfinge wie heute in der Kardinal von Galen Grundschule, gäbe es nichts zu meckern, aber bei all seinen Lesungen hat er das selten erlebt. In der Regel kommt Herr M. ins Sekretariat, sagt Guten Morgen, sagt wie er heißt, und dass er zu einer Lesung gebucht sei. Häufig bringt man ihn dann in ein Lehrerzimmer, dort sitzt er herum, während Lehrkräfte kommen und gehen und flüchtig grüßen. Irgendwann taucht eine Schulleiterin oder ein Schulleiter auf, sagt ein paar Worte und weist ihm den Weg in die Aula.

Heute früh aber, er war über Land gefahren, es hatte geregnet und er war der einsamste Mensch der Welt, weil er sich auf solchen Fahrten durch die Jahreszeiten zu mehr oder weniger entfernten Orten immer fragt, ob es gut gehen wird, wie es bisher immer gut gegangen ist, oder ob ihn die Zauberkräfte, von denen er nichts Genaueres weiß, verlassen haben, denn so etwas passiert, oft bemerkt man es nicht einmal und wird schlechter und schlechter. Diese tief sitzende Furcht ist immer dabei, wenn Herr M. unterwegs ist. Wenn man ihn aber herzlich empfängt, so wie man ihn heute empfangen hat, wenn er man ihm Kaffee, Plätzchen und Kuchen bringt, ihm einen Balkon zuweist, auf dem er rauchen kann, und ihm zuflüstert, das sehen wir gar nicht, da wissen wir nix von, löst sich die Furcht und Mut macht sich breit. Und wenn dann die Kinder kommen, ihm zunicken, lächeln, ist sie schon fast auf und davon. Er bittet zwei Kinder, den roten Vorhang vor der kleinen Bühnen auf Drei langsam aufzuziehen, verschwindet dahinter, Bei Drei tritt er heraus und Applaus brandet auf. In diesem Augenblick löst sich alles auf, und er weiß wieder, dass er als Kind in den Zaubertrank gefallen ist, und keine Angst nötig ist. Drei Lesungen, ca. 120 Kinder, das ist Broterwerb und große Freude, aber beim nächsten Mal geht alles wieder von vorn los.

 

Do 21.11.19 bewölkt, frisch

Schauen sie, sagte Paula, die, wie Sie wissen, täglich bei mir frühstückt und Zwischenmahlzeiten einnimmt,
ich als Sängerin lebe von Tonfolgen, ich trainiere Triller, ich versuche, dem Leben mein Bestes zu geben, während viele die Welt in Grund und Boden reden, Katastrophen heraufbeschwören, um sie dann mit ihren Methoden "retten" zu können. Hören Sie nicht auf die Idioten. Trauen Sie ihrem Menschenverstand.


Mo 25.11.19
10:04 bewölkt

Von morgens bis abends geschieht etwas. Jede Beobachtung, jeder Satzfetzen weht mir die Option für Text um die Ohren, aber in den letzten Wochen habe ich mich oft gedrückt. Mir wird schlecht vom Zustand der Welt, ich weiß nicht, was ich noch sagen könnte, mir wäre wohler, ich schriebe, aber da alles fragwürdig ist und zur Pose erstarrt, traue ich der Literatur auch nicht recht.

Ich habe gefrühstückt. Ich beobachte Vögel auf meinem Balkon. Ich erwarte Besuch aus Berlin. Ich habe versucht, das Cover meines im Frühjahr erscheinenden Buches zu kopieren, um es der Welt zu zeigen, aber ich weiß nach dreißig Jahren Computerarbeit noch immer nicht, wie man von einem PDF einen Screenshot erstellt. Egal, was man tut, man bleibt dumm.


Di 26.11.19 9:40 bewölkt

Jakob aus Berlin wollte, dass ich für das Feature, das er für DRKultur macht, und für das er mich im letzten Jahr zwei- oder dreimal besucht hatte, um sich meine Geschichten anzuhören, Perkussion und Ukulele einspiele. Die Djembe sollte es nicht sein, die klänge zu afrikanisch, also gingen wir in den Schlagzeugkeller. Ich klappte meinen Koffer auf, in dem die Reste der über Jahrzehnte gesammelten Instrumente verwahrt sind. Die wären richtig, meinte Jakob. Wir trugen den Koffer nach oben. Ich packte ihn aus und verteilte die Instrumente auf dem Teppich. Er machte sein Aufnahmegerät klar und justierte die Mikrofone. Ich setzte mich auf den Boden vor die halbkreisförmig vor mir liegenden Instrumente und klapperte mich in einen Rhythmus, den ich zu jeder Tages- und Nachzeit spielen kann. Er war begeistert von der Akkustik des Raumes. Ich schätze, das liegt an den vielen Büchern, den Teppichen und den Sofas. Zur Perksussion improvisierte ich auf der Ukulele einfache Riffs. Danach saßen wir auf dem Sofa. Jakob ist unruhig, wenn er nicht aufnimmt. Wenn er aufnimmt, ist er die Ruhe selbst. Er nimmt immer auf, sagt er. Er legt sein Aufnahmegerät einfach irgendwohin und wartet mit einem treuen Blick, bis jemand zu erzählen anfängt. Das ist sein Trick. Oder sein Talent. Eigentlich bin ich talentlos, sagt er. Ich kann nichts, ich tu nur so, aber das ist ja gerade das Spannende. Ich nannte ihn Hochstapler und Ausbeuter. Ich weiß, sagte er. Manchmal schäme ich mich, und trotzdem find ich es geil. Außerdem sind alle Künstler Hochstapler. Womit ich beim Thema wäre: Ich werde Dorfschreiber in Everswinkel.


Mi 27.11.19 10:19 bewölkt, feucht

Vier Spatzen im Augenblick, sechs jetzt, zwei hocken in den Forsythien, einer auf der Balkonbrüstung, drei beim Futterteller. Paula landet auf der Balkonbrüstung. Die Spatzen beobachten sie. Paula springt zum Futterteller. Die Spatzen bleiben auf Abstand, nur einer kommt näher. Paula attackiert ihn. Er und die anderen fliehen, um auf den Spitzen der Äste und auf der Brüstung abzuwarten. Dann taucht Else auf. Das Rotkehlchen hockt sich auf die Brüstung, wippt mit dem Schwanz, geht zwei, dreimal in die Knie, macht sich groß und fliegt eine Attacke auf Paula. Paula flieht. Die Spatzen kommen zurück. Als auch Paula zurückkehrt, gehen sie auf Distanz. Paul taucht auf und greift Paula an. Paula flattert, Paula wird auf den Rücken geworfen, Paul ist auf ihr und hackt, bis Paula sich befreien und davon fliegen kann. Die Kohlmeisen und Heckenbraunellen sind nicht zu sehen, aber bestimmt in der Nähe.


Do 28.11.19
23:29

Es ist dunkel, es regnet, aber ich bin am Ziel. Ich parke gegenüber der Kirche und steige aus. Im Juli war ich schon einmal hier. Für einen Westfalen (worauf er, warum, weiß er selbst nicht, einigen Wert legt) ist Ostfalen fremdes Land. Ich weiß zwar, dass es sich streckt, wellt und schließlich an einen Fluss stößt, der hier noch durch Ostfalen, dort schon durch Niedersachsen fließt, aber sonst weiß ich nichts. Ich lebe in einer kaum zwanzig Kilometer westlich gelegenen Stadt, die abends am Horizont leuchtet, als wäre sie eine Metropole.

Der Ort ist umgeben von Feldern, kleinen Wäldern, Eichen und Buchen oft, aber auch Kiefern, er ist fern brausender Straßen, wenngleich es eine gibt, die außen vorbei geht. Er heißt Everswinkel. Ever sind Eber. Ich betrete einen Gasthof, in dem man zum Feierabend ein Bier trinkt, Karten spielt, isst und plaudert, als wäre die Welt in Ordnung. Nach hinten heraus ist ein
Saal, in dem Kulturinteressierte dreimal pro Jahr ein Programm auf die Bühne bringen, in dem Menschen zeigen dürfen, was sie gern tun und von dem sie glauben, dass sie es können. So finden sowohl die einen als auch die anderen Erfüllung. Ich werde hier lesen.

Eröffnet wird der Abend von 5 Männern an Gitarren, Bass, Schlagzeug, keyboard und Saxophon. Der Saxophonist ist gerade in Rente gegangen. Die anderen sind waren auch nicht viel jünger. Eine hochgewachsenene Frau Mitte dreißig singt. Sie hat einen unangestrengten Ton, und nach dem dritten Lied, Salisbury Hill, schüttelt sie die schüchterne Westfälin vorsichtig ab.

Man hatte mich herzlich empfangen und ein wenig verwöhnt, schließlich hatten sie mich gewählt, aber ich wahre vorsichtig Distanz. Nähe könnte offenbaren, wer ich wirklich bin, und das würde meinem Kerngeschäft schaden.

Als die Band mit ihrem ersten Set fertig war, bat man mich auf die Bühne. Die Organisatorin stellte mich vor. Sie attestierte mir kindlichen Unsinn und sprach mir Qualitäten zu, die dem babylonischen Turm meiner Hochstapelei jederzeit gefährlich werden könnten, aber das ließ ich mir nicht anmerken. Ich bedankte mich, ich scheute mich nicht zu sagen, dass ich im nächsten Jahr drei Monate auf ihre Kosten in diesem Ort leben werde, um tun und lassen zu können, was sie nicht tun und lassen können, ich drehte mich um die Achse, damit sie mich von allen Seiten betrachten konnten, überlegte, mein Jackett auszuziehen, ließ es, erzählte kurz, wie es dazu kam, dass man gerade mich ausgesucht hatte, und sogar das Fluchtfahrzeug ließ ich nicht unerwähnt. Die Gäste waren vierzig und älter, Enddreißiger waren auch ein paar da. Das junge Volk war wahrscheinlich da, wo der Horizont leuchtet, um etwas zu finden, wofür man nicht weggehen müsste. Ich begann zu lesen. Das Mikro hatte Qualität, der Ton war hervorragend, ein wenig mehr Licht hätte gut getan, aber ich tat, was ich konnte und hinterließ einen guten Eindruck. Vielleicht kommt ja doch noch alles in Ordnung, dachte ich, als ich heim fuhr.