Oktober 2023                    www.hermann-mensing.de      

mensing literatur 

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Mo 2.10.23 17:26 sonnig

Später Sommer, früher Herbst, ich lebe seit 27.238 Tagen. Also rauf auf die Aprillia für eine Tour über Land. Überall wird Mais geschnitten, die Landstraßen sind verschmutzt, bei trockenem Wetter ist das kein Problem, bei Regen allerdings werden das Rutschbahnen. Besuchte eine Klassenkameradin, kaufte in Glanerbrug zwei Joints, kreuzte durch's Amtsveen, hinterließ vorm Nightdsky-Studio einen Gruß und fuhr zu meiner ersten Freundin, der Gärtnerin. Man hatte eine gemeinsame Zeit. Man fragt sich, wo das Dazwischen geblieben ist, man hat wandernde Flecken, aber keinen Krebs. Gestern bin ich zum Tango nach Osnabrück gefahren. Die innere Stimme hatte abgeraten, mein Erlebnishunger war stärker. Der Zug war bummsvoll. Eine leichte Schwüle, die sich im Blue Note mit dem Schweiß der Tänzer aufheizte. An einem Tisch sitzen nur Münsteraner. Der Professor würdigt mich keines Blickes. Die erhofften Tänzerinnen aus Osnabrück fehlen, nur die Russin kommt und begrüßt mich herzlich. Ich trinke ein Bitter Lemon und hau wieder ab. Draußen beim Syrer esse ich Falafel. Am Nebentisch pinkelt der Hund eines Paares Herrchen ans Bein. Am islamischen Zentrum verkündet ein großes grünes Schild, dass Allah der Einzige Gott sei und Muhamad sein Prophet. Man kann jeden Blödsinn glauben, aber ich finde, das Schild ist provizierende Propaganda. In der Straßen vorm Bahnhof arabische Imbisse, ein Erotix-Kino, vor der dem eine korpulente Mittzwanzigerin steht, und ich mich frage, ob das was zu bedeuten hat. Hier und da Gruppen von Afrikanern, Syrern, Afghanen. Ein Hotel mit Zimmern ab 29 Euro. Ich hock mich auf einen Poller vorm Bahnhof. Kaiserlauterner Fußballfans trinken Bier. Gefühlte 30% aller Frauen zwischen zwölf und Vierzig tragen bauchfrei. Es wird Zeit, dass der Herbst kommt. Mein Zug hat Verspätung. Als die Zeit kommt, zu der er einfahren soll, verschwindet die Anzeige und springt auf den Folgezug in einer Stunde, so dass man glauben könnte, der erwartete sei endgültig gestrichen. Alle Reisenden schauen sich ratlos um. Die Bahn erklärt nichts. Und dann kommt der Zug doch und fährt tatsächlich. Glück breitet sich aus. (PS. Herr M. beginnt einen Roman)


Di 3.10.23 12:23 regnerisch kühl

Sehr geehrter Herr Mensing,

Sie erinnern sich vielleicht an die Führung einer Gruppe von Bibliothekarinnen und Bibliothekaren am vergangenen Samstag um 14.30 Uhr durch das Rüschhaus. Ich wollte Ihnen gerne übermitteln, wie wunderbar alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer Ihre Führung fanden und Ihnen auf diesem Wege noch einmal dafür danken. Wie ich vermutete und wie sich später beim Besuch der Burg Hülshoff herausstellte, sind Sie ja auch der Autor des historischen Romans "Mein Prinz", den ich sehr schätze und der Gruppe noch besonders "zur Nachbereitung" unseres Ausflugs empfohlen habe.

 

Do 5.10.23 11:31 bewölkt, frisch

Seit einer Woche stand fest, dass wir am 4.10. in die Haard fahren würden. Abreise mit der RB 42 in Albachten um 10:42, Ankunft in Marl-Sinsen eine halbe Stunde später. Von dort sind es mit dem Rad keine zehn Minuten in das knapp 50 km2 große Waldgebiet, das größte im Norden des Ruhrgebietes. Als wir abfahrtbereit mit den Rädern vorm Haus stehen, fällt ihr ein, dass sie ihr Deutschlandticket Oktober weder aufs Smartphone geladen noch ausgedruckt hat. Uns bleiben knapp 20 Minuten bis zum Bahnhof, vier Kilometer. Ich haste ins Haus und drucke das Ticket aus. Wir müssen uns eilen. Wir könnten es schaffen. Ich trete in die Pedale. Sie bleibt zurück. Das ist immer so, wenn ich vorweg fahre. Ganz gleich, wie schnell oder langsam ich unterwegs bin, sie kann es sich auch nicht erklären, denn wenn sie voraus fährt, macht sie mühelos 20 kmH, so dass ich oft Mühe habe, ihr zu folgen. In Albachten habe ich sie verloren, aber sie weiß ja, wo der Bahnhof ist. Der Zug 10 kommt Minuten verspätet, Glück für uns, ich ziehe zwei Fahrradtickets und warte. Als sie kommt (noch zwei Minuten bis zur Abfahrt) ist sie verärgert, sie hat sich verfahren, dass da ein Hinweisschild steht, will sie nicht wahr haben, wir geraten in Streit, ich meckere, Abbruch steht in der Luft, aber dabb nehm ich sie an der Schulter und sage lass gut sein. Der Zug kommt, wir steigen ein und schweigen. Kaum in der Haard entdeckt sie vom Wegrand aus die ersten Pilze. Goldröhrlinge und Maronen. Nadelwald, Moos, Licht, das perfekte Habitat. Wir suchen nicht, wir sammeln und haben innerhalb einer halben Stunde gut 1,5 Kilo feinste Pilze. Ihre Stimmung hellt auf.





Fr 6.10.23 11:07 windig, frisch, bisschen Sonne

Gäbe es die Heizkosten nicht, würde ich heizen. Stattdessen ziehe mich warm an, denn ich sitze ja, ich sitze an meinem Schreibpult und arbeite. Vorsichtig taste ich mich in jeden Satz. Wenn genügend Sätze zusammenkommen, wird sich herausgestellt haben, ob sie sich fügen und die Geschichte erzählen, die ich erzählen will. Bis dahin wird Zeit vergehen. Immerhin habe ich wieder begonnen. Ich schreibe einen Roman. Seit knapp einer Woche. Jetzt aber verlasse ich die Wohnung, setze mich auf mein Rad und fahre ins Blaue.


Sa 7.10.23 23:32

Da hab ich mir was eingebrockt. Vor Schreck habe ich die Milonga sausen lassen. Morgen muss ich im Rüschhaus Geschichten erzählen. Ich fühle mich überfordert. Deshalb gehe ich schlafen.

So 8.10.23 17:37 bewölkt, bisschen Regen

Seit einer Woche bin ich müde. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich es langsamer angehen lasse. So eine 60-80 Kilometer Radtour hängt mir auch am nächsten Tag noch in den Knochen. Das ist neu. Ich brauche Regeneration. Gestern habe ich mir sogar den Tango verkniffen, obwohl der Ort, an dem die Milonga stattfand, die Ausstellungshalle am Hawerkamp, mich gereizt hat. Ich war zu müde. Außerdem fremdle ich mit der Szene. Ich bin kein sozialer Tänzer. Wenn also die, mit denen ich gern tanze, nicht da sind, habe ich kaum persönliche Bezüge. Small-Talk kann ich nicht. Wenn ich Führung durchs Rüschhaus mache, kann ich entspannt erzählen, kann kommunizieren, bin freundlich oder distanziert, je nachdem, aber da spiele auch eine Rolle mit vielen Facetten. Als Tangotänzer bin ich, glaube ich, eher eine oft beargwöhnte Erscheinung, noch dazu Dichter. Heute hatte ich fünf Führungen. Sehr ruhige, intime Rundgänge mit zwei, höchsten vier Personen. Ein Paar Mitte 20, Psychologen, mit denen ich über die oft melancholischen Zustände der Droste sprach. Eine Frau, die das Rüschhaus aus den Fünfzigern kannte, und mit Tochter und Enkelin unterwegs war, ein Teenager, dem die Unlust aus allen Poren tropfte, erzählte, sie sei damals Lehrling in einem Lebensmittelgeschäft gewesen und habe Einkäufe ins Rüschhaus geliefert. Wer denn damals dort gelebt habe, frage ich, aber das weiß sie nicht mehr, so wenig sie weiß, wie der Garten ausgesehen hat. Jetzt rolle mich aufs Sofa und höre Musik. Fünf Stunden stehen, herumgehen und sprechen, das spüre ich morgen noch. Ich habe im Oktber noch drei Führungen, dann ist die Saison vorbei. Erschreckend schnell ist das wieder gegangen. Ich werde ich März 75, Einschläge, wohin man schaut, die Zeit rast, obwohl ich sie vertrödle, wann immer es geht. Der Herbst wird deutlich. Ich werde mich in ein Schreibtier verwandeln, das einen Roman ausbrütet. Darauf freue ich mich, es macht mir auch Angst, aber meine Neugier wird siegen, wenngleich der Roman mit hoher Wahrscheinlichkeit keinen Verleger findet. Aber ich will ihn schreiben, und darauf kommt es an. Schönen Sonntag.


Mo 9.10.23 20:45 grau

sie fährt auto
in der kurve tastet ihre zunge
die entsprechende ecke
und jetzt hat sie's geschafft
plötzlich kracht es
ein kind
sie bremst
springt aus dem wagen
sieht das kind
schreit
das kind schaut sie an
kleine flügel wachsen
es fliegt davon und setzt sich auf eine birke
alles schreit ruft polizei krankenwagen
das kind hockt auf der birke und flattert
noch tage später sitzt es da oben
man beerdigt es aber es sitzt da
und sitzt und sitzt und sitzt
und die pastoren wissen nicht was sie tun sollen


Mi 11.10.23 10:14 windig, Sonne

Auf dem schmalen Rasen zwischen Radweg und Sentruper Straße wachsen zwischen den dort stehenden noch jungen Eichen Rotfußröhrling. Ich hätte sie nur pflücken müssen, aber sie sagt, sie wüchsen zu Nah an der Straße. Wahrscheinlich hat sie recht, aber schade war's doch, sie stehenzulassen. Heute wird Roman geschrieben.


Do 12.10.23 23:12 Herbst

Von elf bis zwölf habe ich im Eingang des Kavaliershäuschen gesessen, in den Regen geschaut und einen Podcast gehört, ein Gespräch mit einem Neurochirurgen. Ich habe Tango gehört. Ich bin ums Haus gegangen und habe den Fischreiher fotografiert. Ich habe Moll Flanders weitergelesen. Das Pflaster auf dem Hof reflektiert glänzend den Herbst. Ein Mann und eine Frau tauchen auf. Zwei Schirme. Sie kommen von der Burg und wollen das Rüschhaus sehen. Ich führe sie. Der Mann kennt der Unterschied zwischen Barock und Rokoko. In der Mittagspause nehme ich einen Schirm, gehe durch den Garten und fotografiere. Kurz vor halb zwei taucht eine Frau auf und möchte ins Haus. Ich führe sie. Sie ist eine Buchhändlerin, hat sich zwei Tage Urlaub von Mann und Kindern genommen, der Mann kann das, sagt sie, wohnt im Hotel Hürländer gleich um die Ecke, hat zu lesen dabei und will mehr über die Droste erfahren. Ich erzähle ihr, was ich weiß. Die nächste Stunde vergeht ohne Gäste. Ich höre den Podcast mit dem Neurochirurgen weiter, koche mir einen Kaffee, bereite mich schon darauf vor, dass niemand mehr kommt, denn jetzt stürzt der Regen, aber ein Paar Mitte Vierzig kommt doch, zurückhaltend aber aufmerksam. Im italienischen Zimmer, wo meine Führung durchs Haus endet, schlage ich den beiden vor, da ich nun Feierabend machte, ob sie nicht Lust hätten, mit mir die schweren Fensterläden zu schließen. Das gefällt ihnen. Sie wird irgendwann sagen, weißt du noch, die Führungs durch Rüschhaus, als wir die Fensterläden geschlossen haben und es so dämmrig wurde und der Gästeführer sagte, um diese Jahreszeit werde ihm manchmal ein wenig unheimlich im Haus und ich sagte, das würde es mir auch? Um fünf war ich zuhause. Habe mich ins Bett unters geöffnete Fenster, gelegt, dem Regen zugehört, über den Roman nachgedacht, Dinge notiert, die für seinen Verlauf wichtig werden könnten, bin aufgestanden, habe mir Yesterday angehört und nachgespielt. Ich freue mich auf den November. Da kann ich von früh bis spät Roman schreiben, der unter Umständen "Roman über Herrn M., der keinen Romane mehr schreiben will" heißt.


Fr 13.10.23 18:40 unangehm warm windig

Im Bus sitzt ein Junge und scrollt. Er mag 12 sein. Gegenüber scrollt eine Frau. Sie mag Mitte vierzig sein. Vorn sitzt ein Blonde mit rosafarbenen Fingernägeln und scrollt. Sie mag 20 sein. In der Kirche steht ein Mann und blättert die Bibel um. Er mag 50 sein. Am Himmel fliegt ein Hubschrauber. Er bringt ein Spenderorgan. Die Busse fahren jetzt nur noch alle halbe Stunde. Die Stadtwerke haben zu wenig Fahrer. Wenn es knallt, sind immer genügend Waffen da. Wenn nicht, werden schnell welche hingeschickt. Die 13 bringt Glück. Das Glück ist uralt. Der Junge sieht einfältig aus. Die Frau ist geschmacklos angezogen. Die Blonde ist völlig genervt. Der Mann in der Kirche hatte noch nie GV. Die Klimaanlage im Bus klingt wie ein startender Hubschrauber. Morgen ist auch noch ein Tag, denkt man, aber man kann sich täuschen.


So 15.10.23 16:49 falsche Sonne

Ich saß auf dem Sessel und stimmte meine Ukulele. Um besser hören zu können, schaute ich ins Nichts, und da sah ich den kleinen roten Tan-Generator, der seit einem halb Jahr verschwunden war. Er lag in der Ecke unter der Heizung. Ganz still und sich ein bisschen schämend schaute er zu mir herüber. Ich stand auf, und holte ihn. Du kommst auf den Elektromüll, sagte ich, ich habe längst einen neuen gekauft, der QR Codes lesen kann. Betrübt warf er ein, er könne aber doch nichts dafür, dass ich ständig Dinge herumliegen lasse, die dann nicht mehr auffindbar wären. Ich solle nur mal an meine fünf Brillen denken, von denen drei, meist vier, bei Panikatacken alle fünf sich verbargen. Ich musste ihm Recht geben und werde ihn also als Relikt einer vergangenen Zeit in irgendeinem weiterleben lassen. Eine falsche Sonne wirft ihr Licht ins Zimmer. Wollwäsche hängt zum Trocknen auf einem Ständer vorm CD Regal. Es ist frisch hier drin, ich könnte heizen, tu es aber nicht. Ich höre Iron and Whine und improvisiere auf der Ukulele. Ich habe bis elf geschlafen und bis drei im Bett gelegen. Langsam weicht meine Müdigkeit.


Do 19.10.23 recht mild, zum Nachmittag ein wenig schwül

Die Saison endet Ende Oktober, aber für mich war heute das letzte Mal. Ich hatte mit einem ruhigen Tag gerechnet, stattdessen fünf Führungen, fünf Stunden Stehen, Reden, Kommunizieren, eine Gruppe Studium im Alter, 17 Menschen, die man nur mit Mühe durchs Haus bringt, weil immer einer lahmt, einer hinterher hängt, zwei Dreiergruppen, Frauen, 22 Gruppe Frauen einer internationalen Frauenvereinigung, vielleicht Rotarier, ich hab's nicht richtig mitbekommen, großzügig jedenfalls und zum Schluß noch einmal drei Frauen. Insgesamt 45 Frauen, standing ovations, 145 Euro Trinkgeld, 100 allein von den "Rotariern", Frauen aus Deutschland, Holland, England und Frankreich. Jetzt lahme ich auf den Hüften, der Kopf ist leer, aber der Adrenalinspiegel hoch. Ab Anfang nächster Woche ist freie Bahn für den Roman.

21:29

Ich bin auf Empfang, habe aber das Schreiben in den letzten Tagen ruhen lassen, weil es sehr anstrengend ist und mir so vieles durch den Kopf fliegt, das zunächst nur als Notiz taugt. Wenn es wieder ans Schreiben geht werde ich sehen, ob ich mit diesen Notizen weiterkomme. Ich bin optimistisch. Ich habe soviel Text in der Hinterhand, dass ich einen 1000 Seiten Roman draus machen könnte, tu ich aber nicht, 1000 Seiten nerven. Ich schätze, ich werd's auf die üblichen 300 plusminus bringen und gut is.


Fr 20.10.23 12:51 kräftiger Regen

Heute fahren wir nach Essen, um im Grillo Theater Thomas Vinterbergs Sozialsatire "Rausch" zu sehen. Bis dahin stilles Ruhen, denn der Vortag klingt nach, die Erholungsphasen werden länger. Ob ich im nächsten Jahr als Gästeführer arbeite, weiß ich noch nicht, ich bin dafür und dagegen, aber es ist ein so verdammt schöner Job, dass man die Mühen vergessen möchte. Als ich einer Kollegin von meinem gestrigen Trinkgeld erzählte, sagte sie, sie habe beim letzten Mal 2 Euro bekommen. Das liegt nicht an der Qualität ihres Vortrages, sie ist nicht weniger kompetent als ich, pflegt aber mehr Zurückhaltung und macht keine Trinkgeld-Aquise. Ich verweise immer auf meine kleine Schale mit dem selbstgemalten Schild "Danke", die ich nach verschiedenen Versuchen neuerdings auf die Schminkkommode des italienischen Zimmers stelle, wo jeder sie sehen muss.


Sa 21.10.23 14:44 windig, wechselnd bewölkt

Essen ist mit der Regionalbahn knapp einer Stunde erreicht, bummsvoll die Bahn, eine Virenschleuder als Nachbar, ein afrodeutscher Junge, knapp sieben, der bei Zughalt von sechs runterzählt und sich ärgert, wenn er bei Null nicht losfährt, wir sitzen oben, das grüne Land fällt zur Nacht und wir fahren ins Ruhrgebiet ein. Treppab und links Richtung Zentrum, das Grillo Theater kaum fünf Minuten entfernt. Aber es ist noch früh und wir finden ein Restaurant. Leo's Casa, ein Italiener. Es ist entsetzlich laut da drin, die vielen Menschen schreien gegeneinander an, aber die Pizzen aus dem Steinofen sind super. Kurz nach sieben betreten wir das Grillo Theater, ein sehr schönes, mittelgroßes Haus. Wir müssen die Wendeltreppe hoch, halb oben fällt mir auf, dass es einen Fahrstuhl gibt, aber zu spät. Drei Stockwerke, glaube ich. Ich pruste. Der Mann, der die Karten checkt, sagt, geht mir auch so. Wir haben Plätze auf dem Rang. Ganz bequem da oben und mit guten Blick auf die karge Guckkastenbühne. Ich habe meine Hörgeräte dabei, ich habe das Telefon ausgestellt, das Licht verlöscht und die in der SZ gepriesene Inszenierung von "Rausch" nach einem Oscar prämierten Film von Thomas Vinterberg mit Mads Mikkelson beginnt. Ein Sportlehrer animiert das Publikum zum Aufstehen und Armschwenken. Das muss ich nicht haben. Er springt klamaukig herum. Und so geht das weiter. Dialoge werden überspitzt, mit unpassenden Gesten garniert, so dass ich langsam das Gefühl bekam, der Regisseur Armin Petras traute dem Tex nicht. Die Schauspieler deklamierten oft überlaut. Videos werden eingespielt, viele Szenen mit Choreographien überspitzt. Die Leute lachen, ich fand's nicht lustig, und der konstruierte theoretische Überbau mit Bezug auf den Philosophen Kierkegaard machte die Sache nicht besser, so dass wir nach anderthalb Stunden in der Pause beschlossen, heimzufahren.


22:11

scheiben weise
geht es leise
einer sache auf grund
die schon lange darauf wartet
darum kriegt sie meinen mund
inclusive stimmband
zunge zäpfen luftzirkulation
und dann lass ich sie damit allein
denn sie macht das schon


Di 24.10.23 21:06

Habe 40 Seiten ausgedruckt, in die Tasche gesteckt und bin mit dem Rad ins Café nach Tilbeck gefahren. Ich konnte draußen sitzen, lesen, streichen und wurde in Frieden gelassen.


Do 26.10.23 12:39

Der Busfahrer ist mittelgroß, hat einen ordentlichen Bauch, ein freundliches Gesicht, wirkt aber, wenn er aus seinem Bus steigt, sich eine Zigarette anzündet wie Süchtige sich Zigaretten anzünden, in den Berlin Kiosk geht, sich einen Kaffee kauft, wie jemand, der jederzeit einen Infarkt kriegen könnte. Er wäre wohl lieber zuhause. Um 23:35 sollte er weiterfahren, aber er hat Zeit. Er schob sich, als ich letzte Woche zum ersten Mal mit der R64 nach Hause fuhr, eine CD in den Player. Um 23:40 fuhr er los und rauchte zum Fenster hinaus. Saxophonmusik, bei der Ahnungslose glauben, aha, Saxophon, das muss Jazz sein. Gestern abend traf ich ihn wieder. Gleiches Prozedere, nur dass er sich diesmals keinen Kaffee kaufte, sondern in der Spirituosenecke des Berlin Kiosks verschwand, um gleich darauf eine Flasche, die er in eine schwarze Plastiktüte geschoben hatte, zu bezahlen. Die verstaute er neben seinem Busfahrersitz und schob eine CD in den Player. Klassik für Eddy van Halen Liebhaber. Für Elise. Die vier Jahreszeiten von Vivaldi. Heilloses Gitarrengefudel. Auch diesmal rauchte er, was mich bewog, ebenfalls zu rauchen, elektrisch zwar, aber immerhin, ich fühlte mich animiert und sicher. Mit entspannten vier Minuten Verspätung fuhr er schließlich los. Sein Ziel ist der Havixbecker Bahnhof, vermutlich sein Schichtende. Was für eine Flasche in der Tüte war, kann ich nur vermuten, tippe aber auf Vodka, denn ein anderer Fahrgast verabschiedete sich in Roxel, wo wir gemeinsam ausstiegen, mit einem freundlichen "na dann gute Fahrt nach Moskow oder Warschau, worauf der Busfahrer lachte und einen guten Abend wünschte.


Fr 27.10.23 10:04 grau und regnerisch

Damit ich später sagen kann, dann und dann hat das wieder angefangen, verorte ich den ersten Satz des neuen Romans auf Anfang Oktober. Mittlerweile sind 44 Seiten entstanden, jede davon mehrfach überarbeitet, sodass ich heute Seite 45 ff. in Angriff nehme. Soviel für die Akte.


So 29.10.23 23:03 ungemütlich, teilweise feucht

fall in schlaf
die schlächter schlachten
schließ die augen
was die tage brachten
hast du schwarz auf weiß
auf ja auf nein
schlafe ein


Mo 30.10.23 14:55 es bezieht sich

Nach der UN-Resolution zu Israel monieren viele Menschen, dass die Solidarität mit Israel über dem Völkerrecht stehe. Who the fuck does Israel think they are? A chosen people? postete ich. Es dauerte keine zehn Minuten, bis jemand, den ich aus der Nachbarschaft meiner Jugend kenne, er ist ein paar Jahre jünger als ich, Journalist und Leiter der Arche in Berlin, meinen Post kommentierte: Du bist ein widerlicher Antisemit und darin eins mit AfD und Schlimmerem. Das war mir neu, passt aber zu dem Wegducken, mit der die BRD sich bei Verabschiedung der Resolution der Stimme enthalten hat. Wir haben den Holocaust im Nacken, sind weltführend in grauenhafter Menschenvernichtung, da sagen wir besser nichts. Ich kann das verstehen, aber es erklärt nicht die Lage, und so ist es kein Wunder, dass man sein Gewissen damit beruhigt, in dem man jemanden, der etwas Abweichendes sagt, beleidigt. Sofort ist man auf der sicheren Seite. Man ist ein guter Mensch. Ich weiß einiges über die Entstehungsgeschichte Israels, ich habe in einem Kibbuz gearbeitet, ich weiß über die Komplexität des Problems und möchte für kein Geld in der Welt in der Haut eines Israeli stecken, denn die Lage dort ist derart verfahren und aufgeladen, dass ich befürchte, dass, falls es zu einem weltweiten Krieg kommen sollte, er dort seinen Anfang nimmt. Wir brauchen Klartext. Völker, die sich für auserwählt halten (wir waren ja auch einmal eines) neigen zur Menschenverachtung. Das tue ich nicht. Ich bin nur ein widerlicher Antisemit, was mich traurig stimmt. Ich hätte mir den Post natürlich sparen können, aber ich war und bin empört, dass das Regime in Israel mit dem Verweis auf den Holocaust jede abweichende Meinung auf der Stelle diffamiert. Die amerikanische linke Voice of Jews Bewegung (in den USA leben etwas gleich viele Juden wie in Israel), nennt die völkerrechtlichen Verstöße Israels einen Genozid. Das scheint in der westlichen Welt (und in Deutschland schon gar nicht) nicht in die politische Bewertung des Problems einzufließen. Wo also liegt die Lösung? Mein Herz schlägt für ein Land, in dem Israelis und Palästinenser gleichberechtig leben und arbeiten können. Aber das ist Utopie. Zunächst gehören Hamas und Israel wegen ihrer brutalen Verstöße gegen UN-Resolutionen und Missachtung der Menschenrechte vor den Internationalen Gerichtshof in Den Hag.


Di 31.10.23 trüb

Lieber Herr Mensing,

im Sommer 2024 soll im ... Verlag ein kleines Buch aus der Reihe „....“ für Katzenliebhaber erscheinen. Dieses Buch ist eine Broschur mit 20 Seiten im Format 10 x 14 cm mit 20 Seiten zum gebunden Ladenpreis von 2,95 €. Die geplante erste Auflage liegt bei 10.000 Exemplaren. Der Inhalt setzt sich aus Gedichten und Aphorismen zusammen, u.a. von Victor Hugo, Guy de Maupassant, Heinrich Heine, Colette, Charles Baudelaire u.v.m. (alle honorarfrei, da lange tot)

Hierfür möchte ich Sie um das Abdruckrecht des unten stehenden Gedichts auf einer Doppelseite bitten. Für die erste Auflage kann ich Ihnen ein Honorar von 75 € anbieten, das entspricht den bei uns üblichen 5% vom Verlagsnettoerlös, heruntergerechnet auf den Seitenanteil. Für jede weitere Auflage würden Sie eine weitere Rechteanfrage erhalten. Da wir bei dem Format eine festgesetzte Zeilenzahl von 22 Zeilen/Seite vorgegeben haben, könnte der Umbruch wie folgt aussehen, es sei denn, Sie möchten den Text (vielleicht in den letzten sechs Zeilen auf der linken Seite?) anders umbrechen oder dem Gedicht noch einen Titel geben?

Tja, Heine und ich.