November 2022 www.hermann-mensing.demensing literatur
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Di 1.11.22 22:30 sonnig
Den Tag mit dem Ausfüllen des Bewerbungsformulars für ein Stipendium in der Villa Massimo verbracht. Musste Angaben zu Ausbildung und Berufsweg, die 10 wichtigsten Projekte, die wichtigsten Preise, die wichtigsten ausgeführten Arbeiten, Veröffentlichungen und schlußendlich eine Begründung für den Aufenthalt in Rom machen. Die Begründung steht noch aus. Da braucht es schlagende Sätze. Aber nicht mehr heute.
Die Zeitumstellung verhindert das langsame Übergleiten in die dunklere Jahreszeit. Stattdessen fragt man sich von einem Tag auf den anderen, wieso es um 18 Uhr schon stockdunkel ist.
Habe Ridley Scotts Prometheus gesehen. Frage mich: was hädde muddi in so eine siduadion gedan?
Fr 4.11.22 12:30 sonnig frisch
gedicht für eine rinderzunge
man hat dem kobe rind
schlußendlich mahler vorgespielt
mit mozart litt es an koliken
es hatte auch geäußert
dass ihm stockhausen nicht liegt
der tod hat sich geräuspert
noch eine letzte zigarette
das kobe rind verzichtete
der tod legt ihm die hand auf
eh er es akkurat vernichtete
es zuckte sprach noch
auf der zunge lag ein letzter satz
dann hing's kopfunter
fand dort seinen letzten platz
und baumelte an schlingen
ganz still sollt es nun bare münze bringen
heut abend kommt die zunge auf den tisch
dazu wird bier getrunken wodka und gekifft
bis einer dann den letzten satz spricht
17:10
Zwar bricht um fünf schon der Abend an und dann gleich die Nacht, aber den jahreszeitlich typischen Wind, Regen und Nebel, der uns in das verwandelt, was wir eigentlich sind, geisterhafte Gestalten in Time (siehe Gestalttheraphie) spart sich der November noch auf. Das Totengedenken will sich nicht einstellen, die suizidalen Fantasien retten sich in last-minute Urlaube im Süden. Wir greifen auf Pullover, Schals, Decken und Mützen zurück. In Anbetracht des ersten Kriegswinters seit 1939 (großartige, weltbewegende Siege) haben wir zudem beschlossen, die Abende reihum bei Freunden zu verbringen, sodass man es jeden Abend warm hat, und wir pro Monat nur ein, zweimal heizen müssen. Wenn man bedenkt, wer alles friert, hungert und/oder erschossen wird, sind das paradiesische Aussichten. Und wenn dann auch der Krieg überwunden ist, ohne dass das dicke Ding (germanische Erfindung) an der Spitze einer Rakete explodiert, die vom immer akkurat gekleideten und später im blendend aufgestellten Amerika lebenden Herrn von Braun (ich war kein Nazi) erfunden wurde, wenn die Tulpen aus Amsterdam (eigentlich Alkmaar) ihre verschlafenen Augen öffnen und uns mit Farben betören, die ein Halluzinogen kaum besser hinkriegt, wenn die Vögel zu vögeln und die Liebenden ihre zerstörerischen Spiele beginnen, die in Ehen und Kinderbetreuung münden, wenn das innerste der Schöpfung sichtbar wird, heißt es, Tandaradei, wieder haben wir nichts gelernt. Ich hingegen habe alles auf eine Karte gesetzt und mich für die Villa Massimo beworben.
So. 6.11.22 12:28 - 16:10 wechselnd bewölktAnnette Brief 56
Lieber Hermann
danke für deine Gedichte. Manchmal verstehe ich sie nicht, unsere Welten sind doch wohl zu weit voneinander entfernt, aber ihr Ton macht mir Freude. Dir geht es mit meinen ja ähnlich. Ich denke vor allem an das "Geistliche Jahr", das du den beiden Friesen vor ein paar Wochen im Schneckenhäuschen (ich saß auf der Fensterbank) als einen Gedichtzyklus beschrieben hast, den ich nur geschrieben hätte, um die Großmutter in Haxthausen zu beruhigen. Einerseits stimmt das. Ja, ich musste mich verteidigen, alle hatten Zweifel an meiner Arbeit. Vielen war sie peinlich und insgeheim wäre es allen lieber gewesen, ich hätte mich noch mehr um die Familie gekümmert, als ich es sowieso tat. Ja, ich wollte sie beruhigen. Ich wollte beweisen, dass die geistlichen Jahreszyklen noch Teil meines Jahres waren, wenngleich ich mit ihnen hart ins Gericht ging. Du aber hast sie katholische Alibidichtung genannt hast, das stimmt nicht, und es ärgert mich.
Hör zu:
Ja, selbst zu Nacht, wenn Alle schlafen
Und über mich die Angst sich legt,
In der Gedanken oeden Hafen
Der Zweifel seine Flagge trägt:
Wie eine Phosphorpflanze noch
Fühl ich es warm und leuchtend schwellen
Und über die verstörten Wellen.Jetzt du mit deinem großen Maul. (smiley) Du und deine großmäulige Welt, in der jedes Wort in Jetztzeit (realtime hieße das, hast du gesagt) auf ein Widerwort prallt und das wieder auf ein weiteres und weiteres undsoweiter. Eure Welt plappert unaufhörlich, aber nichts davon hat festen Boden, nichts steht ihm Leben. Das kann nicht gut gehen. Versteh mich nicht falsch. Ich habe meine Welt beobachtet. Obwohl mich die Natur mehr inspiriert hat, als die sozialen Fragen, war ich dennoch Realist. Mein Wissen musste meinen Glauben töten.
Diese Zweifel beweisen meine Anwesenheit in der Gegenwart. Du kannst dir vorstellen, dass das nicht einfach war. Meine Jahre waren voll unlösbarer Konflikte. Es gab den großen napoleonischen Krieg und die Neuordnung danach. Kirche und Aristokratie mussten Federn lassen, aber die alten Interessen behaupteten sich dennoch. Damals war also gar nichts besser als heute. Aber eurer Welt fehlt der Glaube, selbst der angezweifelte Glaube. Wenn du das "Geistliche Jahr" liest, lass dich nicht von deiner Abneigung gegen die katholische Kirche blenden. Glaube gehört weder ihr noch sonst jemandem. Glaube ist bodenlos. Er kann glücklich machen und Angst auslösen. Die Kirche hat das mit ihren billigen Versprechungen schamlos ausgenutzt. Du sagst, jetzt liefen ihr die Schafe davon. Das geschieht ihr recht. Ob die Welt ohne Kirche denkbar ist, kann ich nicht sagen, aber ohne Glaube kann sie nicht leben. Und was bliebe? Die Wissenschaft? Lies das geistliche Jahr. Es ist nämlich auch für jene thörichten Menschen, die in einer Stunde mehr fragen, als sieben Weise in sieben Jahren antworten könnten.
Wünsche dir einen schönen Herbst.
deine Annete
Mo 7.11.22 11:00 bewölkt und windig
Es hat zu regnen begonnen. Die Leichtigkeit ist fort. Ich dachte erst, sie hätte sich hinterm Sofa versteckt, das tut sie manchmal, fand aber nur zerknüllte Papiertaschentücher. Ich lockte sie mit Madam George, das Stück ist lang genug, um ohne Gesichtsverlust wieder leicht zu werden, ich spielte Du du hast... von Rammstein, hart um Steine zu erweichen, ohne Erfolg. Die Gravitationskraft liegt nach wie vor bei g = 9 , 81 m s 2, und ich kann nicht fliegen. Ich versuche es jeden Tag und scheitere kläglich. Der Verlust der Leichtigkeit ist ein Phänomen der dunklen Jahreszeit. Ich bin 73, ich habe das also oft genug erlebt, aber es tut jedes Mal weh.
Di 8.11.22 15:45 bewölkt, milder als gestern
Schon als er in den Bus stieg, war er uneins mit sich. Wuchtete Tüten auf diesen, dann jenen Sitz und klagte. Dass er mit so viel Tüten unterwegs sei, hauptsächlich ging es um Tüten und dass er damit auf keinen Platz passe. Mittelgroß, hager, kurzes, wildes Haar, vielleicht mal ein Punk oder einer, der in die Jahre kommt. Mittdreißig. Typ: Ratte. Der Bus fährt an. Er steht im Gang, schwenkt Tüten und krächzt, was ich nicht verstehe und niemanden im Bus interessierte. Der Bus ist seit der letzten Haltestelle kaum hundert Meter gefahren, als der Fahrer den Mann bittet, sich hinzusetzen, sonst müsse er aussteigen. Dem, der mal Punk war oder immer noch ist, schien diese Ansage gerade recht. Vielleicht hatte er sogar darauf gewartet. Vielleicht schmeichelte sie ihm, denn jetzt war er auch offiziell in den Mittelpunkt des Geschehens gerückt. Er setzte sich nicht, gestikulierte und redete weiter in einem fort fast im Falsett. Der Bus hielt. Der Fahrer öffnete die Türen. Raus jetzt! Lautstarkes Posen, Gepolter, dann schien es, dass er ausgestiegen war. Dumpfe Schläge gegen Glas oder Metall. Der Busfahrer sprang aus dem Bus und rannte dem Davonlaufenden ein paar Meter nach. "Hau bloß ab du Arschloch" schrie er. Die hinteren Türen des Busses ließen sich nicht mehr schließen. Der Busfahrer funkte die Zentrale an und fuhr zur nächsten Haltestelle um die Ecke. Bitte steigen Sie aus, gleich kommt ein Ersatzbus, sagte er.
Do 10.11.22 11:33 - 23:14 sonnig, windig, mild
mein ich
das meine eltern
hermann nannten
während noch krieg
in ihnen tobte
(sie hätten es auch DMark nennen können)
erlebt die welt als schrecken
segen fluch
und da man DMark selten lobte
als minderwertig
nie genug
nur schlaf ist glück
in träumen
kann es einsamkeit
ertragen
mit frauen
seelen die es tragen
doch kaum erwacht
stellt seine hölle fragen
es ist ein
dichter lügner ein despot
voll zuversicht
und aussichtslos
und wenn es sich
nicht zwischendurchs aufs sofa legt
beherrscht vom idiot
ein kopf
der glaubt
auf anhieb zu verstehen
sich alles zutraut
selbst das gegenteil
den jeder schuss traf
seit nun 73 jahren
so liegt er faul
auf dem fauteuil
er hat getanzt
gestern stieg er
auf einen baum
ist tätowiert von innen
und sein außen ist verwanzt
in diesem traum gibt es
nur tote wieder tote
und er als götterbote?
11.11.22 10:59 wechselnd bewölkt
das ich
dem eltern
einen namen gaben
während noch krieg in ihnen tobte
erlebt die gegenwart
faszination und fluch
als minderwertig
nie genug
schlaf ist sein glück
hier kann es einsamkeit ertragen
mit frauen seelen die es tragen
erwacht stellt seine hölle fragen
es ist ein
dichter lügner
ein despot der zuversicht
ein kopf
der glaubt
auf anhieb zu verstehen
sich alles zutraut
selbst das gegenteil
den jeder schuss traf
seit nun 73 jahren
nachmittags liegt er
auf dem fauteuil
er hat getanzt
gestern stieg er
auf einen baum
ist innen tätowiert
und außen voll verwanzt
in dieser schönen welt gibt es
nur tote wieder tote
und er als götterbote?
11:42
ein mann
erlebt die gegenwart
faszination und fluch
als minderwertig nie genug
schlaf ist sein glück
hierkann er einsamkeit ertragen
mit frauen seelen die ihn tragen
tagsüber stellt die hölle fragen
bist du ein20:01
dichter lügner ein despot
fürchtest die schrecken nicht
und schwärmst vom gegenteil
bist du lebendig schwarz grün rot
oder legst du dich hin
und hältst maulaffen feil
du lebst du tanzt
du hast dein brot
bist innen tätowiert
und außen voll verwanzt
du hast die segel längst gefiert
in dieser welt gibt es nur tod
Ob ein Traum oder unvollendetes Gedicht, es ist immer mehr wert als die nüchterne Frucht vom Baum der Erkenntnis.
22:49
ich bin ein
faul wie broter dichter
lebendig schwarz grün rot
Wir hören jetzt auf mit der Poesie. Es reicht. Wir werden wieder prosaisch, verstanden?
So 13.11.22 16:10 frühlingshafter Tag, Regen ist dringend nötig
Auf dem Platz vor den Dönerbuden, Bahnhofskneipen und hinter den Bussteigen huschen Ratten. Nicht einmal im Bremer Tunnel habe ich je so viele gesehen. Sie sind nicht ängstlich. Sie bleiben stehen, wittern. Der Tisch ist gedeckt. Müll, Dönerreste, übrig gebliebene Fritten. Kein Papierkorb in Sicht. Die nächtlich Verlorenen, die sich überall auf der Welt um Bahnhöfe scharen, um ihrer Einsamkeit den Anschein eine Heimat zu geben, machen die Sache nicht besser. Ich könnte eine Ratte tottreten, aber warum? Eigentlich mag ich Ratten. Mein Bus kommt. Ich steige ein.
Eine Frau Mitte 30 setzt sich zwei Reihen links vor mir auf einen Sitze direkt hinterm Fahrer. Sie ist groß und dunkelblond, sie ist sportlich, aber man sieht, dass die Jugend sich dem Ende nähert. In ihrem schmalen lange Gesicht senken sich die gestern noch straffen Wangen, und werden vorm Spiegel jeden Morgen dafür beschimpft. Die Frau stellt ihre große Tasche neben sich und beugt sich hinein. Kopfhörer kommen zum Vorschein, die Kabel vertwistet. Sie hat alle Hände voll zu tun. Strickzeug und ein Schal kommen zum Vorschein. Armlang, handbreit, eierfarben und hellblau. Er ist längst nicht fertig, überall Fäden. Die müssen entwirrt werden. Das dauert. Dann setzt sie die Nadeln an. Wieder stimmt etwas nicht. Ich beobachte sie gut zwanzig Minuten, dann steigt sie aus. Ans Stricken ist sie nicht gekommen, es gab einfach zu viele Widrigkeiten. Aber es war schön, ihr beim Scheitern zuzuschauen, sie schien zufrieden, mehr kann man nicht wünschen.
15: 50
Spatzen hocken in den Forsytien vorm Balkon. Die Futtersäule, ein etwa vierzig Zentimeter langes rundes Plastikgefäß mit Futterlöchern ringsum und kleinen Stäben darunter, auf denen die Vögel landen können, schaukelt knapp einen Meter über ihnen an einem Packband unterhalb des Balkons über unserem. Ich kann an den Bewegungen der Vögel erkennen, welcher als nächster zu Futtersäule aufsteigt. Sie fixieren sie mit halbschrägem Kopf, spreizen ihre Flügel oder beugen sich vor. Dann steigen sie auf. Manche umschwirren sie, eh sie auf einem der Stäbe landen. Ist der erste aufgeflogen, folgen die nächsten. Die Futtersäule beginnt sich zu drehen. Den Spatzen macht das nichts. Wenn sie sich zurück in die Forsitien fallen lassen, ja, es sieht aus, als fielen sie, bringen sie Futtersäule dazu, sich schnell wie ein Kreisel zu drehen. Manchmal vergesse ich, sie zu füllen. Wenn ich dann nachfülle, dauert es kaum ein paar Minuten, und die Vögel sind wieder da. Ich glaube, sie beobachten mich. Ich würde mich gern mit ihnen anfreunden. Am liebsten wäre mir, sie kämen und landeten auf meinen Schultern oder meinem ausgestreckten Arm. Die Sonne gleißt golden. Die letzten orangeroten Blätter der japanischen Kirsche zittern leicht. Der Himmel zieht zu. Zum Abend könnte es Regen geben. Mein Wohnzimmer ist ungeheizt. Die Frau kommt nachhause. Wir trinken Kaffee. Unser Leben fließt, und wir wissen, wohin. Es nutzt nichts, zu dagegen zu wehren.
Di 15.11.22 18:00 überwiegend sonnig, nachts hat es geregnet
Mein Bauch hängt auf Pimmelhöhe. Der Doktor sagt, ich äße verkehrt und würde mich zu wenig bewegen. Wozu sollte ich mich bewege? Und was ist verkehrt an Frikadellen, Nudeln und Pizza. Ich mag Pizza. Ich kann die selbst kochen. Döner kann ich nicht ohne. Und Erdnüsse. Zum Glück habe ich keine Allegie. Samstags gehe ich auf Preussen. Sollen die sich doch bewegen. Ich feuer die an. Wenn der Preussenblock ruft, rufe ich mit. Scheißewuppertal! rufe ich, wenn Wuppertal stürmt. Geh zum Friseur, Schwuchtel! rufe ich dem gegnerischen Auswechselspieler mit den langen gesträhnten Haaren zu, der sich hinterm Tor warm macht. Mama kommt mit Fritten, Bratwurst und Bier für Papa. Papa hat sich hingesetzt, der kann nicht lange stehen. Mama schaufelt Fritten rein. Die Sonne scheint. Die Preussen rufen wieder was. Müüünster! rufe ich. Sie klatschen ganz schnell. Da komm ich nicht mit. Die Preussen verlieren. Papa meckert den ganzen Weg nach Hause. Mama sagt, sie bestellt Döner. Das geht schnell. Wir sitzen im Wohnzimmer, der Fernseher läuft, wir essen. Papa trinkt Schnaps. Morgen ist Montag.
Mi 16.11.22 16:10 überwiegend sonnig, nachts wieder Regen
noch halten sie sich
wollen nicht zur erde
und wie es aussieht
heute auch nicht
Do 17.11.22 14:40 bewölkt, regnerisch
wenn es mir dreckig geht
geb' ich mir baldrian
und schicke mich zu bett
wenn birkenblätter zittern
debütantinnen im wind
halt ich mich raus
mein gegenteil
mein mann mein ich
verlieren gern den kopf
bis sturm kommt
und es wieder dunkel wird
wir sammeln
niederlagen siege
wut verzweiflung frauen
wir kleben ihre akte
in ein album
das hält sie jung
während mein
mann demnächst
in ein museum scheißt
ich gab euch alles ruft
und ihr mir nichts
mein mann wird alt
ich nicht
ich bin 4ever jung
Fr 18.11.22 14:21 bewölkt regnerisch
Brief 57
Liebe Annette,
die weltpolitische Diskussion wird beherrscht von Krieg und der Klimakatastrophe, während die Einschränkungen des öffentlichen Lebens, hervorgerufen durch die Seuche kaum noch zu spüren sind. Die Seuche scheint abzuklingen, dennoch wir haben uns noch nicht wieder an die Freiheit gewöhnt. Arbeitsplätze sind gefährdet. Menschen verarmen. Der Raubbau an der Natur, den du beschrieben hast, schreitet in einem Maße voran, der jedem klar macht, dass es so nicht weitergehen kann. Politiker treffen sich auf Konferenzen, aber es geschieht nie genug. Immer gibt es Ausreden. Deshalb bewerfen junge Menschen, die sich "Die letzte Generation" nennen, Kunstwerke in Museen mit Suppe und Brei oder kleben sich auf Straßen fest. Es heißt, Öl, Gas und Kohle werden knapp. Wir müssen sparen, heißt es, also heize ich nur, wenn nötig. Sonst ziehe ich Wollsachen an und setze mir eine Mütze auf. Schlafrock, Kerze, Weihnachtsgebäck, Biedermeier.
Fallende, aber kaum wirbelnde Blätter, keine herabgerissenen Äste, der Regen eher feuchte Luft als klatschend. Kaffee steht auf dem Tisch. Ich habe Klavier gespielt. All das Improvisieren hilft, mein Spiel wird täglich besser. In zwei Stunden ist es dunkel. Ich lese, dass alles noch schlimmer ist, als ich dachte, aber in meiner 92m2 Wohnung ist es ruhig. So ruhig, dass auch ich auch meine Kunstwerke mit Suppe bewerfe und mich an meinem Arbeitssessel festklebe.
Ich klebe hier, bis Polizisten mich forttragen und Richter mich befragen. Ich werde sagen: ja, Herr Richter, es mag sein, dass man Kunst nicht mit Suppe bewirft oder sich irgendwo festklebt, aber es muss getan werden. Wir brauchen Menschen, die sich nicht fürchten, ausgelacht und verspottet zu werden.
Ringsum Krise, drinnen Sitzen mit Licht, Wein, Buch und Frau. Mein Wohnzimmer. Die Bücherregale. Plattenspieler. Verstärker. - Ja, ich weiß. Plattenspieler: nach dir erfunden. Runde schwarze Scheiben aus Vinyl.... Ach was, ich sollte das nicht erklären. Stell dir einfach vor, dass wir jederzeit und überall Musik hören können. Sofa, Sessel, kleiner Couchtisch, roter Esstisch, ein Sideboard, in dem Fotoalben und meine Kunstbücher stehen, in die ich nur selten einen Blick werfe. Kunst muss hängen oder stehen, wie bei mir an der Wand gleich hinter dem roten Tisch, dessen Tischplatte ich selbst gemacht habe. Die vier Stühle habe ich vor dreißig Jahren gekauft, als ich noch mit Hörspielen Geld verdiente. Sie haben eine zentrale Achse und sind symmetrisch, aber das Gegenteil von Barock.
Auf meiner Höhe der Straße dominieren spitzgiebelige Einfamilienhäuser mit großen Hintergärten, nach Süden Eigenheime mit flachen Dächern auf der einen und vierstöckigen Wohnblocks auf der anderen Seite. Die Autos fahren zunehmend elektrisch. Von jedem Ort der Welt kann ich jederzeit mit jedem Menschen kommunizieren. Die kleinen Geräte verraten jedem, der über entsprechendes technisches Gerät verfügt, wo ich mich gerade aufhalte. Ich bin überall sichtbar. Das ist die Realität des High-Tech Biedermeier.
Hier arbeite ich. Die Arbeit macht einsam, aber dafür, dass ich ein Dichter bin, den kaum jemand kennt, geht es mir gut. Ich könnte mich in ein Flugzeug setzten und um die Welt fliegen, aber ich will nicht. Wie Heinrich Johann I. bin ich als junger Mann weit gereist, ich muss nicht mehr in die Ferne. Ich bevorzuge die Nähe. Das Land ringsum kenne ich wie meine Westentasche. Ich hocke in Sofaecken wie Spitzweg. Das Biedermeier dekorierte die Unruhen auf dem Weg zur Gründung des ersten Deutschen Reiches. Ich bin gespannt, wohin unseres führt.
Mein Wohnzimmer hat einen Balkon zur Straße. Ich wohne im der Mitte eines dreiteiligen Wohnblocks, einstöckige Backsteinhäuser mit jeweils vier Wohnungen. Davor ist ein Bürgersteig. Wenn man die Straße überquert, muss man achtgeben. Die Autos fahren schneller, als du je gefahren bist. Gegen halb drei habe ich begonnen, dir zu schreiben. Jetzt geht es auf Mitternacht und ich freue mich auf mein Bett. Es steht unterm offenen Fenster. Von dort kann ich Jupiter sehen. Ich mag nicht mehr zählen, wieviel Menschen heute wieder von Raketen (Geschosse, Annette, Kanonenkugeln, die über viele viele Kilometer einen Esel wegschießen können) getötet wurden. Ich zieh mir die Decke über den Kopf. Ich will nichts mehr hören. Ich kenne Gott. Er hat seine Prinzipien. Ich habe meine. Wir sind Freunde.
Gute Nacht, Annette.
Hermann
PS. Die Burg war leer und kalt heute.
Mo 21.11.22 23:13 ruhiger grauer Tag
grau von kopf bis fuß
ohne auf- ohne untergang -
nur mit schnee auf den dächern
hat er von neun bis zehn
ein bisschen geprahlt
dann umarmte er
die geliebte melancholie
eine dicke frau im morgenmantel
die heizung ist an
der glühwein ist heiß
das gefällt
das zieht er durch
bis wieder märz ist
und wir ihn vertreiben.
Mi 23.11.22 17:00 sonnig, windig
Gestern Mispeln püriert, durchs Sieb gerieben, mit Zitronen- und Pampelmusensaft angereichert, gezuckert, bisschen gesalzen, mit Madras-Curry und Preißelbeeren angereichert kurz aufgekocht und in Gläser gefüllt. Heute bis zehn im Bett, bis zwölf gefrühstückt, Radtour durch Mecklenbeck ins Zentrum, auf dem Mark Kibbeling gegessen, heimgefahren, ein bisschen Klavier gespielt, heute abend Salsa im Hot Jazz.
Do 24.11.22 grau, feuchtkalt
Liebe Annette,
du hast drei Tage, die Träume der Nacht nicht mitgerechnet, an der Arbeit gesessen, in Droste Digtal hab ich's mir angeschaut, hier hast du gestrichen und da und dort und dann war es doch die erste Version, die du zum Ende favorisiertest. Drei Tage, aber noch fehlte dir die Idee, das Ganze rund zu machen. Trauer soll aber nicht Trauer genannt werden wie die Freude nicht Freude, du wolltest, das man es fühlt. Aber woher dieses Gefühl nehmen, man hat doch zu tun. Die Mutter ist da und die Kuh ist krank, und dann dieser plötzliche Krach auf dem Hof. Hufschlag und Hoooooh Rufe, Schritte von Holzschuhen auf dem Pflaster, und die Begrüßung von Hermann. Schritte hallen durch's Treppenhaus. Du weißt, was das bedeutet. Jemand auf der Burg ist krank, und du musst helfen. Das Gedicht bleibt ein halbfertiges Gedicht, und kaum hast du deine Siebensachen gepackt und bist in die Kutsche gestiegen, wird es dir schleierhaft, als wäre es eine längst vergangene Sache, im Schatten eines Sommerwaldes kaum erkennbar, und du weißt kaum noch, worum es geht. Du hast Werners krankes Kind zu Bett gebracht, hast ihm die Stirn gekühlt und zu trinken gegeben, nun schläft es endlich. Du liegst auf dem Chaiselongue, du bist halb wach, gleichst wirst du schlafen, als das Kind hustet. Im gleichen Augenblick ist das Gedicht zurück. Du könntest es aufsagen, bis zum Schluß könntest du es aufsagen, aber das Kind hustet, du bist eine gute Tante, du weißt, dass du den Federkiel (falls einer in der Nähe wäre) nie so schnell übers Papier gleiten lassen könntest und begnügst dich damit, es aufzusagen und darauf zu hoffen, dass es auf irgendeine Art wieder zum Vorschein kommt. Eh das Kind wieder gesund ist, sind 10 Tage vergangen und du hast nicht eine Zeile geschrieben. Du gehst nach Hause. An der Furt bei Wittoever schreibst du in fünf Minuten einen Vierzeiler. Das andere Gedicht aber bringst du nicht fertig. Das treibt dich um, das begreifst du nicht, die Menschen in deiner Nähe noch weniger. »Wenn Annette die ohnehin den Kopf immer voll hat, mehr angegriffen wird, so schnappt sie über.« hat deine Mutter schon gesagt, als du klein warst. Das macht es nicht leichter, eine Dichterin zu sein. Mir geht es ähnlich.Kollegiale Grüße Hermann
Di 29.11.22 22:29 grau, feucht
Küchenwand fleckenfrei gemacht. Gedicht geschrieben und verworfen. Radtour durch den Brock. Abendessen. Fußball im Fernsehn, USA gegen Iran.Mi 30.11.22 12:04 grau
Wie viele Menschen pro Jahr vom Baum fallen, sich verletzen oder sogar sterben, habe ich nicht recherchieren können. Stattdessen erfuhr ich, dass pro Jahr 439 Menschen gegen Bäume fahren und den Aufprall nicht überleben. Ich habe seit fünf Jahren kein Auto mehr, hin und wieder miete ich eines, aber gegen einen Baum bin ich noch nie gefahren. Ich hatte auch nie einen Unfall. Einmal bin ich aus dem ersten Stockwerk eines Neubaus auf einen Sandhaufen im Keller gesprungen. Ich wusste nicht, dass darauf ein Brett mit einem herausstehendem Nagel lag. Der Nagel bohrte sich in meinen linken Fuß. Ansonsten keine Verletzungen. Nicht einmal, als ich beim Überqueren einer Passhöhe in den Anden fünf, sechs Meter abstürzte. Nichts. Allerdings kenne ich eine Frau, die beim Pflaumenpflücken vom Baum fiel und sich schwer verletzte. An einem Weg in der Alvingheide steht neben den Quitten, die wir geerntet und zu Gelee verarbeiten hatten, ein Baum, den ich nicht kannte. Flora Incognita, eine App, die mir bis dahin keine verwertbaren Erkenntnisse geliefert hatte, wusste diesmal sofort, was da wuchs. Eine Mispel. Ihre Früchte sind graubraun, apfelförmig und werden bis zu 3 cm groß. An ihrer Spitze befinden sich deutlich erkennbare Kelchblätter. Der Pflücker, den ich mir vom Nachbar geliehen hatte, funktionierte nicht recht, also beschloss ich, auf den Baum zu kletten. Er verzweigte sich schon auf Mannshöhe in mehrere, armdicke Äste. Ich ergriff den untersten und schwang mich hoch. Es war nicht ganz einfach, aber mein Bewegungsapparat hatte über all die Jahre nicht verlernt, wie man so etwas macht. Ich pflückte mit einer Hand, mit der anderen sicherte ich mich. Unter mir war ein Graben. Vor über sechzig Jahren bin ich ich zum letzten Mal auf einen Baum gestiegen. Es war eine Kiefer am Flörbach. Sie war so gewachsen, dass ich leicht bis in die Spitze steigen konnte. Zehn, fünfzehn Meter unter mir floß der Bach. Ich schwang hin und her. Ich fühlte mich wie ein Eroberer. Die Mispel vermittelte mir ein ähnliches Gefühl. Ha! dachte ich, ich bin 73, immerhin. Meine Liebste stand unten und fürchtete sich. Der Korb wurde voll. Eh man die Früchte verarbeiten kann, brauchen sie Frost. Der Korb stand zwei Wochen auf dem Balkon, eh es fror. Die Früchte wurden weich, fast matschig. Ich verarbeitete sie zu Marmelade. Anfangs schmeckte sie mir, aber ihr Geruch gefiel mir nicht. Ich kann nicht sagen, warum. Gestern habe ich sie weggeworfen.
20:45
Es regnet. Die Landstraße reflektiert das letzte Licht des Dorfes, dann wird sie schwarz. Über den düsteren Baumhorizonten liegt das Leuchten dahinter verborgener Dörfer. Autos laden den Dunst und die Feuchtigkeit mit Licht auf, seine Finger tasten über die Felder und hängen mir lange, vorauseilende oder nachhängende Schatten an. Ich bin warm und regendicht angezogen. Ich kenne den Weg, kaum sechs Kilometer in Richtung Baumberge. Es ist schön, durch die Dunkelheit zu fahren.