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Hermann Mensing

Poplife auf dem Kiez

Meine Leute sagen, ich bräuchte kein Navigationsgerät, ich hätte von Tokio bis Rio de Janeiro, von Bombay bis Kairo noch immer alles gefunden, aber die Berliner Buchhandlung meines Vertrauens, in der ich lese, liegt auf der Falckensteinstraße im äußersten Kreuzberg, die Oberbaumbrücke ist in Sichtweite, das Ende der Welt, damals, vor fast genau 20 Jahren, ich muss also quer durch die Stadt, mein Stadtplan war nirgendwo aufzutreiben, dann traf ich die dicke Hannah, und die lieh mir ihr Navigationsgerät.

Ich weiß, wie es damals in dieser Gegend aussah. Die Depression war mit Händen zu greifen, das SO 36 gleich nebenan, Nick Cave einer der Helden und Wir sind das Volk auf der anderen Seite der Spree, von nur einem Wunsch beseelt: endlich dazu zu gehören.

Nun gehört es seit 20 Jahren dazu, obwohl ich der Lektorin des Aufbau Verlages, die ich ein halbes Jahr vorher besuchte, noch viel Erfolg für den Aufbau einer reformierten DDR wünschte. Mein Volk war das also nicht, und der Wunsch, mein Volk zu besuchen, wurde in mir nie so recht wach.

Diesmal aber, nach über dreistündiger Fahrt auf der Autobahn Richtung Berlin, juckte es mich. Bei Ziesa, ein Städtchen am Rande des Hohen Fläming, entschloss ich mich, die Autobahn zu verlassen und die letzten achtzig Kilometer bis an den Stadtrand Berlins, wo ich Freunde habe, über Land zu fahren.

Ich gab dem Navigationsgerät die Anweisung, die Route neu zu berechnen und machte mich auf den Weg. Die Welt wird sofort zutiefst menschlich, wenn man die Landstraße erreicht. Sie wird auch ein wenig gefährlicher, denn es gibt scharfe Kurven und Gegenverkehr, es gibt Alleebäume, und einer wie ich schaut natürlich nach links und nach rechts und freut sich, wie schön sie ist. An den Alleebäumen Wahlwerbung, und das Navigationsgerät stösst jedes Mal, wenn ich die vorgeschriebene Gechwindigkeit überschreite, eine Trompetenfanfare aus. Und wie fern auch, diese Welt, in Rottock, wo die Dorfstraße noch nicht asphaltiert ist, in Götzke, wo mich zum Ortseingang Katies Imbiss lockt, anzuhalten, auszusteigen und zu pausieren, der Kaffee zu achtzig Cent, Katie in schwarzem Gothic Outfit.

Vor Belzig beginnt der Aufbau Ost zu greifen. In Benken und Leibniz sind die Häuser zunehmend aufgehübscht, getüncht, wenngleich die Dörfer tiefe Vergangenheit atmen und ich mir die Frage stelle, warum wir das ganze, während der DDR heruntergewirtschafte und danach mit der Aufbauhilfe Ost renovierte Land nicht unter Denkmalschutz stellen, jedem Einwohner eine Tätigkeit zuweisen, in ein Kostüm kleiden, ihm ein monatliches Einkommen zahlen und Eintritt verlangen, authentischer als Disney World wäre das allemal und das dumme Gerede von Heimreise statt Einreise auf den Wahlplakaten der NPD hätte sich damit erledigt, hoffe ich zumindest.

Aber die anderen Parteien sind auch nicht besser.
Gregor Gysi verspricht Reichtum für alle, Angela Merkel summt das Mantra Wir haben die Kraft, Steinmeier glaubt Unser Land könne mehr.

Je näher ich Berlin auf den Pelz rücke,
desto aufgeräumter und renovierter werden die Dörfer und dann bin ich angekommen. Ich wohne bei einem Freund, mit dem ich vor dreißig Jahren in einer Band spielte, die Groove Missiles hieß. Die große Stadt ist greifbar, der Autobahnanschluss gleich um die Ecke, wenn auch von nicht enden wollenden Kiefernwäldern verdeckt. Zugezogene Westler und Stasi Spitzel, denke ich, ein Glück, dass es Vorurteile gibt.

Einen Tag noch bis Showtime auf dem Kiez. Einen Tag durchatmen. Ich schaue mich um. Ich fahre mit dem Rad nach Potsdam und bin erschlagen, wie aufgepeppt diese Stadt ist, herzig ist untertrieben, einzig der Wochenmarkt beim Holländischen Viertel ist Alltag, alles andere buhlt um den betuchten Konsumenten und der niedergeschlagene Ossi (file under: Vorurteil) sieht längst aus wie jeder andere. Bis auf den Looser, der sieht überall gleich aus.

Die Spannung steigt. Ich finde meine Lesung in der Buchhandlung Ebert und Weber in der Berliner Zeitung angekündigt, die Konkurrenz an diesem Abend ist überschaubar, keine große Namen, aber ob mehr als zwei Zuhörer kommen?

Ich erreiche den Kiez eine Stunde vor Beginn, melde mich, esse beim Sadhu nebenan Garam Shorba, eine köstliche Suppe mit Lammfleisch, cremig, bordeauxfarben, wohl vom Safran, sitze und schaue. Man flaniert, man zeigt vor, die Straße summt, der Tag gleitet in einen kühlen Abend, aber es ist noch warm genug, um draußen zu sitzen.

Mein Auto steht in der Nähe der Oberbaumbrücke. Ich habe die Klappe zum Handschuhfach geöffnet, damit jeder gleich sieht, hier gibt's nix zu holen, das Auto ist gebraucht, das Navi ausgebaut und in der Tasche verstaut, sollten sich die Autonomen Kreuzbergs heute Abend entschließen, ihren in die Utopie gerichteten Protest anzufachen, sollen sie doch bitte die 7er BMW der toughen, durchs Viertel cruisenden Türken anzünden.

Gleich geht es los. Der Buchladen, von zwei engagierten Frauen geführt, hat sich auf die Produktionen unabhängiger Verlage konzentriert und das funktioniere, sagen sie. Und es sind auch mehr als zwei Zuhörer da. Genau genommen sind es fünfzehn, für die ich die Reise angetreten habe.

Ich hocke auf einem Schemel, das Licht ist spärlich, sodass es schwer wird, zwischen den Sätzen aufzuschauen und meine Zuhörer anzuschauen, was ich sonst gern tue, weil es zusammen schweißt, aber die Konzentration auf dem Kiez scheint hoch und so lese ich eine Stunde, frage, ob noch mehr gewollt sei, man bejaht und ich schlage eine Verschnaufpause vor.

Man ist einverstanden, niemand stiehlt sich heimlich davon, ich lese eine weitere Stunde und bade dann im Applaus. Leider generiert er in meinem Fall keine Umsätze, keine großen Gagen, aber man lobt mich und davon, so zumindest die landläufige Meinung, scheint der Künstler zu leben.

Was soll ich sagen, ich glaube noch immer, das Pop Life seine Leser findet, ich bin ein gefährlicher Schläfer, ich explodiere zu Zeiten, an denen niemand mehr mit mir rechnet, also rechnen Sie mit mir. Ich gebe nicht auf. Sollten Sie wissen wollen, was der Künstler sonst noch an brotloser Kunst produziert, klicken Sie hier- oder dorthin, es ist egal, ich bin reich an dererlei Kunst, also nur Mut.

Und dann gehen Sie in die nächste Buchhandlung, kaufen sich das Buch, dass ich aus Gründen der Bescheidenheit hier nicht namentlich nennen will, und sorgen dafür, dass Herr M. weiter produzieren kann (was er sowieso tun wird, Sie werden ihn nicht daran hindern).

Und er Kiez? -

Nun, Berlin ist letztlich nur eine Ansammlung märkischer Dörfer, und so versteht sich der Kreuzberger als Kreuzberger, der Treptower als Treptower, und der hat mit Charlottenburg so viel zu tun, wie der Charlottenburger mit dem Pankower undsoweiter undsoweiter, jeder hat seinen eigenen Kiez, und über allen kreisen die Pleitegeier der Hoffnung, nirgendwo wird so gern abgestürtzt wie hier, denn in Berlin leben kaum noch Berliner, und der schwäbische Webdesigner am Prenzlauer Berg wird von allen, die es der Stadt zeigen wollen, am meisten gehasst.

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