Oktober 2018                      www.hermann-mensing.de      

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Montag 1.10.18 19:35 dramatischer Abendhimmel

Vorgestern Winterbett, heute Sommerbett. Es lag gleich nebenan, in meinem Doppelbett ist Platz für Oberbetten, Kissen, Bücher, Brillen, Tablets, alles kann bleiben, damit ich mich am Morgen nicht unnötig bewegen muss. Läge da eine Frau, machte ich mir sofort Gedanken.

Trotz Wintermantel war es frisch auf der Kutsche. Ich hätte einen Pullover drunterziehen sollen. Ich bin ununterbrochen gefahren, bis auf die Tour mit Gretchen Dutschke waren alle Fahrten vorab gebucht. Kurz getaktet, so dass für Experimente keine Zeit blieb. Dreißig Euro Trinkgeld am Ende. Nun bin ich zuhause. Mir ist kalt. Ich zieh was Dickeres an.

22:13

Als ich frage, wie heißt du, sagt er Cullum ..., nennt seine Straße und seine Stadt. Und du? Hermann, Dorffeldstraße 19, Münster, antworte ich. Cullum ist schottisch, sagt seine Mutter. Wir sind Schotten. Mama heißt Fiona, sagt Cullum. Gibt es hier Pferde? Auf unserer Tour - nein. In Warendorf gäbe es welche. Da waren wir gestern, sagt Fiona. Cullum ist siebzehn, trägt sein Herz inklusive aller Informationen über sich und die Familie auf der Zunge, er sagt gleich zu Anfang, dass er zu mir auf den Kutschbock will, und als ich sage, er dürfe mitsteuern, will er auf meinen Schoß. Das geht nicht, Cullum, sage ich, dann wird es zu eng und gefährlich. Wohin fahren wir jetzt? fragt er. Ich sage, da vorn rechts. Rechts ist da, wo der Daumen links ist. Weißt du das, Cullum? Ja, sagt er. Gut, sage ich. Winker setzen. Papa sagt, ich kann noch keinen Führerschein machen. Besser ist das, Cullum, sage
ich. Fiona, die hinten sitzt, lacht. Du fährst gut, sagt Cullum. Findest du? Ja. Papa fährt auch gut. Wer hat Vorfahrt, frage ich an der nächsten Ampel. Du, sagt Cullum. Nein, sage ich. Wir sind Linksabbieger und haben Gegenverkehr, also kriegst du den Führerschein nicht. Ist auch besser so, sagt Fiona. Ich will weiter mitfahren, sagt Cullum, als Fiona und die anderen beiden Gäste, ein Ehepaar Ende Siebzig, schon ausgestiegen sind. Cullum hat einen aufgeworfenen Mund, so einen Steve Tyler Mund, schokobraune etwas vorstehende Augen, kastanienbraunes Haar, kragenlang, und ein waches Gesicht, ein feminin wirkender Junge. Schließlich steigt er vom Bock und ich fahre davon. Zwei Stadtrunden später kommt ein Mann auf die Kutsche zu. Es ist mit uns gefahren, als Cullum an Bord war. Er reckt mir die Hand entgegen, zwischen den Fingern stecken fünf Euro, die gibt er mir und sagt, das habe ich vorhin vergessen.


Di. 2.10.18 13:05 Regen

Am ersten Regentag seit April weiß ich vor Glück nicht, was ich als Nächstes nicht tun soll. Ich habe den Couchtisch mit Möbelpolitur und das Sofa mit Lederreinigungsmilch bearbeitet, ich habe gestaubsaugt. Solche Dinge drängen sich auf, wenn es regnet, aber das Herumfahren auf dem Rad, weil das Wetter so schön ist und jede Minute im Haus vergeudet wäre, fällt weg. Auf der Sofalehne liegen sechs Bücher, auf dem Tisch zwei Romane von Christoph Hein aus der Stadtbücherei. Die muss ich als erste lesen. Sonst muss ich nichts. Das beunruhigt mich manchmal. Ich gucke in den Regen, oder wahlweise sonstwohin. Ich denke an die Fahrt mit Gretchen Dutschke, eine freundliche Frau mit Ostküstendialekt. Sie trug eine rote Wetterjacke und schlabbrige Leinenhosen, vielleicht selbst gestrickt. Uneitel jedenfalls, anders als ich, der sich jeden Tag inszeniert, aber bestimmt ist auch Gretchens Auftritt inszeniert. Wieso man sie mit 77 Jahren immer noch Gretchen nennt, kommt mir komisch vor. Vielleicht ist das über die Jahre ein Künstlername geworden. Gestatten, Gretchen. Und obwohl Rudi seit fast fünfzig Jahren tot ist, macht sie eine Lesereise, um als seine Frau Auskunft zu geben. Das ist hart, aber ich schätze, sie verdient sich ein bisschen hinzu, denn viel hat sie nicht, das habe ich gelesen, sie lebe bescheiden, hieß es da, und da gönne ich ihr jeden Cent von Herzen.



Mi 3.10.18 17:38 sonnig- und windiger Tag etwa 14 Grad

Wo anfangen? wird oft mit sofortigem Zuklappen des Rechners beantwortet. Ich niese meine goldene Serie zuende, sieben bis dreizehn kräftige, durchziehende Nieser. Ich liebe es, wenn keiner auf halbem Wege hängen bleibt, was furchtbar frustrierend ist. Dann mache ich mir einen Capuccino und spiele fünf Minuten Klavier. Alles ist gut, nur die nach ätherischen Ölen duftenden Tempotaschentücher sind eklig. Ich habe sie aus Versehen gekauft.


Do 4.10.18 11:26 bewölkt, recht mild

Ich saß vorm Landesmuseum. Ein Paar am Nebentisch stand auf und ging. Von einem schattigen Tisch schräg gegenüber kam ein anderes Paar. Ob da frei wäre, fragte die Frau. Ja, sagte ich. Sonnenplätze kosten aber extra und Extra geht cash an mich. Ach, Sie wollen Geschäfte machen? - Was sonst? - Von hier sieht man auch besser, sagte die Frau. Ihr Mann nickte und holte die Weingläser herüber. Zwei PKW fuhren in hohem Tempo Richtung Prinzipalmarkt. Auf beiden waren Lautsprecher, aus denen schwer Verständliches schepperte, es ging, soviel war immerhin zu verstehen, um "Stimmung." - Zwei Polizeimotorräder mit Blaulicht tauchten auf. Das ist ja wie reality-tv, sagte der Mann. - Ja, sagte ich. Aber dann hätte ich gern auch einen Massensturz. Der Mann am Nebentisch lachte und sagte, aber hier oben soll es bitte nicht krachen. - Nein, nein, sagte ich. Das passiert alles nur hintern den Barrieren. Ein Hubschrauber hing über der Stadt. Wind trug eine hysterische Stimme vom Zieleinlauf am Schlossplatz heran. Der wahrscheinlich Führende raste vorbei. An dessen Hinterrad ein Motorrad, auf dessen Sozius ein Kameramann stand. Alles wie bei der Tour de France, der Münsterland Giro. Noch mehr Autos mit Lautsprechern. Das Hauptfeld. Hinterm Hauptfeld Autos mit Ersatzrädern. Mehr Ersatzräder als Fahrer.


Fr 5.10.18 15:39 strahlendes Wetter, mild

Hallo, Hermann. Ich bin dein Assistant. Ich bin den ganzen Tag für dich da. Hier sind ein paar Dinge, die du sagen kannst, um loszulegen. Wie wird das Wetter heute? Stell den Wecker. Warum ist der Himmel blau? Wie komme ich zur nächsten Bäckerei? Lass uns ein Spiel spielen. - Okay Google. Wie also komme ich zur nächsten Bäckerei? - Der schnellste Weg bis Bäckerei Schrunz ist über Dorffeldstraße. Die Fahrt mit dem Auto dauert etwa eine Minute. - Okay Google. Sing mir was vor. - Endlich ist es soweit. Ich komm ganz groß raus. Und wenn ich mich verbeug, gibt's tosenden Applaus. - Okay Google. Was soll ich als nächstes tun? - Du könntest schwimmen gehen. - Okay Google. Ich will nicht schwimmen gehen. Was soll ich sonst tun? - Ich kann das für dich suchen. (Einträge: Ich kann nicht schwimmen. Was soll ich tun? (Gute Frage.de)) - Okay Google. Soll ich kiffen? - Das habe ich nicht verstanden. - Okay Google. Soll ich ein Gedicht schreiben? - "An eine Frau" von Hugo von Hoffmannsthal wird vom Assistant gelesen. Nach einer Weile schiebt Google nach: Es ist nie zu spät, etwas Neues zu lernen. Ich mache das jeden Tag. - Okay Google. Warum sind Frauen so kompliziert? - Das habe ich nicht verstanden. Ich kann das für dich suchen.


So 7.10.18 22:36

Kaffee, Lachs mit asiatischem Rettich, und ein Ei. Mein Frühstück. Danach mit dem Rad durch sich färbenden Buchenwald an einem dämmernden, sehr wenig Wasser führenden Fluss aufwärts zu einem Kurhaus, in dem in den siebzigern Hippies und Gammler wohnten, und einem Wald, der Tiergarten heißt. Mittendrin ist das ehemalige Jagdhaus eines Fürstbischofes, von dessen "Ministerpräsident" ich meinen Kutschengästen immer erzähle, der Freiherr Franz von Fürstenberg, ein Mann mit Verstand. Dieser Wald war die fürstbischöfliche Jagd, da durfte sonst niemand rein. Eine Naturwaldzelle gibt es auch. Ich hatte dieses Wort weder gehört noch gelesen, Sie dürfen also frei assoziieren. Im Dorf steht ein Drostenhof, den ich gern besichtig hätte. Die Drosten waren oft Landedelleute, niederer Adel, der er sich so gut gehen ließ, wie es eben ging. Vor einer Eisdiele saßen Männer in Strumpfhosen und Wurstpellen aus Raumfahrttextilien. Zwei Kugeln mit Sahne, Capuccino. Ich kann mir einfach nicht merken, wie Cappuccino geschrieben wird. Nach Mittag ging es zurück. Wir sahen Haus Lütkenbeck, ein Landgut, dessen Haupthaus kaum zwei Jahre nach seiner Fertigstellung in den zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts abbrannte. Die Luft stach, der Himmel war klar. Man schwitze, man fror, man musste aufpassen.

Mo 8.10.18 22:19


Ich wollte den Sanddorn von Brombeerranken befreien. Sie wachsen aus Nachbars Garten herüber. Ich durchschnitt sie und zog sie aus dem Sanddorn, zwei, drei, manchmal vier Meter lang. Trotz Handschuhen drückten sich Dornen ins Fleisch. Der arme Herr Jesus. Diese schreckliche Krone, und dann nicht einmal Kaffee und Kuchen, so wie wir. Zuhause las ich Christoph Hein, spielte Klavier und notierte Sätze, die mich, würde ich sie verfolgen, bis ans Ende gar, bis sie sich zu einem Roman verdichtet hätten, verrückt machen würden. Außerdem würde ich berühmt und hätte für nichts mehr Zeit. Das will ich
nicht. Ehrgeiz hatte ich nie, und ohne den geht es nicht. Ich habe lieber den Tag für mich, ich schlafe wie ein Murmeltier, ich pfeife Lieder, wenn ich spazieren gehe, ich pfeife vor Angst, aber das bemerkt niemand, ich habe beste Verdauung, ich esse gut und bin bereit, jederzeit zu sterben, habe mir aber vorgenommen, hundert zu werden. Aber gesund, sonst lieber sterben.


Di 9.10.18 10:30 leicht bewölkt, sonnig, um die 10 Grad

23:32

Das, was ich für die Umgehung hielt, die gebaut und genutzt werden soll, wenn der Dortmund Ems Kanal bei Gelmer verbreitert und der alte Kanalübergang abgerissen wird, ist der neue Kanal, das habe ich heute begriffen. In den letzten Jahren bin ich mehrfach dort gewesen, um zu sehen, wie die Arbeiten voran gingen. Der neue, breitere Kanal ist schon mit Spundwänden markiert, die Brückenwanne für den Übergang über die Ems liegt montiert am Südufer. Am anderen Ufer warten Fundamente. Ich schätze, sie werden die Brückenwanne auf die andere Seite schieben, wie, das würde ich gern sehen. Ich hatte meine Panasonic dabei (die ich noch längst nicht beherrsche), aber Baustellen kann ich nicht fotografieren. Er habe zu großen Respekt vor den Ingenieuren, die das alles ausrechnen und auf den Millimeter planen können. Ich plane nicht einmal die nächste Stunde. Ich bin gegen jeden Plan. Pläne verstoßen gegen das Lebensprinzip. Ich will, dass alles jederzeit passiert. Die Sonne schien, leichter Dunst, über Wiesen und zwischen Bäumen fast Nebel. Ich habe Kühe fotografiert, ein Umspannwerk, einen Esel, einen dicken Mann mit dickem Schäferhund, die Rieselfelder, Gänse im Flug, einen Öltank am Hafen in Gelmer und schließlich die Autobahnraststätte Münster Süd. Jedes Mal sieht man, wie schön die Welt ist.










Mi 10.10.18 11:04 sonnig, noch frisch


Gleich werde ich auf den Markt fahren, einen Hering essen und meine Schwester treffen. Ich werde Menschen sehen. Ich werde versuchen, mich und die anderen lieben zu lernen. Ich übe das ja schon lange. Am Abend werde ich Salsa tanzen. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht liege ich rum und verblöde entspannt.

Do 11.10.18 22:28

Es war sonnig und warm. Die Menschen waren in Kutschenlaune. Zwölf von ihnen arbeiteten für den LWL, kamen aus Lippstadt und waren auf einem Betriebsausflug. Da sie in bester Stimmung an Bord kamen, Alkohol aus Dosen tranken und weiblich waren, brachte ich ihnen das royale Winken bei. Über solche Dinge freuen sich Menschen aus Lippstadt, wo die Menschen für ihre innere Ruhe, Ausgeglichenheit und ihren Humor bekannt sind.

Ich (nicht zu verwechseln mit "Herr M." "er" "ich" oder "man") fuhr auch ein Paar aus Göttingen. Der Mann wollte unbedingt neben mir sitzen. Er war um die fünfzig. Ich versicherte ihm, wenn er wolle, dürfe er sogar hupen. Der Mann wäre am liebsten selbst gefahren, es stand ihm auf die Stirn geschrieben und auch seine Augen sagten nichts anderes, aber das wollte er nicht zugeben, und so habe ich ihn weder fahren, geschweige hupen lassen. Er quittierte fast jeden meiner Sätze mit einem "ahaaaa, a h a, aaaaaa, ohkaaaaaiyyyy und diversen hm hmmms, ja, genau.

Zuviel Affirmation kann einen Menschen misstrauisch und böse werden lassen. Dazu kommt der Verkehr. Münster, Eldorado marodierender, jedes Gesetz mißachtender Radfahrer, eine Unachtsamkeit genügt. Ich bitte Sie. Nicht mit dem Fahrer sprechen. Wenn das für die Kutsche gälte, würde mein Kerngeschäft, die Fortführung meiner literarischen Arbeit mit anderen Mitteln, nicht funktionieren. Sie ist dringend auf Kommunikation angewiesen, sonst wäre es langweilig, und für Langeweile zahlt niemand gern.

Ich fuhr und fuhr und fuhr und fuhr, ich redete, bis meine Stimme dünner wurde und beschloss, Feierabend zu machen. Fünf jungen bis mittelalten Frauen mit Primark Tüten, die gern mit mir gefahren wären, erklärte ich, dass ich nicht mehr könne, was sie sofort verstanden.



Fr 12.10.18 13:16 sonnig und mild


Sa 13.10.18 14:27 goldener Oktober


18:19

Alle sind gemeint. Alle müssen sich wehren gegen "das Kapital".


So. 14.10. 18 14:05 sonnig, warm

Ich reiße am liebsten Kinder, die sind so zart. Letzte Woche blieb mir nur ein Mann an einer Parkecke kurz nach dreiundzwanzig Uhr. Alle anderen waren schreiend davongelaufen, noch eh ich erschien. Instinkt vielleicht, ich weiß nicht. Nur dieser eine stand da. Ich erscheine gern mit einem etwas übertriebe theatralischen Knall. Lefzen hoch, huaaaah. Man hat ein geschädigtes Ego, daher muss man das tun. Ich also so: huaaaaaah. Der Alte, der, das sah ich gleich, mir sein Gebiss entgegenspucken würde, wenn ich ihm den Hals riss, das tun alle Gebisssträger, der alte Mann also: Bitte nicht, Mutti. Bisschen viel, fand ich. Als Werwolf bin ich zwar nicht so adrett wie ein Schäferhund, aber so schlimm sehe ich nun auch wieder nicht aus. Es ist ja auch immer nur bei Vollmond. Außerdem, aber das bleibt unter uns, kracht und reißt es, wenn ich Werwolf werde, und auch der Umkehrprozess ist nicht gut für Bänder und Gelenke. Zum Glück kann ich das mit Tanzen ein wenig ausgleichen. Gleich. Gegen vier. Ich werde Torte essen. Mit Menschen tanzen. Bis zum nächsten Vollmond dann. Dann fresse ich einen von denen.


23:01

Der unvollendete Roman

Stasniak kam nach dem Tod seiner zweiten Frau (in fünf Jahren) in die Psychiatrie, erzählte den Psychiatern vom Leben, aber die wichtigen Dinge ließ er aus. Er tat, als wäre das, was er sagte, das Wichtige. Die Ärzte durchschauten ihn, konnten aber trotzdem nichts erfahren, was nicht alle wussten. Die Polizei hatte nach jedem Tod die Ermittlungen wegen des Verdachts auf Totschlags gegen Stasniak aufgenommen, verfolgt, verbissen verfolgt, aber jedes Mal ergebnislos abbrechen müssen. auf. Stasniak war sicher, dass sie ihm nie etwas beweisen könnten. Dann tauchte eine neue Frau auf.

 

Mo 15.10.18 21:48

Verehrte Damen und Herren,

es tut mir Leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir die Realität nach all den Jahren und vielen gescheiterten Versuchen, sie zu leugnen, endgültig verlassen, um uns der Fiktion zuzuwenden, die eine noch größere Lüge ist. Aber, das werden Sie feststellen, wenn Sie darüber nachdenken, wie gern Sie unterhalten werden, sie hat Charme. Charme und Unterhaltung sind Domänen der Fiktion. Ab sofort werden keine Gedichte mehr geschrieben. Vom wem auch? Von mir bestimmt nicht, und Herr M. ist nicht greifbar. Er hat mit der Ukulele, Fotos, der Westerngitarre, dem Klavier, dem Schlagzeug, dem Tango, dem Salsa genug zu tun. Er mag gar nicht daran denken, dass der Tag nur 24 Stunden hat. In der Fiktion aber hat er hundert und er kann machen, was er will. Er kann Präsidenten wegsprengen. Er sprengt gern Präsidenten weg. Am liebsten fiese Präsidenten. Er weiß immer sofort, welche fies sind und welche im Grunde gut. Er kann auch machen, dass die Deutsche Bahn pünktlich fährt. Er kann jedes Zimmer mit nackten Frauen bevölkern oder mit Männern. Ganz wie die Fiktion es will. Das ist das Schöne an ihr. Unappetitlich allerdings, weil sie ein Ausweg ist.


Di 16.10.18 12:50 sonnig, mild

Ich war zwölf, als ich mit Pfadfindern in einer Jugendherberge in Sohlbach Ferien machte, zum ersten Mal allein, fort von zu Hause. Sohlbach ist ein Dorf bei Netphen, weitab, so kam es mir damals vor. Ein auslaufendes Tal, ein Bach, ein paar Häuser, die Jugendherberge, eine Straße hinein, keine hinaus, nur ein dem Hang folgender, ins Tal führender, nicht asphaltierter Weg. Den Sohlbach, der durch eine Wiese floss, haben wir gestaut. In Unkenntnis eines Elektrozaunes habe ich mir beim Wasserlassen eine Erinnerung für die Ewigkeit verpasst. Im Schlafsaal schliefen alle immer sofort ein, nur ich nicht. Wir sind oft gewandert dort, obwohl das Wandern in den Bergen mühsam ist, und auch bei Zwölfjährigen nicht unbedingt beliebt. Aber es war schön, fort von zuhause, das so weit weg war. Vierzehn Tage vielleicht, ohne Kontakt zu den Eltern. Morgen fahre ich wieder ins Sauerland und bin sehr gespannt, denn eigentlich ist der Oktober der Monat, in dem ich das Meer sehen will, eh das Jahr zuende ist.


MI 17.10.18 22:30

Kurz vor Neheim Hüsten halte ich, um das Navi zu anzustellen. Kaum habe ich das Ziel eingegeben, fordert es mich auf, die Autobahn zu verlassen. Sofort verändert sich das Bild. Wo vorher Autobahn war, ist jetzt eine Brücke über einen Fluss. Die Ruhr, nehme ich an, und die kleine Stadt. Ich war hier einmal gelesen, vier, fünf Jahre mag das her sein. Die kleine Stadt wird durchfahren, dann ist man in einem Tal, in einem Wald, immer sind Bächer und Flüsse in der Nähe der Straße, die Dörfer sind schwarz-weiß, Fachwerk, immer kommt man auf eine sich den Berg hochwindende Straße, mit dann und wann weitem Blick über das Land. 400 bis 500 Meter über NN. Buchen, die bunt werden, und je höher wir kommen, Fichten. Im Wittgensteiner Land, östlich von Bad Berleburg, wohnen wir in einem Dorf, das unter Denkmalschutz steht, zwei, drei Kilometer vor der hessischen Grenze. Wir haben eine kleines Haus mit atemberaubend steiler Treppe, nichts für Alte und Sieche, aber gemütlich. Keine zwanzig Meter entfernt ist ein Bach, der rauschen würde, wäre es nicht so trocken, hinterm Haus stehen Ziegenböcke, die mich skeptisch mustern. Wir hätten es kaum weltabgewandter treffen können. Gut getroffen.

Beim ersten Gang durchs Dorf sprechen wir mit zehn Menschen, wovon vier uns u.a. die Schieferverkleidungen ihrer Häuser erklären. Sie erklären, wie man den Schiefer in die Form bringt, der an den Fassaden ist. Wieviel das kostet auch. Und wieviel Arbeit es macht. Der Schiefer ist rund, Raute, Trapez, ist geschwungen und als eine Art Bordüre (Fachausdruck habe ich vergessen), die quer über die Fassade verläuft. Gesägt wird der Schiefer nicht, sondern mit dem Hammer gehauen.

Es gibt zwei kleine Flüsse, die südlich östllich fließen, wahrscheinlich zur Eder. Entsprechend viele Brücken gibt es. Vor einem Haus sitzt ein junger Mann mit ausrasierten Schläfen und langem, schwarzem, gefärbten Haar. Er stößt dicke Rauchwolken aus. Wir tun nix, sage ich. Wir sind Touristen. Er lacht. Später sehen wir ihn wieder. Diesmal hat er ein Mädchen bei sich. Dunkel gekleidet. Gruftie. Kiffer, sagt M. Wir landen in einer Gastwirtschaft. Garantiert keine Kiffer. Man erklärt uns, wie das so ist, in Elsoff. Dass man den dritten Tag nach Heiligabend maskiert durchs Dorf tobt und abends betrunken ist. Dass sie da von weither kommen, die Leute, dass sie Eier sammeln, unter anderem Eier und noch etwas, was ich vergessen habe, und dass das ein großes Fest wäre, aber woher dieser Brauch stamme, wüssten sie auch nicht, aber sie hätten ein Foto.

Ja, sagt die Wirtin, es hat hier mal einen Marrokaner gegeben, netter Mann. In Bad Berleburg, sagt ein junger, männlicher Gast, würde er abends nicht durch die Stadt gehen, zu viele Ausländer. Soviel zunächst. Wie das weitergeht? Wir werden sehen. Ich war lange nicht mehr so weit ab von der Welt.


Do. 18.10.18 20:25

Kaum 700 Menschen leben in Elsoff, die Kirche, überm Dorfniveau auf einem Hügel, ist 1000 Jahre alt, nebenan liegen die Pesttoten einer Epidemie im 17. Jahrhundert. Die Kneipen heißen Spiess-Peters (mit Pension) und Spiess Jörg. Die Spiess waren schon im 19. Jahrhundert Wirte. Wir haben das Dorf in südöstlicher Richtung verlassen, sind der Flanke des "Heiligen Berges" gefolgt, an dessen Fuß der jüdische Friedhof liegt, haben ihn halbwegs erklommen, ein Tal durch- und eine Straße überquert und sind am Hang zurück nach Elsoff gelaufen. Unterwegs wuchsen Parasole, groß, eindeutig identifiziert, aber wir haben sie stehenlassen. Bad Berleburg und das Schloss der Sayn-Wittgenstein hat uns nicht beeindruckt. Wenn man begreift, auf wessen Kosten Aristokraten sich hier im Nirgendwo zwischen Hessen-Nassau und Kur-Köln eingerichtet haben, kann man böse werden. Sie sind immer noch reich. Kein Wunder, dass viele Menschen dieser Region der Leibeigenschaft im frühen 19. Jahrhundert nach Amerika, Pennsylvania, flohen. Wir sahen heute in Bad Berleburg drei junge Afrikaner und zwei farbenfroh gekleidete afrikanische Muslima. Mit der Furcht ist es komisch. Je kleiner der Ort, aus dem man stammt, desto größer die Furcht vor der Stadt und dem, was man glaubt, was dort vorgehe. Furcht quasi ein reziprokes Verhältnis.

Fr. 19.10.18
21:47

Man hat Franzbranntwein mitgenommen, man hatte es geahnt, man war schon einmal gewandert, man war nach 20 Kilometern abends vom Kamm des Teuto ins Dorf hinuntergetaumelt, hatte ins nächstbeste Hotel eingecheckt, ein Grauen, allein wäre man dort sofort verstorben, hatte in Franzbranntwein gebadet und war eingeschlafen.

Heute liefen wir höchstens zehn. Zunächst aber war da eine bequeme Fahrt über die Dörfer. Der Tag war mein erster Herbsttag der Saison, es nieselte eine halbe Stunde, entsprechend wirkte das schwarz-weiße Fachwerk. Unser Ziel war Kühhude, am Ende einer schmalen Straße, die einem mäandernden Bach folgte. Weiter südlich würde man Kühhude eine Alm nennen, glaube ich. Dort stehen zwei Häuser, ein Parkplatz ist da, und diese große, sich über den Hügel rollende Wiese mit weitem Blick auf die Wälder an den gegenüberliegenden, nahen und fernen Hängen. Hier führt der Rothaarsteig vorbei, links, rechts, man könnte hundert Kilometer laufen. Über weite Strecken ist er eins mit dem Skulpturenweg. Es geht auf, ab, aber nie spektakulär, man geht und geht und freut sich über den Wald, Buche und Fichte, und wundert sich, dass noch nicht ein wildes Vieh aufgetaucht ist. Es gibt neun Skulpturen, drei von ihnen haben wir heute gesehen. Ich hatte keine Einwände. Aber die Waden reißen.


So 21.10.18 22:53

Auf dem Sofa schlummern Sohn und Freundin. Spotify läuft. Charly Hübner und Udo Lindenberg lesen Udos Biographie. Bestimmt ist nicht alles auf seinem Mist gewachsen, aber sein Mut und seine Haltung gefallen mir. Ton und Text sind viel besser als das, was ich oft aus Udos Mund gehört und aus der Peripherie beobachtet habe. Udo und ich sind Gronauer, ich kenne seine Familie.


Mo 22.10.18 18:59 feucht heute früh, ab mittag sonnig

Zwanzig Jahre hat sie in einem Heim für geistig Behinderte gearbeitet, nun geht sie in Pension. Heute hat man ihr ein kleines Abschiedsfest organisiert. Ich war dabei, ich saß da mit zwei älteren Frauen, beide an Rollstühle gebunden, zurückgeblieben aus mir nicht bekannten Gründen, mit dem Chef, mit der Geehrten, mit einem Betriebsrat, einer blinden Diabetikerin, einem Mongoloiden, der gern mit der rechten Hand wiederkehrende, gleiche Bewegungen vor dem Mund machte und dabei murmelte, und einer in den ersten Kinderjahren steckengebliebenen jungen Frau, die gern Gläser anderer austrank, ganz laut und mit Vergnügen "kack kack kack" rief. Was und wie man wahrnimmt, wenn man eine dieser Krankheiten hat, verursacht durch kleine Verschiebungen in der DNA, zu wenig Sauerstoff bei der Geburt und was es sonst geben mag, weiß ich nicht, aber die Menschen lachen, und viele sind herzlich. Eine, sie wird heute 28, kommt vom Nebentisch zu mir herüber, setzt sich neben mich, legt ihren Kopf auf meine Schulter, grimassiert. Die, sagt ein Pfleger, steht auf Männer.


Di 23.10.18 11:19 bewölkt, windig

Ich saß auf dem Rad, kaum hundert Meter von zuhause entfernt, als mein Telefon klingelte. Die Chefin war dran. Ihr Regenradar prophezeie Regen zwischen 11 und 12, sie wolle es mir anheimstellen, mit der Schicht erst um 12 zu beginnen, sonst würde ich nass und müsste den Rest der Zeit frieren. Ich sagte, okay, dann trinke ich zuhause noch einen Kaffee. Zuhause verließ mich die Lust, auf die Kutsche zu steigen, denn seit meiner Rückkehr aus dem Sauerland habe ich noch keinen Tag hier verbracht, geschweige, Klavier gespielt. Ich simste der Chefin, ihr Anruf habe mich auf dem Rad erreicht, ich sei abgestiegen, und hätte mir beim Wiederaufsteigen das Kreuz verrissen, das dauere zwei bis drei Tage. Ok schrieb die Chefin. Mein Kreuz ist tatsächlich ein wenig instabil, und so freue ich mich, den Tag zuhause zu verbringen. Ich werde lesen, Klavier spielen, ich werde trödeln. Was für ein feines Leben.


17:03

Es regnet. Es ist windig. Aber das zählt nicht, das plötzliche Verschwinden alles Realen hat Vorrang. Stasniak tritt auf. Die dritte Frau verlässt einen Bahnhof. Sie weiß nichts, woher auch. Die Frau, soviel kann verraten werden, wird nicht sterben. Sie wird Stasniak beerben. Anfangs scheint sie dankbar, dann wird ihr klar, dass dieses Erbe eine Last ist, die Stasniak Jahre getragen hat, ohne ein Sterbenswort zu sagen. Aber zurück. Zurück zu Stasniak, und wie er die Frau traf. Damals, vorm Bahnhof. Die Frau steht vor der Bahnhofstür und versucht sich zu orientieren. Die Stadt, in der sie gerade angekommen ist, soll für sie keine Rolle spielen. Sie will eine Freundin besuchen, und dann weiterfahren. Sie ist auf dem Weg in ein anderes Leben in einer anderen Stadt. Sie hat ein Dorf verlassen. So ein Dorf, von dem heute kaum noch jemand glaubt, dass es so etwas gibt und dass Menschen dort leben können. Stasniak steigt in ein Taxi. Die Frau überquert die Straße. Der Taxifahrer fährt los, übersieht sie, kann gerade noch bremsen. Stasniak schreit den Fahrer an, springt aus dem Wagen, geht zu der Frau und sagt, kommen Sie, wir trinken einen Kaffee.


Mi 24.10.18 16:16 regnerisch

Gestatte mir einen Schlummer.

18:18

Wie hat Stasniak es bloß gemacht zwei Frauen überleben können, wo er doch bei beiden Hand angelegt hatte, sagen alle, die es ihm nicht beweisen können, die Nachbarn, die Polizisten, die Psychiater. Stasniak spricht nicht über die Vergangenheit. Er hat ja die Gegenwart, und in der Gegenwart führt er gerade die dritte Frau in ein Café. Mit ihr wird er sein blaues Wunder erleben.


Do 25.10.18 bewölkt 12:05





Schwarzenau unter Wolken. In den Tagen danach war es immer klar.


Nicht weit von Grafschaft, einem Dorf bei Schmallenberg, steht BlinkerII, eine Installation von Timm Ulrichs.




Die Hennetalsperre bei Meschede.



15:24

Stasniak starrte auf seinen Kaffee, als sei die Zukunft darin verborgen. Die Frau hatte "Danke" gesagt, und nun wollte sie gehen. Aber Stasniak so zu sehen versetzte ihrem Willem eine seltsame, nicht gekannte Lähmung, die auf die Gliedmaßen überzugehen schien. Sie blieb sitzen. Sprechen wollte sie nicht. Stasniak nahm ein Stück Zucker, legte es auf seinen Kaffeelöffel, tunkte ihn in den Kaffee, dass das Zuckerstückchen sich vollsaugte und aß es.


15:48

vordergründig
hintergründig


18:59

abgründig


20:24

tiefgründig


Fr 26.10.18 17:08 bewölkt, bisschen windig

Dies ist mein Werk, falls Sie sich fragen, was ein Werk ist. Ich verbringe täglich Zeit mit ihm. Ich schreibe. Ich verwerfe. Ich schreibe neu. Ich schreibe, also .... Das Werk will immer Aufmerksamkeit. Es ist bockig und eifersüchtig auf alles, was nicht Werk ist. Er ist nicht frei von Zensur. Ihr Überwinden bedeutet Freiheit. Dieser Prozess ist der wichtigste Teil meiner Arbeit. Dazu muss ich wach sein. Freiheit ist anstrengend. Sie täuscht gern, auch mit Räuschen, aber wer den Rausch nimmt wie den Traum oder den Alltag, kann nur gewinnen und dem Ziel näherkommen. Zum Glück erreicht man es nie. Mein Glück, heute, zehn vor elf in Höhe der Oxford Barracks, 16.000 gefahrene Kilometer mit dem Rad. 15.000 Kilometer waren es am 30.08, ich bin seither Tag für Tag knapp 18 Kilometer gefahren, auch wenn ich nicht gefahren bin. Das ist nicht viel. Ich fahre manchmal vierzig am Tag. Als ich noch mit dem Auto unterwegs war, war das bequem, es war trocken, ich hatte Musik, ich hatte Adrenalin im Blut und fluchte ordinär, aber frische Luft, Himmel, das Wetter, Gerüche, die Vogelgesänge, das All mit Sternen und Gestirnen, das habe ich nur auf dem Rad.


22:45

wer gegen elf
gedichte schreibt
muss gründe haben
sonst legte er sich
zu den dämonen

so einer
zählt minuten
sterne und wolken
streicht er sich in den bart

dieses wird
jenes versucht
und verworfen
dämonen lachen
aber am morgen
ist das gedicht fertig


Sa 27.10.18 15:59 wechselnd bewölkt, sonnig

Ich brate Gänsebrust. Der (diedas) Rosmarin, den ich frisch nirgevndwo auftreiben konnte, ist mir beim Würzen ein wenig ausgerutscht, sagen wir mal so. Hoffentlich verdirbt er mir nicht den Braten. Ansonsten wechseln sich Anweisung und Improvisation beim Braten, Begießen und bei den Zutaten ab. Man (ich, Herr M., er) darf gespannt sein. Heute Abend bin ich im Center for Literature auf Schloss Hülshoff. Es liest u.a. Herr Stanisic. Seinen vorletzten Roman, der in der Uckermark spielt, habe ich sehr gern gelesen, wenngleich ich außer der Uckermark nichts mehr erinnere. Den Namen des anderen Autoren, der heute abend liest, habe ich noch nicht gehört, aber von beiden wird gesagt, sie hätten wichtige Romane der Gegenwart geschrieben. Ha, denkt Herr M. (man, ich, er), das sagt sich so leicht. Die wichtigen Romane der Gegenwart schreibt das Kapital und die von Lobbyisten umschwirrte Politikerkaste.


Mo 29.10.11 15:52 bewölkt, frisch

Es ist grau.

17:32

Es ist fast dunkel. Im Hintergrund quaken Böhmermann und Olli Schulz fest und flauschig über nichts. Möglicherweise ist das das Neue Wichtig, ich kann es nicht wissen, ich bin weder Polizistensohn noch unter fünfzig, ich gehöre zu den Sterbenden, jeden Tag steht es in der Zeitung, irgendwo ist immer einer dran, den ich irgendwie kannte, das ist unheimlicher als Halloween.


22:13

Vor dem Heim, in dem sie gearbeitet hat, als sie 18 war, wartete ich am Steuer, während sie herumging und rief, da oben wäre ihr Zimmer gewesen. Unter der Kastanie am Jakobsweg 3 vor der Brücke, wo das Navi sagte, Sie haben ihr Ziel erreicht, stellte ich den Motor ab und stieg aus. Wir waren aufgeregt. Wir schauten uns um. Wir freuten uns, aber wir wollten zur Hausnummer 7, und ich erinnerte mich, dass ich die nicht ins Navi hatte eingeben können, es hatte sich geweigert. Den ganzen nächsten Tag fuhr sie.


Di 30.10.18 9:55 bewölkt, frisch

Man ist vier Tage fort, kehrt zurück, die erste Woche danach verfliegt, und man weiß kaum noch, was man wann wo tat. Man hat aber Fotos, man hat sein visuelles Gedächtnis auf die Festplatte verbannt, und darauf sind Berge zu sehen. Skulpturen nehmen Raum ein, Täler sind von Wolken verschluckt, Wälder sind so bunt, dass man sie nicht fotografieren kann, ohne dem Kitsch auf den Leim zu gehen. Wundervoller Kitsch. Man erinnert sich an Namen. Kühhude etwa, 700 Meter über NN., zwei Häuser ein Parkplatz am Ende einer sich parallel zu einem Bach durch ein Tal windenden kleinen Straße, Sackgasse, wo man zum ersten Mal mit dem Rothaarsteig in Kontakt tritt. Ja, sagen Wanderer, die Schanze und den Kyrill Pfad finden Sie, wenn Sie dort immer geradeaus gehen. Wir gehen und gehen. Wir kommen ins Schwitzen. Wir fragen uns, wieso die falschen Pfifferlinge wachsen, die richtigen aber nicht. Die Waden reißen. Am Abend kühlen wir sie mit Franzbranntwein. Komisch, sagt sie, wo du doch stundenlang tanzen kannst. Ja, sage ich (Herr M., man, er), komisch.

Das Sauerland/Siegerland/Wittgensteiner Land ist kaum anderthalb Autostunden entfernt, und doch war ich nur als Kind dort, und später noch einmal, als ich in einer WG wohnte, die endlich einmal rodeln wollte, mit Kiffen und allem drum und dran, also richtige Abhänge voll Speed runternageln, nicht nur Kinderhügel wie in diesen Breiten. Damals stapften wir durch teils kniehohen Schnee, und waren bald bis auf die Knochen durchgefroren.

In Elsoff (vorletzte Woche) war die Windschutzscheibe des 500er Fiat Cabrio, das wir uns gemietet hatte, gefroren. Ansonsten meinte es der Spätherbst gut mit uns. Enttäuschend allerdings waren die wegen der großen Trockenheit nicht aufzufindenden Steinpilze, die es hier, das versicherte man uns im Pilzmuseum Bad Laasphe, sonst zahlreich gäbe. Davon hatte sie geträumt. Herrn M. gefiel das Wittgensteiner Land auch ohne Pilze ausnehmend gut. Man kann dort wandern und wandern, man kann sich verlaufen, man kann eine Woche untunterbrochen dem Rothaarsteig folgen, Winterberg aber sollte weiträumig umgangen werden, es sei denn, man liebt Rummel.


14:05

Im Dezember 2014 zog ein junger Chilene bei mir ein. Er hatte einen Master in Soziologie und wollte in Deutschland promovieren. Zunächst aber musste er Deutsch lernen. Seine Schule hatte angefragt, ob er bei mir wohnen könne. Er lebe in Untermiete am Hohenzollernring, sei dort aber nicht glücklich. Ich hatte zugesagt, ein wenig aufgeregt, denn ich lebte seit 2009 allein, und einen Untermieter hatte ich noch nie. Wir telefonierten miteinander, und ein paar Tage darauf holte ich ihn ab. Er schleppte zwei riesige Koffer. Eine Tasche. Er war klein, kompakt und energisch. Er wohnte bis zum Frühjahr bei mir, wir verstanden uns gut, sprachen aber hauptsächlich Englisch miteinander. Er war schüchtern und ehrgeizig. Wir trafen uns meist in der Küche und abends manchmal im Wohnzimmer. Durch ihn lernte ich Netflix kennen. Ich bekam Zugang zu seinem Account, so dass ich eine Weile Serienjunkie wurde (Breaking Bad u.a.). Ich nannte ihn Doktor. Herr Doktor L., was ihm gefiel. Er hatte einen Doktorvater, ein Stipendium, und würde nach Abschluss des Deutschkurses an einer anthroposophischen Hochschule auf Englisch über das Hochschulsystem seines Heimatlandes promovieren.

Nach einer Weile reiste seine Frau aus Chile ein und beide zogen in eine Wohnung nach Münster, und von dort bald nach Bochum. Lange Zeit wusste ich nur, dass sie dort nette Nachbarn hätten, sonst hörte ich kaum von ihm, und wenn, schrieb seine Frau, die sehr herzlich ist und die einzige, die sich von Akademikern und ihren Marotten nicht beeindrucken lässt, weshalb er sie liebt. Zweimal kamen sie nach Münster, am Sonntag besuchten sie mich, um Abschied zu nehmen. Er hat promoviert. Seine Frau und er sind kein Paar mehr. Ich nehme an, weil er nichts als Arbeit kennt, aber sie sind noch befreundet. Er kann Habermas, Adorno und Luhmann auf Deutsch lesen, die Schlagzeilen der Bildzeitung versteht er nicht. Morgen fliegen beide zurück nach Chile. Ab nächster Woche arbeitet er an einer Hochschule in Santiago. Er hat 15 Kilo zugenommen und träumt davon, nie mehr Bücher lesen zu müssen. Vielleicht träumt er davon, wie es war, als er mit fünfzehn Mitglied einer Straßengang wurde, die die Viertel seiner Stadt unsicher machte. Wir umarmten uns, und ich sagte, ich würde mich freuen, in den nächsten zwanzig Jahren hin und wieder eine Weihnachtskarte von dir zu bekommen, und seiner Frauf flüsterte ich ins Ohr, und eine Karte zur Geburt eures ersten Kindes. Es würde mich freuen, wenn es so ausginge.