www.hermann-mensing.de

 

Hermann Mensing

Oma Maria

 

1.

Im Steigflug stechen wir durch die Wolken.
Die Motoren singen ein anderes, helleres Lied.
Das Deutschland unter uns könnte jetzt Afrika sein.
Oder Amerika. Oder irgendein Land.
Ich nenne es: Wolkenland.
Der Pilot sagt: Unten ist Dinkelsbühl.
Gut. Dinkelsbühl also. Da waren wir schon einmal.
Wisst ihr das noch.

2.

Wir zählen die Maschine zu Boden.
Bei dreißig, sagen wir, ist sie unten.
Das stimmt.

3.

In München warten wir lange, eh die Maschine nach Athen starten kann.
Die Beschleunigung ist atemberaubend.
Ich schwöre, nie wieder in ein Flugzeug zu steigen.

4.

Wir sehen den Brenner.
Wir sehen das italienische Voralpenland.
Wir sehen Venedig.
Ancona: Wir essen. Wir trinken.
Wir mutmaßen.
Wir sagen: das muss Korfu sein.
Da unten, das könnte Korinth sein.

5.

Beim Landeanflug wird die Maschine von der Thermik geschüttelt.
Es poltert dumpf.
Die Piloten korrigieren den Anflug.
Wir zählen die Maschine zu Boden.
Bein fünfzig, sagen wir, ist sie unten.
Das stimmt auch diesmal.

6.

Wir sagen: wir sind in Athen.
In der Halle spielen wir Ball.
Die Passkontrolle beginnt.

7.

Brütend die Hitze.
Jan und Max ziehen sich um.
Diskussionen mit den Taxifahrern.
Wir fahren.
Athen ist eine Müllhalde.
Wir erreichen den Busbahnhof.

8.

Lange Verhandlungen über den Preis für zwei Taxen nach Zachloritika.
Die Straße stadtauswärts ist dicht befahren.
Nach ca. 30 Minuten wird es besser.
Wir rasen.
Ein Taxi vorneweg, eines hinterher.
Wir hinterher.
Autos überholen links und rechts.
Viele sind hoch beladen.
Schlafzimmer, Küchen, Gartenmöbel, Knoblauch.
Alles wird transportiert.

9.

Zachloritika.
Nachbarn stehen vorm Haus.
Ich zahle die Fahrer.
Ich gebe ihnen Trinkgeld.
Wir betreten das Haus.
Es ist klein.
Es ist nett hergerichtet.
Wir steigen die Wendeltreppe hinauf.
Wir öffnen die Tür.
Wir betreten eine Baustelle.

10.

Max will weg.
Seine Enttäuschung ist groß.
Chris und Jan geht es auch so.
Ich flüchte mit Max zum Meer.
Seine Wogen glätten.
Wir prüfen die Temperatur.
Max atmet auf.
Ich trinke Bier. Max Cola.
Ich telefoniere nach Gronau.
Wir kehren zurück.
Kunstfahrt: Ich auf dem Mountainbike, Max auf meiner Schulter.
So fahren wir durchs Dorf.

11.

Gerda hat ein Bett besorgt.
Alle haben aufgeräumt.
Ich feuchte den Boden an, um Staum zu binden.
Wir richten uns ein.
Schließlich gehen alle zu Dimitris.
Wir essen.
Wir trinken Wein, der aus einer Colaflasche in der Kühltheke kommt.
Oma Maria und ich, wir sagen, wir duzen uns.
Christina, sagt Oma Maria zu Chris.
Welch ein Irrtum!

12.

Kein Zweifel: wir sind betütert.
Wir fühlen uns schon viel besser.
Der erste Schock geht.
Wir sitzen noch eine Weile vorm Haus.
Ich weiß nicht, wer eher schlafen geht.
Durch meine Träume rasen Motorräder mit schreienden Motoren.
Zachloritika gegen drei Uhr: so nah an einer Autobahn habe ich noch nie geschlafen.
Zachloritika eine Stunde später: Motorräder. Lastwagen.
Bald das Lamm, die Hähne, die Glocken der orthodoxen Kirche eine Straße nordöstlich.
Fünfzig Meter.

13.

Frühstück?
Ja. Gerda und ich fahren nach Diakophto, einkaufen.
Keiner weiß, was denn so richtig.
Planlos wird dies und das in den Korb gelegt.
Halbe halbe, schlage ich vor.
Da weiß Gerda nicht so genau.
Meine Kinder trinken ja keine Cola, sagt sie zum Beispiel.
Komm, Gerda, sage ich, wie soll das denn gehen, wenn nicht halbe halbe.
Du kennst meine Mutter nicht, sagt sie.

14.

Das Meer.
Vorsichtige Bekanntschaft zunächst.
Aber ich spüre schon, dass ich es liebe.
Und die Berge hinterm Meer: alle stehen da, nur für mich.
Eine Tages will ich hinauf.

15.

Der Ouzo kommt mit einem kleinen Teller Tintenfisch, Tomate, Gurke, kleinem Würstchen vielleicht.
Nicht wahr?

16.

Oma Maria addiert jeden unserer Sätze zur Summe.
Sie weiß längst, dass sie uns empörend findet.
Wir wissen gar nichts.
Aber es ist abgesprochen: nach einer Woche werden wir weitersehen.

17.

Dimitris Michopulos.
Installateur.
Mitte Fünfzig.
Graublond.
Hager.
Keine Schneidezähne.
Mit seiner Frau führt er die Taverne unter dem großen Baum.
Neben dem Brunnen.
Es ist Samstag.
Wir sind dort.
Unsere Jungen flippern.
Chris und ich trinken Selbstgemachten.
Kalt, fruchtig.
Fröhlich macht er uns.
Vom Nachbartisch wird neuer geschickt.
Wir prosten hinüber.
Die Griechen mögen uns.
Ich nehme meine Oberkieferprothese heraus und lache Dimitris an.
Der stutzt.
Dann lacht er und klopft auf meinen Oberschenkel.
Mehr Wein.

18.

Im Schlaf war alls gut.
Dann orthodoxes Geläut.
Es ist wenig heilig.
Eher rhythische Gebimmel, man gewöhnt sich.
Ich vermeide Bewegung bis Mittag.
Max meint, er müsse nun doch nicht mehr weg.
Mal sehn.

19.

Das Meer trägt mich mich.

20.

Oma Maria ist entsetzt.
Der Mann muss hier weg, sagt sie zu Gerda.
Besoffen bis Mittag im Bett.
Und die Kinder: Egoisten.
Du tickst ja nicht richtig! sagt Gerda.
So spricht sie mit ihrer Mutter.
Schon vorm Abflug. 
Wir sollen ihre Mutter nicht ernst nehmen, rät sie.

21.

Das Meer könnte mein Freund werden.

22.

Oma Maria sammelt Kiesel.
So herrliche Kiesel gibt es nirgendwo sonst, behauptet sie.
Ja, ja.
Chris hat sie erzählt, im Keller habe sie eine Flasche Wein, noch von ihrem Mann.
Der Pastor meine, die wäre wohl 500 Mark wert.
Ja, ja.

23.

Am Weg vom Meer zum Dorf wachsen Oliven, Zitronen, Quitten, Orangen.
In einem Garten bellt ein Hund.
Chris freundet sich mit ihm an.
Überall halbfertige Häuser.
Unten oft bewohnt.

24.

Am Rand eines Gartens liegt ein toter Dachs.
Er stinkt zwanzig Meter zu allen Seiten.
Abends sehe ich Jungen mit dem Rad dorthin fahren.
Sie wollen das sehen.
Sie wollen das riechen.
Sie ekeln sich. Bäh.

25.

Oma Maria fährt ein Klapprad.
Sie ist rüstig.
Sie ist fünfundsiebzig Jahre alt.
Abends, sagt sie, nimmt sie Tabletten.

26.

Woher wir kommen weiß ich nicht mehr.
Wir setzen uns vors Haus.
Stimmen drinnen.
Gerda kommt heraus.
Gerda geht wortlos davon.

27.

Aus zweiter Hand, denn ich war nicht dabei:
Chris und Jan sitzen vorm Haus.
Jan holt Lianas Gitarre.
Zupft einen Basslauf.
Oma Maria erscheint.
Dies schlage dem Fass den Boden aus! habe sie gerufen.
Dies sei nun endgültig zu viel.
Wir seien asozial, wir und die Kinder.
Chris wehrt sich.
Chris weist ihr Lügen nach!
Oma Maria geht.
Schlägt die Tür hinter sich.
Hat den Kopf noch in den Nacken geworfen.
Denkbar und wünschenswert jetzt: ein Schlaganfall.

28.

Nichts geschieht.
Gott straft nicht.
Wir sind empört.
Als Gerda kommt, steht unser Entschluss.
Wir werden ausziehen, sagen wir.
Gerda antwortet: das ist auch besser so.
Gerda antwortet: das ist auch besser so!!!
Dann beginnt sie, nach Auswegen zu suchen.
Ihre Mutter solle weg.
Das wäre nicht das erste Mal, dass sie Leute vergrault.
Ihre Mutter könne vielleicht nach Patras zu Verwandten.
Erst mal für eine Woche.

29.

Chris und ich auf dem Rad unterwegs.
Im Hotel Afrika sind keine Zimmer frei.
Im Fantasy sehen wir uns Zimmer an.
Unterm Dach, mit Balkon.
Eine Aussicht über das Dorf, über die Bucht.
Auf gleicher Höhe mit Schwalben.

30.

Die Oma ist heute noch nicht aus dem Haus gekommen.
Wir verdrängen.
Wir übersehen.
Wir versuchen, so zu tun.
Wir machen das Meer zum Verbündeten.
Wir si
nd gar nicht da? - Nein.

31.

Jan und ich kommen von einer Radtour zurück.
Ich muß zur Toilette.
Als ich fertig bin, kommt mir Oma Maria entgegen.
Sie will ins Bad.
Ich warne sie.
Sie solle besser einen Moment warten.
Sie spricht nicht, dreht aber um.
Und noch etwas, sage ich ...

32.

Wir beleidigen uns.
Oma Maria hat einen Vorteil: sie zieht Kraft aus Bosheiten.
Mich schwächt Böses.
Mich verfolgt es.
Schon als Gedanke macht es mich krank.
Ich will nicht vergeben.

33.

Max weint, Jan weint, Chris weint.
Ich treibe zur Eile.
In einer Viertelstunde ist unser Gepäck gepackt.
Wir gehen ins Kafenion.
Wir sitzen ratlos für einen Kaffee.
Wir bestellen ein Taxi.
Es kommt schnell.
Wir fahren davon.

34.

Very good! sagt Ahoi und klopft auf ein Weckradio.
Es dudelt griechischen Pop.
Very good!
Ahoi ist Manager des Hotels.
Groß, tiefe Stimme, mit Pomade zurückgekämmtes Haar.
Gern auch: dunkle Sonnenbrille.
Wir atmen auf.
Wir betreten den Balkon des Hotels.
Wir sagen: schaut euch das an. 
Gefällt euch das?

35.

Probeschwimmen mit Max vorm Hotel.
Ich trete auf einen Seeigel.
Die alte Frau (Ahois Frau?) entfernt den Stachel.
Doktor! sagt sie lachend.

36.

Tamarinden, Jasmin, Oleander, eine Dattelpalme auf dem Weg zum Bäcker.
Der Blick rundum vom weiß getünchten Balkon. 
Die niedrige Brüstung.
Manchmal ein Zug, den wir nach langem Starren auch sehen.

37.

Haben wir alles richtig gemacht?
Ja, sagt Jan.
Wir hoffen, dass nun unser Urlaub beginnt.
Dabei hatten wir schon drei aufregende Tage.
Unvergessliche Tage, wie man so sagt.

38.

Jeder wünscht Oma Maria den Tod.
Also Griechenland: ohne Oma Maria, ohne Gerda.

 

start

zurück