Oktober 2014                           www.hermann-mensing.de          

mensing literatur
 

Bücher von Hermann Mensing bei: Amazon.de  

zum letzten eintrag


Mi 1.10.14 9:22

Er jätet noch. Am Ufer warten sie schon auf ihn. Das Fernsehen zum Beispiel. Die Zuschauer. Ein Ü-Wagen spuckt giftigen Rauch, schließlich brauchen seine Apparate Strom und der will erzeugt sein. Die Moderatorin steht herum. Sie ist ganz in gelb. Er jätet noch immer. Nein, jetzt beginnt er, auf der Stelle zu laufen. Kein guter Laufstil, ein Trainer würde ihm raten, das linke Bein anders aufzusetzen. Dann macht er achtzehn Kniebeugen. Dreißig Tage war er auf seiner selbst errichteten Insel. Er wollte rauskriegen, was der Mensch wirklich braucht. Gute Aktion. Kunst, sagt man. Keine fünfzehnhundert Kilometer von hier ist das keine Kunst, sondern Alltag. Er steigt auf das Dach seiner kleinen Hütte. Er nimmt ein Megafon. Er ruft: “essen essen immer schneller essen schlafen fressen essen und bald haben wir die ganze welt gegessen schlafen fressen essen alle meere leer gegessen und wir haben immer noch hunger hunger." Dreißig Worte, jeden Tag zum Sonnenaufgang und Sonnenuntergang durch ein Megafon in alle vier Himmelrichtungen gerufen. Jeden Tag zu einem anderen Thema. Seine Stimme ist dünn und überschlägt sich ein bisschen. Ein Boot nähert sich. Die Hütte, die an die Gemüseinsel angedockt hatte, wird gelöst und ans Ufer geschleppt. Er steht ein wenig breitbeinig auf seinem Aussichtsturm. Er hat gerade gerufen, jetzt wird er an Land gehen. Da weiß er nicht so recht, wie, da behält er die Ausruferpose. Dann ist er an Land. Man klatscht. Gleich kommt die Moderatorin und wird ihn fragen, wie er sich fühlt. Er wird u.a. sagen, er habe Albträume gehabt auf der Insel. Das wird dann am nächsten Tag in den Zeitungen stehen.

11:04

wenn ich erst anders bin,
wird alles anders,
vorn wird hinten, oben unten,
und andersrum sowieso,
wenn ich erst anders bin,
dann, wette ich, bin ich tot,
denn TOT ist anders,
alles andere kenne ich.


Do 2.10.14 9:55

Nachdem Herr M. das Bett verlassen, die üblichen, morgendlichen Verrichtungen verrichtet, sich angekleidet, ein wenig informiert, mit Kaffee euphorisiert und seinen Magen mit Nahrung gefüllt hat, steht seiner Rückkehr in die Horizontale eigentlich nichts mehr im Wege. Schließlich ist er ein gut versorgter älterer Herr, dem es nie gelang, im Literaturbetrieb derart viel Aufmerksamkeit zu erregen, dass man ihn mit Terminen zugeschissen durch die Lesesäle der Republik getrieben hätte. Ihm bleibt nichts, als das stille Erwarten seines in der nahen oder fernen Zukunft liegenden Todes, Todesart ungewiss, aber todsicher. Mit dieser Einsicht lässt sich gut leben, weshalb Herr M. seinen Plan nun in die Tat umsetzt: der Morgenverkehr ist verebbt, es ist ein wenig ruhiger, er wird noch ein Nickerchen machen.


19:40

Habe mir Berufskleidung gekauft.



 

Fr 3.10.14 10:24

Ob Herr M. heute zu etwas gut ist, darf bezweifelt werden, er hat schlecht geschlafen. Ob das am Totschlagen der Mücken lag, die gestern abend auf den Schlafzimmerwänden saßen? Unzählige hat er zerdrückt. Und schon beim Herunterfahren seiner Systeme hat er spüren können, dass es mit dem Schlafen schwierig werden könnte. Hat sich gefragt, ob man nicht eine Gegenschallanlage einbauen könnte, weil er so sensibel auf jedes Geräusch reagiert. Schon immer hat er auf Geräusche so reagiert, hat sie im Magen spüren können, im gesamten System, und dann ist ihm einfallen, wie schön das immer war, wenn er mit seiner Familie um diese Jahreszeit auf die Insel gefahren ist, nach Ameland, wie er da in die Ruhe fallen konnte, in eine atemberaubende Ruhe. Und dann ist ihm natürlich auch eingefallen, dass das Vergangeheit ist und nicht wiederkehrt. Nie mehr wird er dorthin fahren können, ohne an sie zu denken. Und so ist die Nacht vergangen. Er wird schon geschlafen haben, bestimmt hat er geschlafen, aber eben nicht tief.


Sa 4.10.14 9:14

Wenn Sie (wie ich) nichts zu sagen haben,
steigen Sie im Hauptbahnhof ein,
und Sie sind in zehn Minuten auf der sicheren Seite.
Dort spricht niemand mehr.
Dort sind Sie unter Ihresgleichen.
Dort hat man längst keine Worte mehr für die Gegenwart.
Man ist dort. Endlich.


Mo 6.10.14 10:17

Man kann das nicht aushalten. Man kann nur Schicht auf Schicht stapeln, sich betäuben. Manchmal hilft es. Glück zum Beispiel. Glück hilft. Ob man es sich einbildet, oder ob es Tatbestand ist, ist so egal, wie die Welt dem Universum egal ist. Hauptsache, man fühlt den Schmerz nicht.

So betäubt sitzt man da. Sitzt vorm Millionen teuren, neuen Museum, ein Gebäude, das einen glauben macht, die Welt sei in Ordnung. Sitzt, liest die Speisekarte für das Nebenbei und die große Inszenierung mit halbem Hummer. Hinter einem sitzen welche, die sagen, sehr schön, ganz toll gemacht, fantastisch, kannst ja mit unserem nicht vergleichen. Neben einem sitzen welche, überall sitzen welche und machen gute Miene. Sie haben gezahlt.

Sie haben das ausgehalten. Man hat das ausgehalten. Man hat das Leben ausgehalten und den Tod. Die Jungen kamen und die Alten gingen, einer nach dem anderen war plötzlich auf ewig fort, und man stand da und wusste nicht, was man sagen sollte. Dann sind neue gekommen, aber bevor die kamen, ist eine gegangen und hat ein so großes Loch ins Leben gerissen, das man sich nie hätte vorstellen können. Man hat das ausgehalten. Und dann weiß man, dass man es weiter aushalten muss, ganz gleich, wie wild das Herz schlägt und die innere Stimme ruft. Man muss. Es bleibt einem nichts. Es sei denn, man wollte das Leben beenden, aber das will man nicht, man liebt es zu sehr. Wie kann man das aushalten?


12:23

lasse heute alles fahren,
und mich einen guten mann sein,
gebe mir und meinen jahren,
einen regentag mit fahrschein.

einen, der hinaus, hinaus ruft,
hin- und rückfahrt eingeschlossen,
unterwegs an frischer luft,
wird auf's leben angestoßen.

auf die frauen, auf die dummen,
auf die klugen, auf die jungen,
auf die allgemeine pleite,
leckt mich alle, liebe leute.



Di 7.10.14 13:35

Gestern Borgman gesehen, ein verstörender, äußerst spannender, surrealer Film. Ob die drei Obdachlosen Vampire sind? In einer der Anfangsszenen, bevor ein Pastor und zwei Männer sich auf die Jagd nach Borgman und seinen Freunden machen, schleift einer der Männer die Spitze eines Eisenstabes. Vampire durchbohrt man mit Holzstäben, ich weiß, man treibt sie ihnen durchs Herz, außerdem sind Vampire nicht bei Tag unterwegs, aber wenn kümmert das in diesem Film, in dem nichts selbstverständlich und doch alles ganz deutlich ist. Unbedingt anschauen.


20:33

Was soll ich sagen, ich habe eine Decke auf dem Boden ausgenbreitet, mir eine Trainingshose angezogen, den Yoga Kanal auf Youtube geladen, den Laptop auf den Boden gestellt, mich auf die Decke gesetzt und zwanzig Minuten genau das getan, was die junge Frau im Laptop mir vorschlug zu tun. Jetzt bin ich damit fertig und es fühlt sich gut an. Sehr gut sogar. So weit ist es also gekommen. Ich rauche nicht mehr. Ich kiffe nicht mehr. Womöglich werde ich bald Yoga Meister. Kein Wunder eigentlich, schließlich kann ich es mir leisten. Ich bin Rentner.


Mi 8.10.14 19:15

Habe mir beim online-Yoga den großen Zeh des rechten Fußes wegen Aktivierung irgendeiner mir nicht bekannten Chakre ins linke Ohr geschoben, und krieg ihn nun nicht mehr raus. Dabei will ich heute abend noch tanzen. Verflucht. Das Leben steckt voller Hindernisse.


Do 9.10.14 11:44

Beim Tanzen mit meiner Lieblingstänzerin L. das crazy rabbit gelernt. Sie hatte es auf YouTube gesehen. Pass mal auf, sagte sie und machte es vor. Ich machte es nach, und dann machten wir es zusammen. Man tritt dabei in 16teln oder (je nachdem, wie man zählt) 32teln für einen Takt auf der Stelle, ein Trippeln quasi, das auf der nächsten EINS wieder in den Basico übergeht. Großes Staunen ringsum, das hatten die andern so noch nicht gesehen, aber kein Wunder eigentlich, denn L. und ich halten schließlich auch den Rekord für Drehungen.

Heute eventuell große Landfahrt nach Westen. Mal sehen, wie sich die Dinge entwickeln.
Geschrieben wird jedenfalls nicht, ich weiß gar nicht mehr, wie das geht.


Fr 10.10.14 10:30

Wer nicht schreiben kann, soll lesen, wie andere sich gequält haben. Fahre daher gleich zur Stadtbücherei, Lesestoff holen. Ansonsten schwappt die Vergangenheit über mich. Bin lieber dort als hier, denn die Vergangenheit ist erledigt und macht keine Probleme.

14:56

Etwas fünftausend neue Studenten sind in der Stadt, Ersties genannt, manche kommen mit Eltern. Die, die sich allein trauen, treffen sich sofort in nach Fakultäten geordneten Rudeln, kostümieren sich mit Kopftüchern, Hüten oder T-Shirts, werden von Animateuren durch die Stadt getrieben, zum Alkoholkonsum aufgefordert und skandieren "HURRA" Rufe. Schön, wenn die nachwachsenden Eliten so selbständig und kritisch ihr neues Leben beginnen.


Sa 11.10.14 11:07

Las gestern in Plattform von Michel Houellebecq:
In der Beziehung zu anderen wird man sich über sich selbst klar; genau das macht die Beziehung zu anderen unerträglich.


19:39

Heinrich Heine liebte seine "treuen Westfalen". Wie er die in Krachlederne und Dirndel gekleideten Einheimischen wohl fände, die seit etwa anderthalb Stunden gehäuft hier vorbeilaufen? Wahrscheinlich steht irgendwo ein Zelt in dem eine holländische Bayernkapelle spielt, es gibt Weißwurst, Backhendl, Haxen und bayerisches Bier, und alle tun so als ob. Ich halte das nicht aus. Wo soll das noch hinführen? File under: Kulturelle Verwirrung.

22:35

Heute vom Literarischen Colloquium Berlin mit einem Katalog und einer CD zu den Literatouren durch Westfalen bemustert worden. Zwei Touren habe ich schon gehört, sie haben mir gefallen. Einer weiteren konnte ich nicht folgen, da schien jemand etwas beweisen zu wollen. Er hat in den sieben Minuten, die ich zugehört habe, eh ich genug hatte, mehr als zwanzig Mal zitiert. Zitate, deren Urheber mir zwar nicht sämtlich unbekannt, deren Notwendigkeit mir aber nicht einleuchten wollte. Wahrscheinlich bin ich zu dumm.

Ob sich nun jemand für all das interessiert? Ob es Reaktionen darauf gibt? Man wird sehn. Öffentlich wird das Ganze erst am 27.10.2014.



So 12.10.14 10:28

erstmals nebel,
laub am boden, farbe,
luftfahrzeuge, kirchgänger,
frühstück, ja, großer auftritt:
schinkenspeck, zwiebeln, tomaten, eier,
das leben ist sinnlos, trotzdem: kaffee.
und nachher: keine zigarette, mein kleiner triumph.

21:54

Liebe gewaltbereite Salafisten,

ich habe eine schlechte Nachricht für euch: so wenig wir nach unserem Tode ins Paradies bzw. in die Hölle einfahren, so wenig erwarten euch, wenn ihr den Märtyrertod sterbt (was ihr ja offensichtlich gern tut), die prognostizierten Jungfrauen. Nicht eine. Ein paar neuronale Blitze noch, und dann seid ihr totes Fleisch, mehr nicht. Dennoch wünsche ich möglichst vielen von euch ein baldiges Ableben, damit Ruhe ist.

Mit vorzüglichem Gruß



Mo 13.10.14 10:56

Mein Herz ist ein einsamer Reiter. Es will viel und kann wenig. Kein Wunder, dass ich schlecht schlief und am Morgen mit Schrecken erwachte. Die Katze war fort. Das, was ich mir insgeheim gewünscht hatte, war eingetreten. Ich war frei. Ich konnte tun und lassen, was ich wollte. Ich musste keinerlei Rücksichten mehr nehmen. Aber was wollte ich denn?

Zehn Minuten später raste sie das Brett zum Balkon hoch und grüßte eher nebenher. Ich gab ihr Frühstück. Danach entsorgte ich meine gesamte Gedichtbandproduktion des Jahres 1980 (drei Kisten, ca. 150 Stück a Karton). Außerdem dies, das und jenes, aber man sollte nicht glauben, dass es sich damit erledigt hätte.
14:59

Zwei Frauen bei Aldi. Eine hochgewachsene, kräftige Afrikanerin mit Adlernase, stolzes Profil, freundlicher Mund, Goldkreuzohrhänger links und rechts, auch viel Gold an den Fingern, Nails, wie man so sagt, und eine bleiche Muslima, keinerlei Schmuck, keine Freude irgendwo sichtbar, ein schäbiger Jeansmantel, gepresster Mund, bleiches Gesicht, ich tippe auf Konvertitin, das sind immer die Schlimmsten, aber bitte, wenn es ihnen gefällt. Ich nähme die Afrikanerin.



Di 14.10.14 10:43

Das Kind ist blond, blauäugig und pummelig. Es steht vor einem Karton. Der Karton ist größer als das Kind. Auf seine Seiten sind bunte Bilder gedruckt. Billig gezeichnete Comicfiguren. Das Kind ist fasziniert. Es will etwas aus dem Karton, obowhl es nicht erkennen kann, was tatsächlich darin ist. Unterwäsche für Kinder ist drin: Pastelliges mit Rüschen, Hemdchen und Höschen für 3,99. Das Kind nörgelt. Es nörgelt Russisch. Sein Vater, klein, dunkelblond und schmerbäuchig, steht neben dem Kind. Er hat die Arme verschränkt. Die Mutter, blond und ebenfalls pummelig, steht schon am Laufband und legt Waren auf. Der Vater greift in den Karton und zeigt der Mutter, was das Kind will. Die Mutter nickt.


16:29

Vorm Supermarkt steht eine Laterne. Ein kleines Mädchen hat beide Arme um den Laternenpfahl gelegt und tanzt drumherum. Es singt. Es sagt Hallo, als ich vorübergehe. Seine Mutter steht zehn Meter weiter. Das wird dauern, sage ich zu ihr, und sie sagt: das dauert. Sie waren einkaufen. Sie waren auch in diesem viel zu engen und vollgestellten Supermarkt, in dem schlecht bezahlte Angestellte versuchen, alles Anfallende zu erledigen, aber sie sind nicht genug, immer fehlt irgendwo einer.

So kommt es, dass man sich in diesem Supermarkt nie wohlfühlt, dass man immer schnell wieder raus will, und dass man sich, wenn man draußen ist, fragt, wieso man eigentlich nicht in dem anderen Supermarkt einkauft, keine fünfzig Meter entfernt, nur, weil es da ein paar Cent teurer ist?

Das Publikum hier gefällt einem auch nicht. Nicht, dass man was gegen Schlechterverdienende hätte, man ist ja selber nicht reich, nein, das ist es nicht, aber man mag die Verwahrlosung nicht, die dort offenbar wird, man will das einfach nicht sehen, man sagt sich, zieht euch zumindest vernünftig an, aber nein, die wollen nicht oder sind ganz glücklich so, die lieben ihre Trainingshosen, Tattoos und Piercings, dabei ist das Dorf nicht sozialer Brennpunkt, hier lebt Middle- und Upper-Middleclass, aber irgendwie zieht dieser Supermarkt Bodensatz an.

Bei Aldi ist das nicht so, dabei gilt Gievenbeck (oder besser: Südwest) als sozialer Brennpunkt. Aldi ist billig, die Qualität der Waren liegt deutlich überm Niveau der Netto-Filialen, vor allem aber ist es ist hier nicht so eng, woraus man schließen kann, dass Raum und Verwahrlosung etwas miteinander zu tun haben könnten.

Für einen schnellen Einkauf ist Aldi ein bisschen weit weg, aber so weit nun auch wieder nicht, eine Dreiviertelstunde habe ich gestern per Rad für die Hin- und Rückfahrt plus Einkauf benötigt. Gesund ist es allemal, ich muss zweimal durchs Aa-Tal, und beide Male atme ich schwer, wenn ich das Tal durchquert und die Höhe erreicht habe.

Aber das war eigentlich nicht das, was ich erzählen wollte. Ich wollte erzählen, dass jeder einmal so selbstvergessen und glücklich gewesen
sein muss, wie das kleine Mädchen am Laternenpfahl, daran hatte ich gedacht, als ich mir die Atmosphäre von Netto aus dem Pelz schüttelte.

 

Mi 15.10.14 17:55

Herr M. hat seit drei Tagen mit niemandem mehr gesprochen und fühlt sich, als wäre er Mönch. Nicht, dass er nicht Guten Tag gesagt hätte, Bitte oder Danke im Supermarkt, nein, das nicht, das hat er schon gesagt, aber darüber hinaus, da hat er nichts gesagt, erstens, weil es nichts zu sagen gab, zweitens, weil niemand da war, dem er irgendetwas hätte sagen können, na ja, und drittens, drittens nicht, weil Herr M. ja dieses Schweigegelübde abgelegt hat, eines mit Rückzug vom Weltlichen und Hinwendung zum, sagen wir - na ja, so richtig weiß er auch nicht, wohin eigentlich.

Möglich, dass er darauf wartet, dass endlich eine Stimme vom Himmel kommt und Klarheit bringt: Herr M., du bist der Meister des Universums, so etwas etwa, aber da, fürchtet er, kann er lange warten. Es wird also interessant werden, ihn heute abend zu beobachten, denn da geht er ja tanzen. Gut, er muss da nicht reden, er geht da ja nicht zum Reden hin, sondern weil er diese animalischen Bewegungen zu Musik ausüben will, was ganz etwas ähnliches ist wie Yoga oder Urschrei oder sonst irgendeine Scheiße, die man macht, damit man den Schmerz nicht so spürt, trotzdem, manche Tänzerinnen erwarten Unterhaltung, während man sie von einer Drehung in die nächste treibt, manche wollen eben auch noch Konversation, aber da ist bei Herrn M. Gott vor, das bringt er nicht hin.

Statt nun sein Vögelchen zu füttern und ihm neue Lieder beizubringen, hat er ihm vorgeschlagen, es solle ihn einfach davon fliegen lassen, damit er frei sein könnne, mit ihm könne man nicht auf Dauer in einem Käfig sitzen, das löse bei ihm Fluchtimpulse aus, gegen die er nicht an könne, wieso, wisse er auch nicht, vielleicht schlechte Jugend, ja, aller Wahrscheinlichkeit nach völlig verpfuschte Jugend, schwere emotionale Defizite, Borderline vielleicht, quatsch, Borderline, als ob man das pathologisieren müsste, aber ansonsten, bitte, er habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass er das mit der Liebe nicht gut könne, seinetwegen solle das Vögelchen also bitte kommen und ihn trösten, aber das wird es sich wohl nicht trauen, und Herr M. würde auch nicht vom Ast kommen, auf dem er sitzt, höchstens, dass er ihm den Hals umdrehte. Jetzt trinkt er ein Gläschen, dann legt er sich aufs Sofa, liest bis in die Dunkelheit, dann fährt er davon und tanzt sich um Kopf und Kragen.

23:16

So richtig hat Herr M. den Bogen nun doch nicht gekriegt. Gut, er ist in die Stadt gefahren, das Benzin war konkurrenzlos billig, nicht wie damals, als er mit seinem Vögelchen Tante Ulla besucht hatte, vor der Heimfahrt noch tanken wollte und feststellte, dass der Preis seit Einfahrt in das Dorf vor drei Stunden um fast zehn Cent gestiegen war, das nicht, er lag unter 1,50 und das will was heißen. Wahrscheinlich verkaufen sie hier jetzt auch den billigen IS-Sprit, man weiß ja, dass die heiligen Kopfabschläger Sprit verbimmeln, um noch mehr Köpfe abschlagen zu können. 1,49 also, dann downtown, dann zweimal jeweils eine Viertelstunde getanzt, sich umgeschaut, gedacht, was will ich eigentlich von euch, gar nichts will ich, ich will auf meinem Ast sitzen und singen, und hin und wieder soll sich jemand neben mich setzen, aber vorsichtig bitte, Herrn M. mit Anstand und Abstand behandeln, nicht wie ein Geier, der über Beute herfällt, sonst fliegt Herr M. weg und kommt nie wieder. Herr M. ist ein sehr seltener und scheuer Vogel.


Do 16.10.14 10:11

Ob das schön ist, wagt Herr M. zu bezweifeln, andererseits, angenehm ist es schon, nichts sagen zu müssen. Schließlich ist das ja ein Experiment, nicht so ein großartiges, wie das des Künstlers W., der einen Monat auf seiner Insel im Aa-See hauste, nein, das nicht, so eine Großtat kann und will Herr M. gar nicht tun, er ist eher für die kleinen Großtaten zuständig, für die Konsolidierung seines Verhältnisses zu seiner Katze, für das Besprechen der Natur, für das Stillsitzen auf dem Sofa mit zwischenzeitlicher Hinwendung zu Yoga und Rock n Roll, für das Nichtstun als Prinzip und nicht zuletzt für das Staunen über das Nichtrauchen, das er jetzt seit vier Wochen praktiziert.

Lange hat er nicht mehr so etwas Vernünftiges getan, schließlich ist die Welt nicht vernünftig, weshalb sollte er es sein, hat er all die Jahre gedacht, aber jetzt, da ihm so ein Zipfel Vernunft übers Hirn geweht ist, fühlt er gut wie lange nicht mehr, naturstoned, könnte man sagen, und also hat er einen Plan für heute.

Er wird sich bei geöffneter Balkontür aufs Sofa legen, sich die Decke bis unters Kinn ziehen, und die letzten dreißig Seiten des Romans lesen, mit dem er die letzten dreieinhalb Tage verbracht hat. Wenn er durch ist, wird er seine Lesung vorbereiten, die morgen ansteht. Dann wird er sich umdrehen und ein Schläfchen halten. Und in all der Zeit wird er zwischendurch immer wieder mal an das Vögelchen denken und wie schön es wäre, mit ihm dieses Alleinsein zu teilen, gäbe es da nicht dieses uralte Problem von Nähe und Distanz, wenn er das lösen könnte, wäre er im Paradies, so sitzt er nur im Vorzimmer, was ja auch nicht schlecht ist.

11:34

Noch fünf Seiten von insgesamt 500. Eh Herr M. die liest, macht er sich einen Kaffee. Schweigen und Alleinsein bringt Klarheit.


21:06

Theoretisch hätte Herr M. mit dem 9 Uhr Ticket der städtischen Verkehrsbetriebe bis Betriebsschluss herumfahren können, hätte bis zu drei Kinder mitnehmen können, hat aber nur zwei und die sind erwachsen, wenngleich eines mittlerweile drei Kinder hat, aber gelten Enkel als Kinder? Das weiß Herr M. nicht.

Er war in die Stadt gefahren, um sich ein Oberbett und ein Kissen zu kaufen. Und dann hat er das auch gekauft und hat gleich auch noch neuen Lesestoff mitgenommen, hätte fast einen Mantel und ein Jackett gekauft, hätte, wohlgemerkt, hätte, hat aber nicht, hätte gern das Vögelchen getroffen, aber als er es anrief, saß es nicht auf seinem Ast, und so fuhr er heim und dachte, vielleicht fliegt es herum und ruft zurück. Das hat es nicht getan, hat sich verflogen vielleicht, manche Vögel verfliegen sich ja, so wie Herr M. sich auch hin und wieder verfliegt und dann nicht mehr weiß, wo vorne und hinten ist. Jetzt aber hängt sich die Nacht rein und Herr M. wird nicht alt.

Morgen ist showtime, da freut ich mich schon. Soll Herr M. doch tun, was er nicht lassen kann.


Fr 17.10.14 18:08

Während Herr M. noch immer nicht weiß, was er wissen will und von Baum zu Baum flattert, habe ich heute Geld verdient. Ordentliches Geld für sehr gute Arbeit, das haben alle gesagt, die dabei waren. Allerdings hatte ich Angst heute morgen. In den letzten Monaten hatten sich hinsichtlich meiner Zukunft als Schreiber so viele Fragen aufgetürmt, dass ich dachte, du bist bei Lesungen zwar noch nie auf die Fresse gefallen, aber heute könnte es passieren.

Nix da. Die ersten fünf Minuten waren hart, danach lief es wie geschmiert. Wunderbar.




Ich liebe das Lesen. Ich könnte Kinderdemagoge werden. Sie fressen mir aus der Hand. Am Nachmittag noch eine Lesung, die war allerdings frei: wer dort hinkäme, käme freiwillig, und tatsächlich, es kamen welche. Auch mit denen lief es bestens. Jetzt muss ich was essen. Herr M. scheint unterwegs. Ich weiß nicht, was er vorhat. Er weiß es wohl selbst nicht. Ich gehe heute abend ins Pumpenhaus. Tanztheater.


Sa 18.10.14 10:50

Falls Tränen der Rührung bei Tanztheater ein Merkmal für Qualität sind, habe ich gestern Hochklassiges gesehen. Het Voetvolk, eine Gruppe aus Belgien, tanzt das Lachen, die Ekstase und welche Auswirkungen das auf den Körper hat. Wie gesagt, mir ging das nah. Ich werde es mir heute abend noch einmal anschauen.



So 19.10.14 11:23

Heute ist Sommer. Ab morgen ist das, was eigentlich heute schon sein sollte. Gestern habe ich bis spät vorm Theater gesessen und mit der Choreographin von Het Voetvolk Wein getrunken. Lisbeth heißt sie. Wäre ich nicht anschließend Salsa tanzen gegangen, ich hätte den Kopf verloren. So konnte ich mich gerade noch retten. Hermann, jij bent en fijne man, hat sie noch gesagt, dann lagen wir uns kurz in den Armen und gingen jeder in eine andere Richtung davon. So angefeuert bin ich zum Salsa gefahren und hatte beste Tänzerinnen, bis ich in Schweiß aufgelöst nach Hause fuhr. Allein.

PS.

Heute ist ein letztes Mal Sommer, dann kommt die dunkle Zeit. Was sonst kommt, weiß ich nicht. Ich will es auch nicht wissen. Alles tobt. Die Welt tobt den Totentanz, ich tobe, du tobst, wer zuerst stirbt, hat gewonnen. Schönen Sonntag, sagt man in so einem Fall.


20:22

Heute wurde abgesegelt. Manche machten einen letzten Törn. Der Wind war kräftig. Die Wanten knarzten, Segel knatterten, Boote krängten. Leider fiel keines um. Die an Land gebliebenen tranken Bier und aßen. Später luden sie ihre Boote auf Hänger und fuhren sie in Winterquartiere. Ich saß auf einer Bank und las. Das Alleinsein macht mich verrückt. Zudem geht es ans Herz. Sediert mich und schickt mich ins Heim.


Mo 20.10.14 11:49

Es ist schön im Heim. Schon am frühen Morgen rufen welche: "Guten Morgen, Herr M. Gut geschlafen?" Ich sage dann erst mal nichts, weil die Pflegekräfte ständig wechseln, und die meisten kenne ich nicht. Aber ich stehe auf. Ich habe gut geschlafen, aber das muss ich doch niemandem unter die Nase binden. Mein Zimmernachbar hat meine Pantoffeln geklaut, das geht natürlich nicht. Ich haue ihn. Er beschwert sich. Ich gehe zum Frühstück. Zum Kaffee sage ich, komm, setz dich doch, du bist so schwach. Das Ei ist blass. Das Brot, Vollkornbrot sagen sie, zerlegt sich beim Kauen in kleine Teile, die sich unter meiner Prothese ablagern. Mir doch egal. Hier muss ich zum Glück ja nicht küssen. Jemand bringt mir Tabletten. Ich frage nicht, wofür die sind, ich nehme sie einfach. Zu Anfang habe ich dem Doktor gesagt, was bei mir alles schief läuft, und da hat er ein Rezept vom Block gerissen und mir was aufgeschrieben. Das nehme ich jetzt. Bis ich tot umfalle nehme ich das. Meine Zimmernachbar taucht auf. Er ist böse. Er sagt, ich hätte seine Pantoffeln. Das ist natürlich dummes Zeug. Ich habe seine Pantoffeln nicht. Als er nicht aufhört, mich anzubölken, haue ich ihn noch mal. Diesmal treffe ich irgendwie richtig, so dass er umfällt. Ich fürchte, das gibt richtig Ärger. Aber ehrlich gesagt ist mir das total egal. Hier ist so wenig los, dass Ärger zu einem großen Vergnügen werden kann. Die anderen Heimbewohner sehen das ähnlich. Sie starren zu uns herüber, um nichts zu verpassen.




Di 21.10.14
15:04

Im Heim haben sie heute Yoga gemacht. Ich wollte nicht mitmachen, mein Enkel hatte mir was zu Kiffen gebracht und da dachte ich, lass die doch auf ihren albernen Matten verrotten, diese stinkenden Greise, ich zieh mir eine Tüte rein, schieb mir Kopfhörer auf und mache mein eigenes Yoga.
Aber dann kam Lisbeth, die belgische Pflegekraft, die so bezaubernd Deutsch spricht und sehr gelenkig ist, und sagt, Herr M., laat Sie das mal, dat is niet goed voor ihr Herz, maakt Sie doch mit, kom op. Ich sage, Lisbeth, mein Herz ist mir furzegal, lieber nur noch ein Jahr bei diesen Tattergreisen als fünf, und da sagt sie, snap ik, kann ik verstaan, trotzdem, Sie können ja nachher von die Balkon springen, als Sie willt. Also ging ich mit. Und was soll ich sagen: nach einer Stunde Yoga war ich derart entspannt, dass ich dachte, so könnte ich wohl noch dreißíg Jahre auf meinem Balkon sitzen.


Mi 22.10.14 17:31

Mein Eintritt ins Rentenalter war härter, als ich es mir vorstellen konnte. Wie auch, der Zustand ist neu, und von den Zuständen anderer Rentner wusste ich nichts. An meinem Tageslauf hat sich nichts geändert. Ich war nie an Zeiten gebunden, sieht man von den Verpflichtungen während meiner Lehre, des Zivildienstes und des Referendariats ab. Daran kann es also nicht liegen. Aber das Wort "Rentner" scheint für so eine Krise auszureichen. Danach, sagt das Wort, kommt nichts mehr. Obwohl ich weiß, dass das falsch ist, habe ich es noch nicht verdaut.



Sa 25.10.14
16:33

Die alten Männer haben wieder Musik gemacht. Aber eigentlich ist das ein Euphemismus. Sie treffen sich nämlich, um ungezügelt trinken und kiffen zu können. Musik wird dabei auch gemacht, man "improvisiert", aber man wird von mal zu mal schlechter. Kein Mensch kann soviel kiffen, um sich das schön zu reden. Für Herrn M. war der Abend eine schwere Prüfung, denn er kifft und raucht ja nicht mehr. Aber er hat sie bestanden. Trinken allerdings tut er. Er hatte Whisky mitgebracht. Der war lecker. Eine Flasche durch vier, das ist nicht sehr viel.


Mo 27.10.14 10:45

Ich fröstle ein wenig. Das Heim wird noch nicht richtig geheizt. Wahrscheinlich wollen sie, dass wir schneller sterben. Aber nicht mit mir. Ich habe gut geschlafen. Ich habe gefrühstückt, na ja, das, was man hier Frühstück nennt. Pappbrot und fleischfarbene Wurst, die aussieht, als habe ein schlechter Maler sie gemalt. Dann hat man mich angerufen. Es war ein Mann dran. Der Mann wollte was übers Altern wissen, aber ich hab ihm nichts gesagt. Da kann ja jeder kommen. Soll er doch selbst alt werden, dann weiß er, wie das ist. Danach habe ich die Zeit umgestellt. Sowas blödes. Als könnte man Zeit umstellen. Es wurde sofort grau. Ein Bus fuhr vorüber. Ich habe mir vorgenommen, ab sofort jeden Tag etwas zu schreiben. Etwas über das Heim hier und die Leute. Vielleicht kommt ja etwas dabei heraus. Ich glaube aber eher nicht, denn hier ist ja tote Hose. Das Leben geschieht außerhalb. Das Leben ist ein nutzloser Versuch, der gleich abgebrochen werden muss, weil ich kacken muss.

Vorhin stand der Schauspieler im Gang. Er hat's mal wieder am Herzen, sagt er. Dann stirb doch endlich, sage ich. Da war er beleidigt. Also was mich angeht, ich stürbe lieber den schnellen Herztod, als den verzögerten einer organischen Krankheit, Krebs etwa. Hier sterben ständig welche an Krebs. Nichtraucher und Raucher, aber nicht nur an Lungenkrebs. Arschkrebs gibt es und alles möglichen hundsgemeinen Sorten. Keiner weiß, woher das kommt. Manche sagen, von den Russen und den Atomversuchen, aber die liegen so lange zurück. Eben, sagen manche.

19:11

Herr M. trinkt auf die Leber von Jack Bruce Whisky und sieht/hört Cream 2005 in der Royal Albert Hall. Arschlecken der Rest.


Di 28.10.14 11:46

Das Heim hat schöne Ecken, das stimmt. Aber in den schönen Ecken hocken immer dieselben und rauchen, weil - drin geht ja nicht. Drin hängen überall Rauchmelder. Versucht hat es der ein oder andere immer wieder, mit immer gleichem Ergebnis. Da sollten Sie mal sehen, wie dann Freude in den Alltag einfährt. Da blicken selbst die auf, die man längst übern Jordan geglaubt hatte. So ein feuerroter Feuerwehrwagen macht aber auch was her. Wie er da angepeest kommt und dann bremst und wie die Männer rausspringen. Wie einer Befehle ruft und die anderen rennen und tun, und dann war es doch bloss wieder Fehlarlarm.

Letztes Mal hatte einer in der Toilette geraucht. Er wieder, haben alle gesagt. Eh sie ihm allerdings die Rechnung präsentieren konnten, war er schon gestorben. Man stirbt hier der Reihe nach weg, das ist es ja, was das Heim so unheimlich macht. Morgens sieht man sich noch, mittags sieht man sich wieder, aber dann liegt der eine in so einem grauen Sack mit Reißverschluss. Sie versuchen die zwar so diskret wie möglich zu entsorgen, aber wir haben ja den ganzen Tag nichts zu tun hier, wir kriegen das mit. Ach Gott, sagen wir dann, während die Mitarbeiter des Beerdigungsinstituts uns zunicken, als wollten sie schon Maß nehmen, die Arschlöcher.

17:04

Mein Herz ist ein rastloser Muskel, ein Muskel, mehr nicht, trotzdem der sensibelste Muskel, über den ich verfüge. Ein falsches Wort. Ein falscher Gedanke. Ein unbehagliches Geräusch. Schon reagiert dieses Herz.


Mi 29.10.14
13:38

Im Heim wurde heute getanzt. Das sah komisch aus, denn im Heim sind mehr Frauen als Männer. Die paar Männer
, die es geschafft haben, ihre Arbeit und ihre Frauen zu überleben, tun alles mögliche gern, nur nicht tanzen, und das, was sie gern tun, dürfen sie im Heim nicht, also musste die Heimleitung davon ausgehen, dass die Frauen das unter sich ausmachen mussten. Die Männer saßen in einer Ecke und taten so, als sähen sie nichts. Die Heimleitung hatte sogar eine Kapelle engagiert, aber sie hat noch nicht wirklich begriffen, dass im Heim ein Generationenwechsel stattfindet. Die paar Uralten stehen auf WDR4 Musik, die Nachrückenden aber haben andere Sachen gehört. Da sind Rock n' Roller bei und vermehrt auch Hippies. Denen kann man mit dem Schnee, Schnee, Schneewalzer tanzen wir nicht mehr kommen, da werden sie böse, und die paar Papageien, die im Eingangsbereich in einer Voliere leben, fanden die Musik auch nicht gut. Wenn es wenigstens Alkohol gegeben hätte, aber nichts da, kein Alkohol, keine Zigaretten, das sollt ein Fest sein? Fanden die Männer nicht und verzogen sich nach und nach. Die Frauen aber hatten viel Spaß. Sie hatten rote Gesichter. Letztes Jahr sei eine beim Tanzen gestorben, erzählt man, aber da war ich noch nicht da. Da hockte ich noch in meiner verschissenen Bude, die zwei Drittel meiner Rente kostete und guckte die Wand an. Aber immerhin: trinken und rauchen durfte ich da. Jetzt darf ich nichts mehr.

15:04

Ich wollte über das Glück sprechen, das von der Fantasie gespeist groß und größer wird, dass ich alles sofort vergäße und irgendwann hoffte, es könne wieder losgehen. Mit dem nächsten Satz könne es losgehen, und - voila - da entstünde die größte Geschichte der Welt. Eine, bei der jeder Leser nach drei Sätzen verratzt wäre, bis er sich nach zweihundert, fünfhundert oder auch nach nur hundersechzig Seiten fragte, was für einem Wunder er da begegnet wäre, und wie hieß der Schreiber noch, und hat der noch andere Sache geschrieben, ach, der hat einen Blog, den er Alltag und nicht Blog nennt, her damit. Aber erst einmal muss das Herz wieder unerhört schlagen. Beste Voraussetzungen. Geld her, Geld kommt, morgen schon ist es auf der Bank, Zeit ist da, jede Menge Zeit, meine Freundin liegt auf dem Sofa und schläft.

Der Plan war, in die Pilze zu gehen, gestern hatte ich auf meinem Heimweg an Straßenrändern so viele Pilze gesehen, dass davon auszugehen war, sie stünden auch an anderen Stellen, an weniger belasteten Orten, vor allem der Steinpilz, auf den setzen wir große Hoffnungen, irgendwo würde der Steinpilz doch wachsen müssen, nachdem wir beim letzten Indiepilzegehen die wunderbarsten Täublinge stehenließen, weil sie nicht hundertprozentig zuzuordnen waren, sie schmeckten gut, ich hatte probiert, sie schmeckten wie Champignons, aber eben, wir waren nicht sicher, und nahmen stattdessen zwei Hände voll violetter Lackpilze mit. In einen dieser Wälder wäre wir heute gefahren, hätte der Herbst sich nicht deutlich gemeldet.

Vorbei ist es mit dem goldenen Oktober. Heran kommt die dunkle Zeit. Ob ein Gedicht dabei herum kommt? Man weiß es nicht. Man will jedenfalls nicht enden wie Jack Nicholson in Shining vor seiner Schreibmaschine. So nicht. Dann lieber still und ohne Echo verschwinden. Und heute abend tanzen gehen. Das schon, ja, tanzen geht immer, bis dahin sitzen und schreiben, die Freundin aus den Augenwinkeln beobachten, die mich um eine Wärmflasche für ihre kalten Füße bat.


Do 30.10.14 9:38

Jetzt ist im Heim wieder etwas passiert. Nicht, dass ich dem Haderer Konkurrenz machen will, aber wenn plötzlich einer der Männer, die hier ihr Gnadenbrot verspeisen, an einem Frauentisch sitzt, noch an dem, an dem Frau Renate Grotthuis regiert, dann heißt das was, oder? Aber was, fragen sich alle, die nicht am Frauentisch sitzen. Doch nicht etwa - oh Gott, oder? Alle Spekulationen, alle Fragen, die man sich stellt, werden mit leichtem Abscheu, Ekel und hinterhältigem Neid in der Raucherecke unter den Balkonen zur Westseite durchgekaut, wo sie gern stehen, weil sie sich dort unbeobachtet fühlen, obwohl die Kameras sie natürlich längst auf dem Schirm haben. Da stehen sie wie Schuljungs und fragen sich, ob die das dürfen, oder ob die das überhaupt tun, und falls, hat die Heimleitung da nicht ein Wörtchen mitzureden. Es ist tatsächlich etwas im Gang. Denn es ist ja so, dass Berthold, der da an Frau Grotthuis Tisch sitzt, nicht gerade ein Held ist, in keinerlei Hinsicht ist er ein Held, und da fragt man sich natürlich, was und wie er das macht, falls er was macht. Und warum gerade er? Das einzige, wofür er bisher bekannt war, war, dass er die Papageien fütterte. Der Berthold, der die ganze Zeit, also seit er hier ist, von seiner Frau redet und wie glücklich er war, und was für eine Scheiße das wäre, dass sie ihm weggestorben sei, der Berthold, großer Mann übrigens, den sieht man jetzt mit der doch eher zierlich, schon etwas gebrechlicheren Grotthuis um den Parkteich rollatieren. Die Welt ist schwer zu verstehen.


15:06

Herr Mensing will ein Brett Schokolade und ein Paket Haferkekse, aber da er seit sechs Wochen rauchfrei ist, muss er ein bisschen aufpassen, dass er nicht zunimmt, fett will er nicht werden, er will ja sein schnittiges Äußeres wahren, also verzichtet er. Das Rahm Mandel Brett von Aldi hat er vorgestern schon gegessen, die Kekse gestern. Aber Vorsicht, nicht, dass jetzt jemand glaubt, die Völlerei habe in großem Ausmaß längst begonnen, nein, er ist ja nur alle paar Wochen beim Discounter, dann allerdings greift er zu. Vorgestern hat er Lamm aus Neuseeland gekauft und zubereitet. Butterzart war das Fleisch. Seit er weiß, wie man Fleisch brät, möchte er jeden Tag Fleisch essen, tut er aber nicht. Nicht, dass er was gegen Fleisch hätte, er hat natürlich etwas gegen Fleisch wie alle etwas gegen Fleisch haben, aber er isst es.

19:08

Feierabend für heute. Ich mag nicht mehr. Kommt keine Geschichte, kommt nur Herzquark und Eigensinn, kommt kein guter Satz, kommt Verdrehtes und Psychologie, aber ich will doch Klarheit, stimmt's, Klarheit, und noch ein Butterbrot, ein süßes Butterbrot. Freue mich auf morgen, wenn es wieder heißt: kommt raus, Worte, ihr habt keine Chance, ich kriege euch alle.


Fr 31.10.14 10:12

Das hätten die wissen müssen im Heim. Hülsenfrüchte sind nichts für alte Leute, mehr mag ich heute nicht sagen. Die Stimmung verdüsterte sich, bis schließlich nur noch - nein - das verbietet der Anstand, Sie werden das verstehen. Das Heim bleibt für heute geschlossen.

14:37

Der letzte Schluck ist bitter. Restkoffein scheint vorhanden, da hat jemand nicht aufgepasst. Ich werde zum gehaltvollen Kaffee zurückkehren. Heute nicht, nein, heute trinke ich noch die Greisenbrühe, viel ist nicht mehr im Paket, dann aber gibt es wieder Barristabohnen, Stoff für die Herzkammern, die müssen verbrennen, sonst wird das Leben zu fade. Gold herrscht an den Bäumen. Müdigkeit heißt die Jahreszeit. Man müsste ins Heim jetzt, Yoga machen. Also, Herr M., breiten sie ihre Decke aus, und dann Heißa Hoppsassa Pipi, wir machen das Krokodil, wir machen die Kobra, wir machen den Vogel, das ganze Programm, nur das Ohmmm Shanti Shanti, das lassen wir schön außen vor.

Vielleicht aber doch nicht. Vielleicht doch eher die Tasche mit Büchern packen und auf den Weg in die Stadt? Nein. Faul. Ich bin faul heute, will weder das eine noch das andere, obwohl klar ist, was geht: Arbeit und Struktur. Arbeit und Struktur geht immer, das funktioniert für den Hirnlosen wie für den Egghead. Ordne mich also ein: verorte mich. Spüre die bittere Brühe im System, überlege, was ich R.heute abend schenken könnte. Die klassische Veranstaltung am Vorabend des 1. November liegt an. Großes Kiffen und Trinken. Ich werde nüchtern bleiben, zuschauen und versuchen, meinen Spaß zu haben. Spät wird es traditionsgemäß durch leichten Niesel und Nebel zu Fuß nach Hause gehen. Oder doch nicht? Alles deutet auf eine milde Spätsommernacht im November.