Oktober 2010 www.hermann-mensing.de
mensing literaturBücher von Hermann Mensing bei: Amazon.de
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1.10.10 10:16
Seit Tagen lese ich überall, wie gut dieser Film sein soll. Ein thailändischer Film, Uncle Boonmee erinnert sich an seine früheren Leben, also habe ich ihn mir angeschaut. Betrat den Kinosaal als erster und dachte ein Weile, ich bliebe allein, dann aber folgten ein junges Paar, er offenbar thailändischer Herkunft, sie blond, drei junge Männer, schließlich noch ein Paar mittleren Alters.
Das Licht fadet, das übliche Vorprogramm, die Eisfrau, der ich ein Magnum abkaufe, und dann schaue ich auf einen Büffel, der sich von einem Baum, an den er angebunden ist, freimacht und mit - vermenschlicht könnte man sagen - klagend fragenden Rufen davonmacht durch die Felder in einen Wald. Er wird schließlich zurückgeholt und ich wundere mich ein wenig, dass sich ein so großes starkes Tier von einem kleinen Menschen mit einem Strick abführen lässt.
Es geschieht nicht viel. Uncle Boonmee spricht mit seiner Schwägerin, er spricht mit einem Laoten, den er als Krankenpfleger angestellt hat, ich staune über die sanfte Tonlage dieser Sprache, die Schwägerin hat Angst vor illegalen Einwanderern aus Laos, also ist alles wie überall, denke ich, Uncle Boonmee findet, Laoten seien fleißiger als Thais, nichts geschieht, bis eines Abend alle beisammen sitzen und Geister erscheinen. Niemand wundert sich und das ist eigentlich schon alles.
Gut, denke ich, die leben auf dem Land da irgendwo im Nordosten, da ist viel Wald, die glauben an solche Dinge, was geht es mich an. Uncle Boonmee wird bald sterben, so viel ist jedenfalls klar. Plötzlich gibt es eine Szene mit einer Prinzessin, die von einem Wels gefickt wird, "sich mit einem Wels paart" heißt das in den Feuilletons, aber da habe ich den Zusammenhang nicht begriffen, ich kann mich nicht einmal erinnern, wieso sie plötzlich durch den Urwald getragen wurde in ihrer Sänfte, um an diesem Wasserfall in allgemeines Wehklagen auszubrechen, bis schließlich der Wels auftaucht. Wieder brutaler Schnitt. Uncle Boonmee stirbt, und wieso der Film eine Goldene Palme in Cannes bekommen hat, verstehe ich nicht. Ich bin zu dumm für Kunst. Im Feuilleton sagen sie, es wäre ein Traum.
19:01
Auf besonderen Wunsch
Die Prinzessin
Autor, Sprecher, Produzent: Hermann Mensing
Musik: Marc Brenken, (Piano), Sven Otte (Kontrabass) und Bernd Gremm (Schlagzeug)
20:08
Seltsam, dass sich Bürgerwille gepaart mit Schaulust bei der Rodung von Bäumen eines Parks in Stuttgart so heftig aufschaukelt, während die Bürger der Republik in stiller Apathie verharrten, als Finanzkrise war. Das wäre mal ein Ziel für ein breites Bündnis gewesen, da hätte ich gern Steine geschmissen. Das S21 Projekt hingegen kann man mögen oder nicht, mir ist dieser Protest zu spießig. Sobald Bäume fallen, hocken sie in den Kronen und übernachten da. Zupfen Lieder auf Gitarren. Fehlte nur, sie singen "Wir sind das Volk."
Ich habe eine Studie zu S21 gelesen, sie klang im Hinblick auf Stadtentwicklung vernünftig. Ob sie es tatsächlich ist, weiß ich natürlich nicht. Aber sind in Baden Württemberg die Parteien denn nicht auch im Hinblick auf dieses Projekt gewählt, bzw. nicht gewählt worden? Wieso macht ein sattes Bürgertum erst jetzt Alarm? War nicht Zeit genug, vorher? Und wieso dieses ängstliche Klammern an der Gegenwart. Wieso verursacht ein Plan für die Zukunft derartige Abwehr? Und kaum haben die einen Steine und die anderen Wasser geworfen und Pfeffer gesprayt, halten Politiker aller Richtungen ihre Nasen in Fernsehkameras und sprechen von Abscheu etc. pp. Geht mir am Arsch vorbei, dieser Zirkus. Alles Ablenkungsmanöver von den tatsächlichen Sauereien, fürchte ich.
So 3.10.10 11:07
Ich flog. Ich hatte den Flug mit den Zähnen unterm Bett hervor ziehen müssen, er hatte geknurrt, er hatte sich festgebissen, ich weiß nicht mehr genau, jedenfalls hatte ich ihn hervor zerren müssen, was nicht einfach war, schließlich bin ich ein Mann mit dritten Zähnen, aber dann hatte ich ihn und er erinnerte sich sofort an mich, es war, als wäre er all die Jahre nur da gelegen, damit ich ihn endlich wieder hervorzerre und mit ihm losflöge. Ich flog über Holland, soviel wird jetzt immer klarer. Nicht, dass ich hätte sagen können, da ist die Stadt und da ist jene, aber es war klar, dass da Holland ist. Ich überflog es sehr schnell. So schnell, dass ich dann und wann Mühe hatte, mit scharfem Natodraht bewehrte Hindernisse zu überfliegen. Da half immer nur Kopfhochreißen, um in letzter Sekunde Höhe zu gewinnen und dann war da dieser Park, dieser See, ein Baum auf einer Insel in der Mitte, ein uraltes Hotel aus Holz mit rundum laufender Veranda, dahinter ein Flussufer, Badende und Schlittschuhläufer und promenierende Menschen. Dort landete ich. Und dann fragte ich einen Mann, ob das Boekelo sei und er sagte nein.
21:00
ich koche frikassee ole
ich koche kilo huhn
ich hocke auf'm canape
und warte bis ich duhn
die weite seh'
die hinterm auge links beginnt
sich lässig übers großhirn spinnt
die mich im großen ganz sein lässt
und mir vom ganzen einen rest
vergibt und ihn mit pep auftankt
an dem sich meine reimwut rankt
und wenn ich dann mal hier und dort
die gene strecke und mich fort
von allem was der dichter will
in eine ecke drücke still
und meine decke mich umschmiegt
weiß ich dass jemand drunter liegt
vergebe mir was immer auch
mich drückt und wühlt im unterbauch
die faulheit feigheit die manie
das lästige geknick im knie
vergebe allen alles und
schieb mir ein praliné in' mund
s'ist samstag sage ich mir dann
und steck der welt dass sie mich kann
Mo 4.10.10 15:50
Jetzt, wo mir eine Bronchitis im Pelz hängt, ist die neue Heizung endlich installiert. Das hat drei Wochen gedauert, eine hatten wir nicht einmal heißes Wasser. Bei der Abendkälte der letzten Wochen hat selbst die Kuscheldecke nicht geholfen.
21:00
30, 40 Stare flogen in breiter Front übereinander gestaffelt vom Südwesten heran, und ich dachte, wenn ich's fotografiere, kann ich es auf ein Notenblatt übertragen und spielen, aber weder hab ich's fotografiert noch kann ich Noten schreiben. Sicher flogen sie eine schöne Melodie, eine, die mir die Furcht nehmen könnte und die Einsamkeit austriebe, eine, die den Trubel des neuen Lebens linderte, dabei ist alles in Ordnung, ich bin krank, ja, es schleppt sich, heute kam Geld ins Haus für ein Hörspiel, ein Dreimonatslohn, als wollte die Welt mich mit Geld trösten, aber Geld ist nicht das, was ich brauche.
Do 7.10.10 14:17
der mann gähnt
dabei fliegt etwas aus seinem mund
kreist um die lampe
kichert
setzt sich auf den rand der kaffeetasse
und beschimpft ihn
der mann ist empört
der mann sagt
sagen sie
kennt man da
wo sie herkommen
keinen anstand
doch sagt das ding
man kennt dort alles mögliche
aber ich dachte
es wäre interessant
einmal das gegenteil auszuprobieren
soso sagt der mann
ich fürchte
da sind sie bei mir an der richtigen adresse
zögert nicht
greift das ding
will es mit dem tauchsieder töten
aber das ding ist stärker
es tötet den tauchsieder
und in folge den mann
die dicke katze
es macht
dass die letzten blätter vom baum fallen
es kann sturm und gewitter
es verursacht ein verkehrschaos
es macht
dass die bauarbeiter
reihenweise von den gerüsten fallen
und die kirchenglocken aus ihren verankerungen reißen
und da natürlich jetzt viele mit offenen mündern dastehen
fällt es dem ding ganz leicht
spurlos zu verschwinden
Fr 8.10.10 9:19
die sonne
fließt übers garagendach
und was nicht ist
kann werden
es ist nicht leicht
hier im danach
davor war böses sterben
ich leb für die, für den, für dich
ich frage mich zuviel
ich trage und ertrage mich
und sehe dich am ziel
15:31
schnitt durch silbernen nebel
legte mond auf eis
hockte mich in den schnee
bodenfrost kroch mich an
schlaf mich ein
dachte ich
da begann ein vogel zu singen
ich bin eine nachtigall sagte er
und kraft meines amtes
muss ich dir sagen
dass du
ganz gleich
was geschehen ist
leben wirst
wirst schon sehen
wie fragte ich
wie auch immer sagte er
immer und alles
von anfang bis ende
aha sagte ich
rieb mir frost aus den händen
und schickte eine sms
daumen tanzten über die tasten
immer und alles
und alles und immer
so lange es geht
wie dumm es auch sein mag
siehst du sagte die nachtigall
ja ja sagte ich
ich hatte vergessen
gut sagte die nachtigall
gab mir eine karte und flog davon
ich hielt die karte ins mondlicht
ihr name stand drauf
und ich wusste jetzt wieder
dass alles kommt wie es kommt
Sa 9.10.10 17:46
Hotel Petunia, Cala Carbo, Ibiza
Dies ist meine Terrasse. Der schroffe Berg ist in Wirklichkeit viel viel höher ist, heißt Es Vedra, und lässt sich nicht fotografieren. Man sagt, er sei magisch. Ich weiß das vom Hörensagen. Als ich eincheckte und man mir mein Zimmer zeigte, wurde ich und gefragt, ob ich lieber weißen oder roten Wein tränke. Ich habe Weißwein gesagt. Jetzt steht die Flasche vor mir. Ich werde sie leer trinken.
Es ist sehr ruhig hier. Ob ich das aushalte, werde ich sehen. Und es ist sehr heiß. Ich habe zwar Air-Condition, aber verschwitzt wie ich war, als ich ankam, habe ich sie abgestellt. Ich habe meine Kleidung in einen Schrank sortiert. Mein Zimmer ist creme gestrichen, Türen, Schrank, Sofa und Bettbezüge sind orange-ocker. Ich habe Cappuccino getrunken, großartigen Cappuccino mit einer Crema, die sogar meine aufgeschäumte Milch in den Schatten stellt.
Wind kommt vom schroffen Berg, und er kommt gerade recht.
Wobei ich beim Anfang bin. Schließlich muss ich ja irgendwo anfangen, also von vorn.
Heute früh. Oder noch früher. Beim Konzept Ryan Air.
Ein ausgefuchstes Konzept, zugegeben, aber zum Teufel, bei all den Klicks hatte ich nicht darauf geachtet, dass ich angeben muss, wieviele Koffer ich habe. Jeder Reisende hat mindestens einen, aber bei Ryan Air muss man das sagen, sonst zahlt man extra.
Die Halle vom Airport Weeze in voller Reisender. Erst ein Schalter ist geöffnet, davor eine lange Schlange. Ich stelle mich noch nicht an. Ich trinke einen grottigen Cappuccino aus einem kackbraunen Plastikbecher, esse einen eisgekühlten Muffin, höre Musik über Kopfhörer, sehe all die Menschen und keiner, mit dem ich was zu tun haben will.
Als ich erfahre, dass Ryan Air für mein Versäumnis 36 Euro extra haben will, bin ich erbost. Die junge Frau am Schalter sagt, sie sei nicht Ryan Air. Gut, das verstehe ich. Bargeld und EC-Karte akzeptiert sie nicht, und verweist mich auf gelbe Automaten, die meine Master Card mit 36 Euro belasten, aber die Automaten erkennen meine Registrierung nicht.
Noch eine Stunde bis zum Abflug. Zurück zum Schalter. Die junge Frau sagt, dann müsse ich zum Schalter Soundso. Okay. Ich stelle mich an. Vor mir zwei Italiener, die ihren Namen falsch eingegeben haben. Buchstabenverdreher, aber Ryan Air will 150 Euro für die Korrektur.
Ich spreche mit einer Mittvierzigerin, blond, silberne Ringe auf den Fingern. Sie will sich vordrängen. Bei dem Eincheckstress, der in allen Gesichtern steht, interveniere ich. Sie müssen sich anstellen, sage ich. Sie sagt, sie sei doch vorher schon da gewesen, man habe ihr gesagt, sie müsse noch dies tun und jenes und solle wiederkommen. Na dann, sage ich, und lasse sie vor.
Als ich in den Flieger steige, sitzt sie in der ersten Reihe, wo man die Beine strecken kann, begrüßt mich erfreut und sagt, sie habe einen Platz freigehalten. Als Alleinreisender sei das doch gerade recht, oder? Ich bedanke mich. Ihr Mann sitzt neben ihr. Er trägt eine schwarze Jeans und eine graue Lederjacke. Auf der Brust und auf dem rechten Arm sind aufgestickte, rotblaue Embleme. PDE Racing steht darauf.
Der Flieger hebt ab. Eine blonde junge Frau mit kleinem Mund, Doppelkinn und Pickeln ums Kinn hat alle Hände voll zu tun. Sie ist Polin. Sie wird, nachdem wir auf Ibiza gelandet sind, zurück nach Weeze fliegen und von dort weiter nach Danzig. Sie muss jetzt dieses und jenes verkaufen. Der Mann neben mir kauft für zehn Euro Rubbellose und bestellt Sandwiches. Die wären echt lecker, sagt er, als sie kommen. Er redet sich die Welt schön, das tun alle, die Urlaub machen.
Unterwegs schaut er aus dem Fenster und spekuliert, was er sieht.
Den Genfer See, meint er. Ich schaue hinunter und sage, wenn er es wäre, müsste am Ende die Stadt Genf sein, und da ist keine Stadt.
Wir fliegen an Mallorca vorbei, umrunden Formentera und sind im Landeanflug.
Links von uns ist Es Vedra, der Fels vor meiner Terrasse. Wir landen. Der Flughafen macht einen verschlafenen Eindruck. Die Saison ist vorbei, hier ist eine Baustelle und dort. Die Tür des Flugzeugs öffnet sich. Warme Luft, die nach Gewitter riecht. Ich stelle mich ans Transportband, mein Koffer kommt früh, ich muss zweimal fragen, eh ich das Parkdeck finde, wo ein Mitarbeiter der Firma auf mich wartet, bei der ich das Auto gebucht habe.
Wir steigen in einen Firmenbus und fahren einen Kilometer stadteinwärts. In einem Industriegebiet, staubige Brache mit Hallen und steinigen Plätze, ist ein Büro, eine Garage und ein großer Platz voller Autos. Ich fülle Formulare aus und bekomme die Schlüssel für einen Kia. Reihe Zwei, sagt die junge Frau, aber ich finde ihn nicht. Ich frage jemand aus der Garage, und der sagt, Reihe Zwei, da hinten, der Kia, naranja. Ich steige ein und fahre los.
Ich weiß noch nicht, ob ich gut finde, was ich sehe. Erst, als ich Sant Josep hinter mir habe, steigt ein Gefühl auf. Die Straße windet sich, zum Glück gibt es Leitplanken. Hier muss ich links, Kreisverkehr, links rechts rauf und runter und dann übersehe ich Hinweisschilder und lande in der kleinen Bucht von Calla Carbo. Ein Strand. Kaum Menschen. Ich frage im Restaurant, wo das Hotel Petunia ist. Man sagt, dreihundert Meter bergauf.
Also.
Ich habe eine dreiviertel Flasche Wein getrunken.
Gleich versuche ich, online zu gehen. Dann gehe ich essen.
Und heute Abend wandere ich zum Meer hinunter.
Hier ist Es Vedra, ich hatte das Hotel noch nicht gefunden.
22:04
Da ist die Palme. Mir gegenüber sitzt eine Ehefrau aus München. Ihr Mann schaut fern. Sie sagt, sie kämen schon seit zwanzig Jahren hierher. Sie sagt, es gäbe hier viele schöne Plätze. Aber in San Antonio, sagt sie, sind nur Engländer. Schrecklich. Sie sagt, ach, Sie kommen aus Münster. Ist es schön da? Ja, sage ich. Sie wohnt in Köln, kommt aber aus München. Mir schräg gegenüber sitzt eine junges Paar aus Hamburg. Meine Nachbarn. Sie haben zwei Kinder. Eines heißt Mila. Ein Mädchen, drei oder vier. Die kam vorhin auf meine Terrasse und sagte, ich fahre morgen nach Hamburg. Ach, sagte ich, da war ich vor kurzem. Ja, sagt sie. Warst du da. Ja. In Hamburg? Ja.
Ich habe gegessen. Ich habe getrunken. Es ist stockduster. Ein Wind geht. Ich könnte mich fürchten, aber ich fürchte mich nicht. Die Chefin des Restaurants kommt aus Österreich. Groß, blond, Mitte dreißig, Strickbody mit breitem, dunklen Ledergürtel. Das Essen war gut. Dazu sangen Zikaden. Hin und wieder bellte ein Hund.
22:45
Auf meiner Terrasse.
Gewitter liegt in der Luft. Kein Donner.
Nur hin und wieder Wetterleuchten.
So 10.10.10 5:30
Weiß nicht, was mich umtreibt. Linksdrehender Wein wahrscheinlich, denn dahin dreht es sich, wenn ich die Augen schließe. Die Horizontale gerät in diesen Wirbel, aber es ist nicht schlimm, mir ist nicht schlecht, ich bin vor lauter Stille erwacht.
Die Zikaden singen, Wind fegt vom Meer durch die Pinien, es hat geregnet, ist aber so warm, dass ich in Unterhose auf der Terrasse stehe und in den Nachthimmel starre. Er ist mir fremd. Alles hier ist mir fremd, aber ich werde es kennenlernen.
8:51
Die Erde ist rostbraun. Da ist nicht viel zu holen. Ohne uns wäre der Insulaner wahrscheinlich arm dran, aber wir sind ja da, sind der Sonne wegen gekommen und zahlen. Mein Horizont ist noch immer bewegt. Um Es Vedra türmen sich düstere Wolken, davor ist es strahlend blau, im Osten grau. Der Wind pfeift noch immer, aber es ist nicht recht festzustellen, ob die Wolken von Osten nach Westen aufziehen oder umgekehrt.
Ich bin vorhin zur Cala Carbo gelaufen. Der Weg führte über Brachland, ausgewaschener Stein und rostbraune Erde an ein paar Villen vorbei, hier und da Schilder: Privado. Als ich am Ende einer Gasse nicht weiter wusste, kam ein Mann. Ich grüßte und radebrechte, dass ich zum Strand wolle. Er sagte acqui und verschwand zwischen Büschen. Ich ging ihm nach. Eine gewundene Treppe führte hinab.
Es ist viel zu früh, aber so ist das mit alten Männern. Sie regen sich über dieses und jenes auf, kriegen zur Ankunft eine Flasche Wein in einem Behälter voll Eis geschenkt, trinken ihn wie Wasser und haben nächstens das Karussell.
11:07
Eigentlich bin ich nicht fort. Es ist nur so, dass der Wind in Pinien anders klingt als in Buchen, und ich für die meisten Pflanzen keine Namen habe, aber da ich on-line bin und mein Mobiltelefon Nachrichten empfängt, ist das zweitrangig. Eigentlich bin ich da, wo ich immer bin, es ist nur so, dass ich heute sehr müde bin.
Der Putzmann aus Manila hat mir eine Matratze für die Liege gebracht.
Unten, von meiner Terrasse nicht sichtbar, gruppieren sich junge Familien um den Pool. Die Männer sind Mitte dreißig, die Frauen kriegen Bäuche und Cellulite, die Töchter haben Zahnspangen, die Söhne, meist Zweitgeborene, kriegen sie noch.
Die sollen mal machen. Wenn ich nicht hier bin, bin ich auf'm Sonnendeck und habe die Vedra im Blick. Imposant, dieser Fels, schwer zu schätzen wie hoch, ich peile mal 400 Meter über den Daumen, aber es ist nur so, dass das jeder sagen kann, er habe die Vedra im Blick, beweisen kann ich das nicht.
Sie müssen mir glauben. Sie müssen mir glauben, dass ich gestern über die Finten der Firma Ryan Air erbost endlich in diesem Flieger saß, mein Adrenalinspiegel senkte sich langsam, und wir überfolgen die Welt von Nord nach Süd. Kein Gekurve, keine Ampeln, einmal hinauf, einmal hinunter, zwischendurch rüttelt es mal, ansonsten Routine.
Mein Mietauto ist ein orangefarbener KIA Picanto, der am Berg in die Knie geht.
Eigentlich also bin ich nicht fort.
Aber ich habe heute früh Es Vedra fotografiert.
Also könnte man tatsächlich glauben, ich wäre hier, oder?
Stimmt, aber angekommen bin ich noch nicht.
Das dauert noch ein, zwei Tage.
13:43
So einen Lotussitz bringe ich jederzeit in die Extremitäten, und als ich sah, dass am Strand hinter mir eine blonde junge Frau den Leib reckte, die Arme gen Himmel hoben, und mit Händen in Betposition den Geist des großen Felsen beschwor, dachte ich, Fuck, jetzt guck abba ma hier. Schließlich bin ich den weiten Weg nicht hergekommen, um nicht auch Eindruck zu schinden.
Ich meine, an mir ist nicht mehr viel dran, das Gewebe wird mürbe, aber der Geist ist hellwach, und so saß ich da, vor mir die kleine Bucht, in die schwere See hineinstürmte, den Lotus unter mir, die Chakren vom Arschloch aufwärts in entspanntem Alarm, und habe auch noch mit Kieseln jongliert. Ins Wasser habe ich mich nicht getraut, ich warte, bis sich das Meer beruhigt. Weiß ja nicht, wie es tickt, dieses Meer.
Den Weg in die Bucht kenne ich nun.
Ich weiß auch schon eine Abkürzung, die mir das letzte Stück Straße erspart.
Und mir ist wieder eingefallen, dass diese spitzen Gewächse Agarven heißen.
Ich kenne sie aus Sizilien, ich kenne sie aus Kreta, überall stehen sie nutzlos herum und klammern sich an den kargen Boden.
Smaragdgrüne Eidechsen flitzten vor mir über die Stiege, überm Wasser schnitt eine Möwe einen eleganten Bogen, einen silbernen, handlangen Fisch im Schnabel.
Mir fehlt eine kurze Hose und eine Kopfbedeckung, sonst fehlt mir nichts.
15:38
Die spanischen Fliegen sind langsam.
Habe schon drei oder vier erschlagen. Ob das gut für mein Karma ist?
16:13
Ich überarbeite meinen Roman.
Mein Lachen auf den Fotos ist Fake. Ich weiß, wie das geht.
Ich soll nicht immer so grimmig gucken, hat Feile moniert und die muss es wissen.
Und da ich keinen habe, den ich anlachen könnte, mache ich Cheese.
Hätten Sie nicht bemerkt, oder?
Sehen Sie, die Welt ist Beschiss.
20:18
Er wird wieder Gewitter geben. Mir könnte unheimlich werden beim Gesang des Windes, mir würde unheimlich, wüsste ich nicht Menschen ringsum. Ich kann sie nicht sehen, ich höre sie nicht, ich nehme an, die meisten sind unterwegs, auf der Flucht vor dieser plötzlich einfallenden Dunkelheit kurz vor Afrika, sie werden irgendwo essen, sich unter Menschen begeben, und ich denke, das tu ich auch gleich.
Vorhin habe einen Spaziergang gemacht.
Ich erobere mir das Terrain.
Hinter diesem Schild geht es links übers Brachland.
Dann hier entlang.
Linkerhand Villen hinter kopfhohen, weiß getünchten Mauern, rechts Brache und durchhhängende Telefonleitungen. Man kann nie sicher sein kann, ob die zerrissenen, auf den Boden hängenden Kabel den Spaziergänger nun auf der Stelle töten oder nicht.Am Ende steht rechterhand ein rostbraunes Haus.
Die Kubisten hätten es nicht schöner bauen können.
Links zwischen Büschen geht die wilde Treppe hinab und man gelangt in die Bucht.
21:44
Ich bin jetzt auch ein Kretin. Über mir spannt sich der Südliche Himmel, der große Wagen (falls ich ihn richtig erkannt habe) steht ganz woanders, das Gewitter scheint auf und davon, ich setze SMS ab und warte sehnlichst, dass sie beantwortet werden.
Ich schreite durch Pinienforst, hocke auf Klippen und starre auf mein SmartPhone wie der Snake-Charmer auf seine Kobra. Ich muss mich nicht wundern, wenn aus tiefstem Dunkel ein vom Display meines Phones beleuchtetes Gesicht auftaucht und ich einen Augenblick nicht weiß, ist das ein Mensch, oder ein Kretin.
Ein Kretin.
Ich kann aufatmen.
Einer von meiner Sorte.
Ich hatte befürchtet, es wäre ein Mensch.
Mo 11.10.10 10:14
Empfindsame Frauen saßen beim Frühstück. Eine Grauhaarige, die ich gestern auf einer der Liegen im Gelände sah, einen roten Schal um die Schultern gelegt, tief versenkt, straffe Haut, ernster, schmaler Mund. Meist redet sie und die anderen hören zu. Eine sehr gut aussehende, junge schwarze Bayerin und eine eher mittelgroße, mittelalte, keine besonderen Kennzeichen.
Immer fielen Sätze wie
"... aber der Mann ... wenn der Mann ... wenn sein Herz ... Furia heißt der Weg ... ja, man kann das lernen... usw. usf..
Das überzeugt mich, ihr empfindsamen, von uns ernüchterten Frauen. Ich wünsche euch viel Erfolg. Geht schnell zu eurem Meister, umschwärmt ihn, vielleicht werdet ihr erwählt. Wahrscheinlich ist es der rot gekleidete glatzköpfige Asket, der so sehr in der Gegenwart weilt, dass er über seine eigenen Füße stolpert.
Während also unten Seelen geheilt wird, bin ich auf meiner Terrasse.
Hier ist es angenehm unbesiedelt, niemand quakt mir den Cappuccino schal, und dann auch noch dieses Gewitter, herrlich.
12:00
Es regnet. Die schmale Straße ist glatt wie Schmierseife. Ich bin zum Supermercado gelaufen, ein Spar an der großen Straße, die in Wirklichkeit keine große Straße ist, sie führt nur zur Nachbucht. Im Supermercado (nicht größer als zwei, drei Wohnzimmer) arbeiten fünf Frauen mittleren Alters. Alle von kompakter Statur. Sie tragen weiße Hauben.
Ich wollte frisches Obst kaufen, aber das Angebot war spärlich, also habe ich mir einen Twix Riegel, eine Flasche Hierbas, Joghurt, zwei Dosen Fanta und Zigaretten gekauft. Bin zurückgelaufen, den Blick auf die piniengrünen Hänge, auf Es Vedra und das Cap Llentrisca. Ein Glück, dass ich bei mir bin. Es geht mir gut. Ich fühle mich wohl. Ich kenne jetzt schon drei Stiegen, die zur Cala Carbo hinabführen, zwei in den Fels gehauen, eine gemauert. Ein deutscher Polier würde die Hände überm Kopf zusammenschlagen.
Gestern habe ich das erste Kapitel meines Romans redigiert.
Ich haue alles raus, was nicht sein muss und bin sehr zufrieden.
13:59
Ich gehe jetzt wandern.
16:47
Ständig lese ich, dass neue Arten entdeckt werden. Ich entdeckte heute auch eine. Es ist eine seltene Spezies. Dass das Kaninchen von der iberischen Halbinsel stammt, wussten Sie sicher. Dass es aber auf Ibiza Hasen gibt, wussten Sie nicht, wetten.
Schauen Sie selbst.
Wehrhaft und äußerst agressiv.
Man muss sich vor ihnen in acht nehmen.
19:42
Da Sie das mit dem Hasen nun wissen, will ich gern auch den Rest der Geschichte verraten. Ich bin gar nicht auf Ibiza, sondern im Netz, wie alle Kretins, die hier um den Pool sitzen und auf Laptops starren. Ich weiß nicht, worauf sie, Dichter wird es hier so viele nicht geben, also gehe ich davon aus, dass Sie sich in Social Networks herumtreiben und E-Mails absetzen, in denen steht, dass es ihnen so oder so geht.
Ich, das werden Sie bemerkt haben, gebe mich mit Mails nicht zufrieden.
Ich erfinde Spaziergänge. Ich erfinde sogar Fotos dazu, das geht ganz leicht, ich habe entsprechende Programme, und um das alles zu toppen, verrate ich Ihnen noch etwas.
Ich bin ein Programm, das auf Windows läuft. Ich bin ein Avatar. Ich steige steile Stiegen hinab, wandere Hügel hinauf, ringsum das leuchtende Grün der Pinien, die einzige Rettung auf dieser kargen Erde.
Gäbe es diese Pinien nicht, bliebe wohl nur die rostbraune Erde.
Ich stehe an einer Klippe, an die ich mich kaum herantraue, so tief fällt es zum Wasser hinab, ich fotografiere Es Vedra, die diesen Teil der Insel dominiert wie eine Phantasmagorie, wende mich rechts und lande im Fischrestaurant Es Boldado.
Eine maunzende Katze streicht herum. Er ist voll, dennoch finde ich einen Platz und bestelle Muscheln, Salat und Wein. Der Anteil spanischer Gäste ist hoch, was ich als gutes Zeichen deute. Wir sind aber auch da. Vier gleich nebenanm, Anfang bis Mitte Siebzig. Einer sagt: Ein Bier, als der Kellner kommt. Eine bellt: Häff you kaad?
Unter den Tisch zucken und wippen Füße, als wollten sie fort. Ich esse, füttere die Katze, wandere zurück, korrigiere meinen Roman, das Wetter ist ruhig und mild, ich liege ein wenig auf meiner Terrasse und denke plötzlich, ich hab' doch ein Auto und fahre los.
Fahre, um mir die Gegend ein wenig anzuschauen, biege in einen Feldweg, der zum Piratenturm führt und zu einer Klippe noch atemberaubender als die vorher, mir gegenüber - bravo, Sie haben es längst erraten - Es Vedra.
Ich hatte ihn auf 400 Meter geschätzt, tatsächlich ist er 386 Meter hoch.
Nicht schlecht für einen virtuellen Berg auf einer virtuellen Insel.
Gleich werde ich Hierbas trinken. Die Nacht fällt übers Land. Ich bin froh, wieder in meiner kleinen Anlage zu sein. Hier ist es still. Hier gibt es Internet. Hier kann ich tun und lassen, was ich will.
Nur im Meer war ich noch nicht. Es war mir zu wild. Morgen werde ich schwimmen.
Häff you kapiert? Okay. Dann kann ich Ihnen ja noch ein paar Fotos zeigen.
Dort unten werde ich schwimmen.
Die Stiege, von der ich sprach.
Und hier natürlich Es Vedra.Dass mit dem gefakten Lachen klappt vorzüglich. Ein zwei Klicks, schon grinst mein Avatar wie ein Honigkuchenpferd. Aber natürlich ist so ein Avatar furchtbar allein. Daran kann ich nichts ändern. So gut beherrsche ich das Programm nun auch wieder nicht. Das ist wie ein Kloster hier. Vielleicht ist es eines, und ich weiß es nocht nicht.
Die 12.10.10 9:07
Ich schlafe tief hier, sehr tief. Als ich heute zum ersten Mal die Augen aufschlug, dachte ich, wenn ich noch tiefer schliefe, verschwände ich vollends. Eine Mücke surrte herum, aber da ich unter einem Laken schlafe, kann ich mich eingraben, ohne ihr Angriffsflächen zu bieten. Ich weiß nicht, ob es die gleiche Mücke ist, die ich gestern und vorgestern schon hörte, gesehen habe ich sie jedenfalls noch nicht.
Es ist verhalten heute früh. Ich war im Pool, ich habe zwei Bahnen gekrault, ich habe mich geduscht, es sieht so aus, als würde ich heute wieder wandern, erst aber wird ein am Roman gearbeitet, dem ich gestern so radikal ans Fleisch gegangen bin, dass ich eine Weile befürchtete, jetzt hab ich ihn geschreddert.
11:03
Regen im Paradies.
Ich sitze unterm okkerfarbenen Holzdach meiner Terrasse, arbeite, höre Musik und weiß, dass ich den Roman nicht kaputt gemacht habe. Im Gegenteil, je radikaler ich kürze, desto besser wird er.
12:18
Mein Auto.
13:34
Am Ende der Cala Carbo steht ein blendend weißes Haus im maurischen Stil, Anam Cara, ein Luxushotel. Da hält Madhukar Hof. Nothing but love ist sein Motto, und ich wette, die enttäuschten Frauen, die hier täglich beisammen sitzen und schwafeln, gehen dort ein und aus.
Madhukar bedeutet "Geliebter, süß wie Honig".
Er ist 1957 in Stuttgart geboren. Das sagt eigentlich alles.
Ich ging daran vorbei, überquerte eine Brache mit Wachholderbüschen, kam an die Klippen, strolchte ein wenig herum und gelangte zu dem Weg, der neben einem kleinen Haus mit wildem Garten und Skulpturen hinunter zur Bucht führt. Ein Mann meines Alters grüßte. Man sagt Hola, wenn man sich trifft. Das H wird nicht betont. Mit dem Schwimmen wird es nichts. Die Wellen drücken schon wieder herein, das ist mir zu gefährlich. Es ist mild. Die Wolken jagen, es regnet und regnet nicht, ich habe heute 20 Seiten korrigiert und lege mich ein wenig aufs Ohr.
16:55Nun ist der Avatar auch noch verrückt geworden. Während draußen ein Wind weht und Regen peitscht, ich im Bett lag und friedlich schlummerte, sprang er plötzlich auf, rief, er hieße Geliebter, süß wie Pimmelhaut, wolle enttäuschte Frauen ficken, wie alle dahergelaufenen Gurus, sprang auf und bestand darauf, dass man Pressefotos von ihm macht.
Das erste misslang.
Das zweite nicht.
Ich veröffentlichte es, seitdem steht sein Telefon nicht mehr still.
Geliebter, süß wie Pimmelhaut, lehre mich die Leere, rufen enttäuschte Frauen von Hamburg bis München, tirilliere mir die Chakren frei, süßer Meister undsoweiter (mein Avatar übertreibt manchmal) aber was soll ich sagen, man bietet ihm viel Geld, das ist natürlich fein, denn mie gehören die Rechte.
Nächste Woche hält er im Anam Cara auch ein Retreat.
Dann sollen sich die enttäuschten Frauen aber mal auf was gefasst machen.
Als er dann aber erfuhr, dass Anam Cara dem Verein zur Rettung iberischer Straßenhunde angehört (den wiederum ein Stuttgarter leitet) beschloss er sich zur sofortigen Sprengung. Seitdem ist am Ende der Cala Carbo ein großes Loch in der Erde.
18:23
Mein Avatar kann kein Sanskrit, aber da er davon ausgeht, dass das außer ein paar Sanskritern sowieso niemand spricht, übersetzt er "Geliebter süß wie Pimmelhaut" einfach mit: Madhubar. Das bemerkt keiner, wie kaum jemand irgendetwas bemerkt, es sei denn, er hat Ibiza inklusive Sonne gebucht, dann sitzt er jetzt da, die Kinder haben kein Regenzeug, die Palmwedel beklatschen den Sturm und die Pinien zittern entzückt.
Ich genieße diesen Aufruhr, denn ich bin sicher, nicht allzuviele haben Es Vedra in Wolken gehüllt gesehen, ich bilde mir sogar ein, dass ein ganz besonderer Duft in der Luft liegt, was durchaus möglich wäre, jetzt, wo aller Staub fortgespült ist, aber vielleicht nimmt irgendjemand in der Nähe ja auch nur ein Bad mit einer Kräuterlotion.
Das Tempo der Wolken nimmt zu, wer weiß, vielleicht wehen gleich die ersten Afrikaner vorbei. Ich habe den Nachmittag verschlummert und wäre fast eingeschlafen, aber nur fast. Ich werde daran arbeiten. Die Ruhe hier ist so wohlig, dass es mir wahrscheinlich gelingt, es sei denn, ich muss wieder als Avatar auf die Beine , so etwas kann natürlich jederzeit passieren. Außerdem kam eine Mail und ich musste noch Lektoratsarbeit für meinen im Januar erscheinenden Roman erledigen.
Also.
Jetzt noch ein Sturmfoto.
22:31
Der Wind flaut ab, es regnet nicht mehr, Sterne funkeln. Ich werde noch ein bisschen arbeiten.
Mi 13.10.10 9:32
10:03
Gegen Mitternacht schwieg der Wind. Die Zikaden begannen wieder zu singen. Ich ging auf die Terrasse, es war mild, ich atmete tief, freute mich und legte mich schlafen. Gegen fünf erwachte ich. Die Zedern applaudierten. Der Sturm war zurückgekehrt und hatte Stühle herumgewirbelt.
Heute früh war es verhangen und regnerisch. Ich fuhr zum Supermercado, setzte mich zu den Männern in die Bar, trank einen Kaffee, sagte Hola, wie alle Hola sagen, schaute der kleinen, o-beinigen Frau des Wirts beim Fegen der Terrasse zu und beobachtete Alltag, denn im Hotel ist ja kein Alltag. Ein großer Hund strich über den Parkplatz, an dessen Ende ein kleiner weißer Kubus steht. Er ist kaum größer als ein Gartenhaus, und zur Straßenseite steht schwarz auf weiß: Friseur Monica.
Cala Vadella ist keine fünf Kilometer entfernt. Da reiht sich ein weißes Haus an das andere, da sind Clubs und Anlagen, da ist ein Strand, was auf dieser Seite der Insel nicht selbstverständlich ist, denn hier dominiert schroffer Fels, und da hat man schon Glück, wenn sich in einer Bucht ein wenig Strand auftut. In Cala Vadella ist er etwa zweihundert Meter lang. Ich kurvte ein wenig herum, dachte, es ist schön hier, aber ich bin lieber da, wo ich jetzt bin.
Seltsam ist, dass ich kaum Vögel sehe.
Hier mal ein Spatz, da mal eine Taube, ab und an eine Möwe, einmal ein Raubvogel.
Dann und wann schleichen kleine Katzen durch die Anlage. Der Himmel strahlt. Es wird warm.
14:31
Ein 61jähriger Deutscher leiht sich einen Hut, geht zum Strand und badet.
Die kleinen, orangefarbenen Quallen, von denen er am Pool hörte, waren nicht unterwegs, das Wasser war angenehm temperiert, die Wellen moderat, der Funkverkehr zur Heimat aktiv, er aß eine Fischsuppe mit allerlei Dekoration, er ließ sich von einem desinteressierten Kellner bedienen, ein junger Homosexueller mit Sekundenbartwuchs grüßte, sein Unterlippenpiercing reflektierte das Sonnenlicht, der 61jährige Deutsche verbrachte eine Weile mit dem Gedanken, wie es sich anfühlen mag, in einer vom Machismo geprägten, wenngleich von Mama dominierten Gesellschaft nicht geschlechtskonform leben zu müssen, packte seine Sachen und machte sich auf den Weg zurück zu seinem Hotel. Er will ein wenig schlummern. Dann wird er arbeiten. Herumfahren wird er heute nicht mehr. Er hat keine Lust, sich dem Leben das draußen zu nähern, die Ruhe hier ist einfach zu betörend.
18:15
Kam vom Strand, gönnte meinem Avatar Körperpflege, trank einen Espresso und wollte los, mir die Steine anschauen, die links und rechts der Straße nach Es Cubells so kunstvoll geschichtet sind, da begann es aus heiterem Himmel zu regnen, ich rettete mich ...
schaute ....
fakte einen Schlummer ...
der Regen hörte auf und ich fuhr los....
Zwei Russen arbeiten seit drei Jahren an diesem Projekt.
Sie leben dort. Sie stapeln und sammeln, sie schichten und täglich kommt Neues hinzu.
Wer den Weg hinabgeht, kommt in ein schattiges Tal. Dort haben sie einen mit Gas betriebenen Kühlschrank, und irgendwo Unterschlupf. Aus Sibirien kämen sie, sagten sie.
Ich ging herum und herum und kam aus dem Staunen nicht raus.
21:46
Ein Halbmond hängt tief, Zikaden singen, ansonsten Nichts.
Heute habe ich meinen Roman vernachlässigt. Ich habe schon über vierzig Seiten gestrichen und bestimmt werden es noch mehr. Das Gefühl ist nach wie vor gut, wenngleich es zwischenzeitlich Momente gibt, in denen ich nicht weiter weiß.
21:57
Es Vedra:. Cala d'Hort vor drei Stunden.
23:35
Strich ums und durch das Hotel und fotografierte freihand ohne Blitz mit dem Telefon.
23:56
Ich mag noch nicht schlafen.
Ich hocke im Schneidersitz auf der Terrasse, die Welt schläft, und ich höre mich.
Du hast Zeit, sage ich. Du musst dich nicht fürchten, sage ich. Es ist nur die Stille, nichts weiter.
Do 14.10.10 8:56
Über Es Vedra zieht ein schweres Gewitter heran. Die Luft ist voll ätherischer Düfte. Als ich das vor zwei Tagen zum ersten Mal roch, dachte ich, Elke nähme ein Bad, aber die Insel riecht so.
Es ist traumhaft. Ich würde gern einmal im Frühjahr herkommen. Im Sommer wäre es mir zu heiß. Ich sitze halbnackt vorm Rechner, habe zwanzig, dreißig fingernageldicke schwarze Käfer, die vorm Regen in den Pool gedrückt worden waren, das Leben gerettet und mein Karma poliert. Ich habe bis halb drei am Roman gearbeitet, trinke Cappuccino und habe nur einen unerfüllbaren Wunsch, ich hatte dich so gern hier, süße Braut.
Es Vedra ist nicht mehr zu sehen.
Das Gewitter kommt aus Süd-Süd-West, im Osten scheint Sonne, die Tropfen sind groß und schwer.
Fr 15.10.10 9:15
Einmal muss es sein, hab ja ein Auto gemietet, dachte ich und fuhr nach Cala Vedella, wo ich vorgestern schon einmal war. Es ist hübsch dort, es führt eine Straße hinein, es führt auch eine hinaus, ich hatte sie gesehen, aber die Ortsdurchfahrt nicht finden können.
Diesmal tat ich, was ich vorgestern zwar geahnt aber mir nicht hatte vorstellen können, die Ortsdurchfahrt führt quasi über die Terrasse des Restaurants am Wasser. Dahinter bog ich rechts ab, wo noch mehr Restaurants sind und tiefe Pfützen und Schlaglöcher groß wie Swiming-Pools, und dann links und dann ging die Straße hügelan.
Ich ließ die Bucht unter mir, hielt meinen Fotoapparat aus dem Fenster und klickte drauflos. Die Insel ist bergig, aber nirgendwo geht es höher als 400 Meter, die Straßen winden sich und es macht Spaß, sie zu fahren. Es ist ein ständiges Rauf- und runterschalten, da ist ein weißes Haus und da noch eines und die Pinien sehen aus, als hätte das Jahr gerade begonnen, schon wieder eine Kurve, Mann, die hört gar nicht auf, der Wachholder duftet und es blüht einiges, aber ich weiß nicht was.
Ich wollte der Küstenstraße nach San Antonio folgen, aber die Beschilderung ist nicht immer einfach, manchmal sind es nur kleine Hinweise, die man leicht übersieht, und eigentlich sind das auch gar keine Dörfer am Meer, auf der Karte sind sie als Urbanization ausgewiesen, Siedlungen also, Siedlungen für Touristen, die jetzt, wo die Saison fast vorüber ist, gespenstisch wirken. Irgendwann sah ich ein Schild: Dolfin Beach.
Die Küste am Dolfin Beach hat eine Bruchkante aus ockerfarbenem Sand. Zwei kleine Strände übers Eck, ein heruntergekommenes Restaurant, der Sunset Ashram. Farbe blättert von den Wänden, die großen, wattstarken Boxen sind nicht angeschlossen, ein Hippie Retreat, ich hatte davon gehört. Ein paar kleine Felseninsel sind vorgelagert, ein paar Menschen schwimmen, ein Lifeguard zieht eine gelb-orangefarbenen Flagge auf, man spricht Deutsch.
Ich saß eine Weile, eine sehr dicke Deutsche stritt mit ihren halbwüchsigen Kindern, ob es dort oder dort besser sei, ich trank Wasser, fotografierte und fuhr nach San Antonio. Eine mittelgroße Stadt voller Briten, Table Dance Bars und Touristenrummel. Im Hafen beeindruckende Yachten, aber nichts, was ich näher hätte sehen wollen.
Ich hatte einen Tipp. Ich wollte weiter nach Santa Agnes.
Hatte San Antonio kaum verlassen, als das Land sich veränderte.
Terrassenbau jetzt, überall kunstvoll geschichtete Mauern zwischen Feldern mit roter Erde, Feigen, Oliven, kein Vieh, nicht einmal Hühner, irgendwann ein Zitronenhain.
Santa Agnes liegt auf einer bescheidenen Hochebene. Eine blendend weiße Kirche markiert die Straßengabelung, da ist auch die Bar Can Cosmi. Ich aß ein Omelette, wurde von einer südamerikanischen Kellnerin bedient, zwei Metzger kamen und brachten Fleisch für den Wirt, die Gäste waren Deutsch, mein Mobiltelefon spielte Blackbird, weil ich's so programmiert habe, wenn eine SMS kommt, einer blickte auf, wissend, ein klitzekleiner Trecker fuhr durchs Dorf, ich trank einen Café Solo, schrieb ein Gedicht, ging in die Kirche und dachte an sie.
ein gedicht isst feigen
trinkt café solo
hat eine zigarette im mundwinkel
und hierbas vor sich
es spricht kaum
hat der welt verziehen
und teilt seine sehnsucht
mit den zartgrünen pinien
es gibt nichts auf die strände
und will gar nichts sein
es gäbe gern alles
sänge die schönsten lieder
und weinte um dich
Ich fuhr in den Norden. San Miguel hat eine schöne Bucht, wären da nicht die in die Hänge gebauten Terrassenappartments. Der Geldautomat war außer Dienst. Der Strand leicht bevölkert. Deutsche und Engländer. Ich setzte mich in den Sand, schaute ein bisschen, wie die Touristen mit Paddelbooten herumtrudelten, schwamm und fuhr über San Getrudis zurück nach Cala Carbo, das mir jetzt, wo ich ein bisschen von der Insel gesehen habe, noch besser gefällt.Die Cala Carbo Bucht sei, das haben mir Ludwig und Sybille erzählt, noch immer wie früher. Erfahrene Ibiza-Urlauber, sie kommen seit seit dreißig Jahren hierher. Liegt sicher daran, dass sie so klein ist und nicht verbaut werden kann. Ich bin nicht zum letzten Mal hier.
Die verträumte Schönheit griechischer Inseldörfer habe ich allerdings noch nicht gefunden, auch nicht in San Getrudis, das im Zentrum der Insel liegt. Es gibt da nur einen Marktplatz mit blendend weiß kleinen Häusern ringsum, Restaurants, Andenkenläden und eine Galerie mit schlechter Kunst. Santa Agnes war schön. Das kann ich empfehlen, aber da ist nichts als rote Erde und Stille.
Das Land aber ist wunderschön. Und es riecht dann und wann betörend.
21:23
The Real Fullmooners remixed, am Pool gelegen, im Meer gebadet, abends nach San Antonio gefahren, das ist ein Muss, hatte Elke gesagt und Feile auch. San Antonio ist hässlich. Plattenbau mit Palmen. Das Café del Mar lässt mich kalt. Die Sonne geht unter, ein paar applaudieren, die meisten haben Fotos gemacht, vor mir sitzt Zinnia, hat Kopfschmerzen und einen schlechten Magen. Immer die Vegetarier, denke ich. Ich bringe sie zurück zum Hotel und fahre ins Can Jaume, ein kleines Restaurant unter Tamarinden in Casa Vadella. Ein DJ legte auf, guter Sound, sogar Bugge Wesseltoft hatte er, aber die Saison ist vorbei.
Gegen Mitternacht: remixing
Sa 16.10.10 11:02
Die Dattelpalmen fächern leichten Wind, Sonne schleicht übern Pool, der Casa Morena Remix ist fertig, ich sitze in einer Laube und arbeite am Roman.
21:41
Gabriel sitzt vor der Bar Ca's Poul beim Sparmarkt und dreht einen. Ich sage Hola und frage, ob er'n bisschen was für mich hat und so kommen wir ins Gespräch. Er raucht und trinkt zuviel, fürchtet sich vorm Leben und vorm Tod, hat braune, ehrliche Augen und weiß nicht, was er auf der Welt soll und ob es Antworten gäbe.
Ich erzähle von Chris und dass ich seitdem sicher bin, dass außerm Augenblick nichts zählt, und er sagt, das wisse er. Das kannst du nicht wissen, sage ich. Du ahnst es, ich habe es auch immer geahnt, aber jetzt weiß ich es, das macht den Unterschied. Ja, sagt er. Hast du irgendetwas, was du gerne tätest? frage ich. Nein, sagt er. Nicht einmal Arbeit, und wenn, für 6 Euro die Stunde.
Drinnen spielt Barcelona gegen Valencia, es steht 2:1, die Bar ist voller Männer. Hin und wieder schreien sie ihre Erregung heraus. Als ich mich von Gabriel verabschiede, geht er zu ihnen. Hätte mich vielleicht zu ihnen setzen sollen.
Angefangen hat alles in der Bar Can Jaume in Vadella. Es hatte mir dort sehr gefallen, obwohl tote Hose ist, und an den Hosen hängen Schilder: Geschlossen bis zur nächsten Saiso, also bin ich heute zum Essen hin: Curry Huhn mit Reis, Tomatensalat mit Mozarella, Fritten, ein Cerveza und einen Hierbas.
Ich hatte genug von der Einsamkeit, ich wollte unter Menschen, denn hier sind sind nicht mehr als zehn, und nur mit dreien habe ich bisher geredet, was nicht nur an mir liegt, junge Familien sind hermetisch abgeriegelt.
Ludwig und Sybille, ein Paar meines Alters, haben das hinter sich. Er ist technischer Redakteur bei der Lufthansa, sie arbeitet seit 30 Jahren Schicht, sagte aber nicht, was. Ihr Vater wäre Maler gewesen, erwiderte sie, als ich von meinem Beruf erzählte, nichts war sicher, nichts leicht und wir Kinder mussten immer Rücksicht nehmen. Dann ist da noch Zinnia, eine indischstämmige Frau Anfang 30, 1st generation American.
Mit der war ich gestern in St. Antonio. Sie sagt, sie sei Poet, überflutet mich mit smalltalk und verkochten spirituellen Weisheiten, schwärmt von der Magie der Vedra und dass sie hierher kommen musste. Sie verehrt Hermann Hesse. Dass er ein Eskapist ist und verschrobener Calvinist und ein schlechter Schreiber, weist sie empört zurück.Oh, ich habe Elke vergessen. Elke wohnte bis gestern über mir, Ende dreißig, leitet eine Coaching Agentur in Nürnberg, aber erzählt hat sie mir, dass sie Autorin sei. Antonio, der gute Geist, hatte ihr von mir erzählt, und da kam ich gerade herein und so haben wir ein bisschen beeinander gesessen und gefachsimpelt. Sie will in Kontakt mit mir bleiben, ich habe den Verdacht, sie glaubt, sie könne mich vielleicht als Schriftsteller für eines ihrer Seminare gewinnen.
Und dann ist da noch die Kellnerin in Vadella. Herzlich. Nicht aufgesetzt. Die findet es schon zu kalt, hatte sie gestern gesagt. Ich spreche immer drei Sprachen gleichzeitig. Brocken Spanisch, das wahrscheinlich eher Italienisch ist, was ich auch nicht beherrsche, Englisch und Deutsch. Das funktioniert gut.
Die Sonne ging unter, zwei Männer in einem lächerlich kleinen Schlauchboot mit Außenbordmotor tuckerten aus der Bucht hinaus auf See und ich dachte, hoffentlich gehn die nicht unter, so tief wie das Ding im Wasser hängt.
Hier saßen welche und da, an zwei Händen abzuzählen, 'n paar badeten noch, Kinder sausten herum, Mütter und Väter hinterher. Einem lief Rotz, dem anderen musste ein T-Shirt übern Kopf angezogen werden, ein Junge jagte auf seinem kleine Bike zwischen den Tischen herum, der Sohn eines volltätowierten dunkelhäutigen Mannes schaukelte, zwei millimeterkurz rasierte Lesben tauchten auf, höchstens fünfundzwanzig und sofort Laptop an und telefoniert, Katzen kommen auch immer vorbei, meist schlank, klein und sehr scheu.
Hinter mir sprach eine Frau in ihren Computer. Eh ich begriff, dass sie on-line war und mit Holland sprach, dauerte es einen Moment. Wir sind völlig verrückt. Ich bin es und Sie sind es sowieso. Wir tun keinen Schritt mehr, ohne nicht zuhause zu sein. Wir sind immer zuhause, ganz gleich, wo wir uns aufhalten. Ein Handgriff, ein paar Fingertipps, schon spreche ich mit wem ich will.
Ich aß, trank und dachte, jetzt fahr ich nach San Josep, es ist Samstag. Mitten im Dorf ist eine Bar. Ich setzte mich auf einen Hocker direkt an der Straße und bestellte Hugo de Naranja. Natural gäbe es nicht, sagte der Mann hinter der Bar freundlich. Er hatte keine Lust, Orangen lagen aufgetürmt auf einem Tablett. Aber er hatte Feuer für mich.
Ständig bin ich auf der Suche nach Feuer. Die Fosforos sind so schlecht wie damals in Südamerika. Unterm Baum (Olive vielleicht, ich hab nicht genau hingeschaut) saßen zwei Holländerinnen mit Kind und Laptop. An dem Tisch hinter mir vier fünf Spanierinnen und Spanier mittleren Alters, die Kirchenglocken begannen zu läuten und ich dachte, wann morgen wohl Gottesdienst ist. Soll ich hingehen und mir das Spektakel anschauen?
Weiterfahren nach Eivissa, die Hauptstadt, dachte ich und machte mich auf den Weg nach Hause. Hielt beim Supermercado. Vielleicht krieg ich in der Bar ein Feuerzeug, dachte ich und stieg aus.
Und so begann die Geschichte mit Gabriel, der jetzt mit den Männern sitzt, Fußball schaut und versucht, sein Leben zu greifen, aber es saust ihm durch die Finger, weil er zuviel Dope raucht, und er raucht zuviel Dope, weil er nicht dumm genug ist, all die Fragen zu überhören.
Und während ich sitze und schreibe, kommen Schatten den Weg hoch und ich höre Stimmen. Ich erschrecke, aber dann schält Antonio sich ins Licht und hinter ihm neue Gäste, Nachbarn: Mann, Frau, eine Tochter. Das Paar Ende Dreißig, die Tochter so um die fünf, halb sechs.Das ist der Stand der Dinge. Die neuen Nachbarn sind nicht nebenan eingezogen, sondern ins Appartment rechts oben. Das freut mich. Das sitzen sie jetzt und wundern sich.
So 17.10.10 10:06
das erste gedicht aß eine feige
dieses spielt mundharmonika
ich wäre auf see
spielt es und das boot wäre leck
und ringsum wären rückenflossen
oh oh oh spielte es
das war nicht abgemacht
das ist dein problem
riefen die haie
wir tun hier nichts böses
wir wollen zu abend essen
und dachten nur
denken darf jeder
sagte die mundharmonika
und spielte ein lied
das ihnen die flossen abschlug
und die kiemen verklebte
spielte und spielte
und dann kam ein großes schiff
es war größer als ein fußballstadion
größer als der petersdom
es war fast so groß wie meine gedanken
und während die haie
bäuchlings auf wellen trieben
spielte die mundharmonika la paloma
ging in vadella an land
und trank hierbas.
das ist ein schönes gedicht sagte ich
und die mundharmonika sagte danke.
16:56
Heute früh saß ich vorm Rechner und hatte meine Brille auf. Dann fuhr ich herum, stellte fest, dass ich sie nicht mitgenommen hatte, ärgerte mich und dachte, na ja, sie ist ja in meinem Zimmer. Aber da ist sie nicht. Sie ist auch nicht im Auto. Ich habe alles abgesucht. Ich bin sicher, dass ich sie hier sein muss, aber sie versteckt sich.
20:35
21:30
Das Brillenrätsel ist noch nicht gelöst. Vielleicht liegt's an der Vedra.
Sie ist schwer zu fotografieren. Dies ist eigentlich das erste halbwegs realistische Foto.
Wenngleich, rechts fehlt ein Stück.
Mo 18.10.10 9:48
Es ist strahlend blau und ein frischer Wind weht. Meine letzten Tage auf Ibiza haben begonnen. Als ich letzten Samstag kam, war es schwülwarm. In den Tagen darauf zogen immer wieder schwere Gewitter heran. Es hat geregnet und gestürmt, dann schien wieder die Sonne, seit vorgestern ist das vorbei.
Seit vorgestern ist Herbst. Tagsüber ist es sonnig und warm wie an ruhigen Sommertagen bei uns, um die zwanzig Grad gestern, als ich in Eivissa war, aber nachts und am frühen Morgen wird es frisch.
Ich schwimme jeden Morgen im Pool. Es ist ein wunderbarer Pool mit Salzwasser, ich kann Bahnen ziehen, und da ich sowieso immer der erste bin, der auf den Beinen ist, habe ich die Anlage für mich. Weiß gar nicht, wie viele Menschen noch hier sind, nicht viele. Sie verteilen sich, sind tagsüber oft fort, so dass ich manchmal niemanden sehe.
Gerade aber habe ich beim Frühstück von meiner verschwundenen Brille erzählt, und da bot mir jemand seine Lesebrille an. Das heißt, ich kann arbeiten heute, und das werde ich auch. Gestern bin ich ein bisschen herumgefahren. War in Es Cubelles und bin von dort eine atemberaubend steile Straße hinunter zur Küste gefahren, wo die ganz Reichen wohnen, die sich mit Schlagbäumen sichern, wenngleich die Schlagbäume nicht heruntergelassen waren. Sie haben ockerfarbene Villen gleich überm Wasser, hinter ihnen die steile Küste mit dieser von Schlaglöchern übersäten Straße, sie haben englischen Rasen um ihre Pools, und alles andere auch, und wenn sie aufs Meer schauen, sehen sie Formentera.
Irgendwo hatte ich ein Schild gesehen, das auf ein Restaurant verwies, eine holprige Piste, steil wie eine Achterbahn. Ich nahm all meinen Mut zusammen, fuhr hinunter und gelangte nach Ses Boques. Ein kleines Restaurant, ein Kieselstrand, Pinien, Tamarinden, kein Gast, nur ein kleiner schwarzer Pudel, ein sehr freundliche Senora, die mir ein Omelette machte, mir Zigaretten schenkte, weil ich meinen Tabak vergessen hatte, mir einen Kugelschreiber lieh, weil meiner den Dienst versagte, ein verträumter Fleck, und ich dachte, hoffentlich schafft mein kleines Auto den steilen Weg wieder zurück.
Ich saß eine Weile und fuhr weiter nach Eivissa. Sonntag in einer großen Stadt. Die meisten Geschäfte geschlossen, nur die Apotheken mit den großen, grün blinkenden Kreuzen, die hatten geöffnet und ich dachte, wie seltsam. Die Altstadt duckt sich unter eine mächtige Burg, kleine Gassen, ein Hafen mit beeindruckenden Yachten, ich schlendete ein wenig herum, ein paar Boutiquen hatten geöffnet, aber da gab es nichts, was ich hätte kaufen wollen.
Fuhr ans äußerste Ende der Insel, Ses Salinas. Man passiert den Flughafen, die Insel streckt sich aus, man riecht das Salz in der Luft und dann liegen da die Salinen, weite Parzellen, in denen Salzwasser verdunstet, ein weißer Salzberg am Ende, ein Pinienwald, man geht hindurch und gelangt an einen Sandstrand. Trank im Jockey Club eine Kaffee, dazu Chillout Musik und plötzlich Hildegard Knef. Die hatte was, die Hilde, die hatte ein hervorragendes Orchester, gute Texter und irgendwie passte das alles zusammen.
Herumfahren und schauen ist schön, teilen wäre schöner.
Wo meine Brille ist, wissen die Götter. Ich bin sicher, dass ich sie, eh ich mich gestern ins Auto setzte, noch auf der Nase hatte. Ich habe alles abgesucht. Jedes Kissen dreimal gedreht, jede Jackentasche von innen nach außen gestülpt, ich bin unters Bett gekrochen, habe die Sofakissen gedreht, im Mülleimer gewühlt, nichts, nada.
So Freunde. Ich freue mich auf euch.
Aber noch bin ich hier. Es ist kein Wölkchen am Himmel. Ich werde in die Laube umziehen, es ist schattig dort, hier strengt das Schauen auf das Computerdisplay meine Augen zu sehr an.
17:58
Mittlerweile habe ich fast 50 Seiten aus dem Roman geschmissen, die Gefahr, dass ich den Roman schreddere, ist gebannt, jetzt bleibt nur noch Arbeit, und die geht voran. Ich bin auf Seite 148 von momentan 228. Kapitel 10 steht an, aber heute nicht mehr.
Die 19.10.10 14:36
So. Genug mit Arbeit. Bin auf Seite 171. Lege mich jetzt an den Pool, fahre später nach Eivissa, bisschen shoppen, und morgen geht es zurück in die Kälte.
20:19
Ganz hübsch die Gassen um die Nekropolis in Eivissa. Aber Herr M. hat schon viel gesehen, so schnell haut ihn das nicht aus den Socken. Die Insel jedoch kann er wärmstens empfehlen. Gestern beim Sonnenuntergang an den Klippen etwa, da saß er und dachte, sind das nun Wolken am Horizont oder ist das Mallorca? Eigentlich konnte es Mallorca nicht sein, das liegt nordöstlich, aber was dann? Auf Google Maps waren keine Inseln zu finden, blieb also nur Festland. Er sprach mit Antonio und der sagte si, si, das ist Denia, etwa 80 Kilometer entfernt. Tiefe Ruhe jetzt, letzte Nacht auf der Veranda, Herr M. hatte gestern abend Besuch von einer schwarz-weißen Katze. Die sang Lieder und wollte zu essen, Herr M. aber hatte nichts, schade.
Mi 20.10.10 10:14
Der Tag strahlt, noch ein paar Stunden am Pool, dann geht's heim. Das Idyllischte, was ich gesehen habe, war eine kleine alte Frau mit Strohhut und großem Stock. Sie saß am Straßenrand, und auf einem Feld unterhalb weideten Ziegen. Aha, habe ich gedacht, so war das früher. So stellt man sich das vor auf einer weltabgewandten Insel, auf der DJ's aus aller Welt auflegen und im Sommer die nordeuropäischen Horden die Nacht zum Tage machen. Es ist Nachsaison. Wenn ich wieder herkomme, werde ich keinen anderen Platz suchen als diesen, denn etwas Schöneres habe ich nicht gefunden. Jetzt aber flugs an den Pool, zuhause herrscht Herbst, da nehm ich noch Sonne mit.
Fr. 22.10.10 2:19
Ich habe auf Ibiza zwei gute Fotos gemacht. Dieses....
14:29
und dieses.
So 24.10.10 19:31
Der Roman ist fertig. Morgen beginnt der Alltag, gutes Timing also, ich bin stolz.
PS.
Was mein Brille anlangt, da hat sich Folgendes ergeben.
Ich hatte meinen Mietwagen abgegeben, saß im Flughafen, bis zum Abflug waren es noch zwei Stunden, als ich einen SMS von Max bekam. Die Mietwagenfirma habe angerufen und gefragt, ob er Hermann Mensing sei. Nein, habe er gesagt, er sei der Sohn. Aha, habe der Mitarbeiter der Mietwagenfirma gesagt, man habe meine Brille im Auto gefunden.
Verdammte Hacke, ich hatte doch alles abgesucht.
Nun haben wir uns darauf verständigt, dass man mir die Brille nach Deutschland schickt.
Di 26.10.10 19:00
das erste gedicht aß eine feige
dieses spielt mundharmonika
ich wäre auf see
spielt es und das boot wäre leck
und ringsum wären haie
oh oh oh spielte es
das war nicht abgemacht
das ist dein problem
sagten die haie
wir tun hier nichts böses
wir wollen zu abend essen
und dachten nur
denken darf jeder
sagte die mundharmonika
und spielte ein lied
das den haien die flossen abschlug
und die kiemen verklebte
spielte und spielte
und dann kam ein großes schiff
es war größer als ein fußballstadion
größer als der petersdom
es war fast so groß wie meine gedanken
und während die haie
bäuchlings auf wellen trieben
spielte die mundharmonika la paloma
ging in vadella an land
und trank hierbas.
Mi 27.10.10 18:37
Vier Stunden Mitarbeiterbesprechung.
Ich bin zu geil für diese Welt. Tut mir leid.
Do 28.10.10 9:27
Eigentlich hab ich den Job, weil ich kein Lehrer bin.
Das ist eine sehr gute Meldung.
Man erwartet, dass ich die Dinge anders mache.
Aber gerne doch.
Die Frage bleibt: wie, und wie erkläre ich das den Kollegen.
13:29
Bin jetzt eine Woche zurück, und es ist fast, als wäre ich nie fort gewesen.
Ich mag den Herbst, ich mag die Farben, ich mag den Regen, aber die Vorstellung, dass man da, wo ich letzte Woche noch war, entspannt in der Sonne sitzen kann, tut ein bisschen weh. Irgendwie ist das gemein. Heute früh habe ich mit ein paar Kindern den Rudi Song aufgenommen. Jetzt ist er fertig, muss noch ein bisschen abmischen und sehen, dass ich die Clips rauskriege, aber ich habe ja Zeit. Zeit bis Dienstag. Gott sei's getrommelt und gepfiffen.
23:53
36 Jahre gehörte ich einer Frau.
Das war ein großes Glück, das weiß ich jeden Tag.Jetzt habe ich eine Frau, die mit mir ins Museum geht, drei, die mit mir spazieren gehen, eine, die mit mir ins Theater geht, Frauen, die mit mir essen, mit mir sprechen, eine, die mich beleidigt und die ich beleidige, Frauen, die ich zum Kaffee besuche und aus deren Kühlschrank ich nehmen darf, was immer ich will, Frauen, die lange mit mir telefonieren, Frauen, die mich bewundern, eine Frau, die mich nicht anruft, weil sie soviel arbeitet, Frauen, die sich um mich sorgen, eine in Norddeutschland, eine im Süden, eine in Holland, die mich oft anruft, die jüngste ist 32, die älteste 63, Männer habe ich drei, und natürlich die alten Männer der Band, ich habe zwei Söhne, einen Enkel, zwei Schwiegertöchter, eine Schwester, das ist schön und macht manchmal glücklich, aber die Einsamkeit nimmt es nicht.
Fr 29.10.10 15:09
Nun ist schon wieder etwas geschehen. Nicht, dass nicht jeden Tag irgendetwas geschieht, nein, das nicht, aber das, was geschehen ist, ist merkwürdiger als das, was alle Tage geschieht. Angefangen hat es im Juni oder Juli, als ich zu einer Lesung nach Velbert fuhr. Ich hatte mir gerade ein Navigationsgerät gekauft und den Zigarettenanzünder vor Abfahrt herausgezogen, um das Navi anzuschließen. Seitdem ist der Zigarettenanzünder verschwunden. Ein paar Wochen darauf verschwand mein Hausschlüssel. Es war sicher, dass er sich im Haus verbarg, sonst wäre ich nicht in der Wohnung gewesen, aber er war an allen Plätzen, die ich abgesucht hatte, unauffindbar. Ich fand ihn einen Tag später. Er hatte sich in einem Paket Papiertaschentüchern verborgen, war wohl in die Packung gerutscht, die ich beim Hosenwechsel auf mein Bett gelegt hatte, und nach all dem verzweifelten Suchen sah ich ihn am Tag darauf, als wäre nie etwas gewesen. Auf Ibiza verschwand meine Brille. Auch dort suchte ich alles ab, ohne Ergebnis. Dann, ich saß im Flughafen und wartete auf den Rückflug, erhielt ich eine SMS. Man hatte die Brille im Mietwagen gefunden. Auch da hatte ich alles abgesucht. Ob man sie mir nun nachsendet, steht noch in den Sternen. Ich hoffe jedenfalls. Gestern nun war wieder mein Hausschlüssel fort. Diesmal wusste ich nicht, ob er in der Wohnung sein musste, oder ob ich ihn vielleicht beim Metzger oder bei Netto verloren hatte. Dennoch suchte ich alle mir verdächtigen Plätze ab, ohne Erfolg. Als ich heute früh eine frische Unterhose aus dem Schrank nahm, sah ich ihn im unteren Fach auf meinen Pullovern. Ich werde ihn auf den Schrank gelegt haben, als ich die Wohnung betrat, er wird hinuntergefallen sein und sich dort verborgen haben. Die Welt ist voller Rätsel.
Sa 30.10.10 00:09
Man lässt mich vorm Haus aussteigen. Ich sage, hier wohnt der Witwer Mensing, 61 Jahre alt. Ich folge dir bald nach, sagt der Fahrer des Wagens, ein Freund, der mich hergebracht hat. Ich hoffe nicht. Ich hoffe, er hat einfach nur nicht zugehört.
Wir kamen von einem Konzert im Hot Jazz Club.
Adrian Belew hat gespielt, ein Gitarrist, den ich aus Zappa, King Crimson, Bowie und Talking Heads Zeiten kenne. Als Solist ist er sehr eigenwillig, nicht meine Baustelle. Hochvirtuos, als wäre Musik ein Wettkampf um Quantität und Schnelligkeit. Die Wohnung ist still und leer. Keine Mail. Kein SMS. Nichts. Keiner, der mir gute Nacht sagt. Das ist bitter.
10:39
vorübergehend trägt das haustier eine krone
und hält die erderwärmung flach
der könig weiß von allem nicht die bohne
und hat zudem mit der geliebten krach
in manchen fällen erbt die motte
das reich und hebt die stimmung ganz enorm
vergeblich gräbt im wald die wildschweinrotte
nach einer unbekannten lebensform
in spiegeln bricht sich nutzlos ein gedanke
er hätte alltags keine chance
er brät ein ei und übertritt die schranke
auf einem bein und hält balance
das radio macht urlaub auf ibiza
ein hörer fliegt ihm hinterher
er schreibt der schwester einen brief nach nizza
auf einem teller liegt ein spargel quer
die löffel hätten durchaus was zu sagen
trotz spüli sind sie schwach und fühlen sich verkannt
das hottehühpferd liegt in schrägen lagen
es hat sich beim galopp verrannt
ein samstagmorgen ist um elfuhrdrei
nicht klüger als am tag zuvor
er freut sich, denn er hat heut frei
und tanzt entrückt vorm tor den tor
er hat kaffee intravenös
sich eingeflößt und nikotin verbraucht
er gönnt sich später generös
ein nacktes ding frisch ausgehaucht
so könnte alles gut ausgehen
und alles könnte kollabieren
es wäre gar nichts abzusehen
man müsste es probieren
schlußaus, schlußein, schlußendlich dann
eröffnet sich die nächste stunde
sie liefert dem genießer freihaus an
und schmeißt dem totengräber eine runde
23:56
Ein ruhiger schöner Tag mit meiner Arbeit, spät der Versuch, den Kugelblitz zum Tanz aufzufordern, aber der saß bei Freunden und konnte nicht so spontan. Morgen lese ich in Alstätte. Da hat eine katholische Bücherei ihren hundersten Jahrestag. Ich habe den Job, weil ich vor vier fünf Jahren einmal in Wessum auf einem Kirchenfest gelesen, mit einem Priester zusammengesessen und geredet habe, ich über meine Liebe zu Lesungen mit Kindern, er über seine Liebe zur Predigt. So kommt das manchmal. Zufriedene Kunden sind mir die liebsten. Aber die Einsamkeit wird schlimmer. Der Herbst weht ums Haus. Es wird Zeit, dass ich mal wieder einen langen Spaziergang mache. Wer kommt mit?
So. 31.10.10 20:12
Vorhin auf dem Heimweg...
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