Hermann Mensing

Radtour mit Dame

Der große Platz der kleinen Stadt ist am Himmelfahrtstag bis auf ein paar Afrikaner, jungen Männern aus dem Nahen Osten und einem Ehepaar mit zwei Kindern wie leergefegt. Der Ehemann zieht einen rumpelnden Grill über das Pflaster. Die Afrikaner hocken auf einer Bank und rauchen. Die Männer aus dem Nahen Osten stehen diskutierend herum. Das Ehepaar nähert sich einem Café. Es heißt Nostalgiecafé.

Hier machen die Dame und ihr Begleiter nach knapp 20 Kilometern die erste Rast. Das Ehepaar kommt heran. Der Mann stellt den Grill ab, und begrüßt den Wirt. Die beiden scheinen vertraut. Die Kinder wuseln herum. Der Mann kauft ihnen ein Eis. In einem kleinen Schaufenster links neben der Tür des Cafés steht ein nickender, eisschleckender Hase. Er ist so groß wie ein Vierjähriger. Die Familie ist mit ihrem Grill auf dem Weg zur Ems. Dieser Fluss ist nicht breit. Er ist auch nicht tief, aber wie jeder Fluss hat er die Landschaft geprägt. Die Dame und ihr Begleiter wollen ihm bis zur Mündung folgen.

Es ist warm, aber nicht zu warm. Die befürchteten Himmelfahrtsradler sind noch nicht aufgetaucht. Die beiden fühlen sich gut. Sie haben sich geschworen, nichts zu übereilen. Sie haben schon eine Heide durchquert, der Ginster blühte, die Wiesen in den Auen waren voller Sauerampfer und Butterblumen, hier und da war eine gemäht und es roch so gut, dass man Kuh hätte sein wollen. Die Wolken waren bauchig. Vor einer Dorfkirche standen Eltern mit ihren Kommunionskindern, die Mädchen in Weiß, die Jungen in Schwarz.

Die Dame und ihr Begleiter zahlen, satteln auf und fahren durch eine Arbeitersiedlung leicht bergan. Später an diesem Tag werden sie eine Siedlung sehen, in der die Zeit scheinbar stehengeblieben ist, in dieser aber sind die Fassaden erneuert, die Fenster thermoverglast, hinter Gardinen recken sich an Stäben gebundene Orchideen, an den Hauswänden hängen Satellitenantennen.

Eine sehr dicke Frau quält sich von einem Friedhof kommend zu einem Auto. In einem Vorgarten repariert ein junger Mann ein Motorrad, auf einem Balkon steht eine üppige, an den Oberarmen tätowierte Frau und raucht. Links jetzt, zeigt ein Pfeil, aber die Dame ruft etwas, steigt vom Rad, und wie es aussieht, will sie ihre Jacke ausziehen.

Über eine Brück geht es in die Wintruper Berge. Kiefernwald, sandige Wege, der Fluss schlängelt sich zwischen steilen Ufern durch die Wiesen. Irgendwo ruft ein Pfau, an einer menschenleeren Birkenchaussee weist ein Schild zu einem "Sachsenhof". An einem Waldrand steht ein Schornstein ohne dazugehörige Fabrik.

Im Dorf am Fluss kann man Strom tanken und Bier trinken, aber die Dame und ihr Begleiter verschwinden lieber wieder im Grünen, wo der Weg mäandert und Rinder ihnen nachschauen. Man kann sagen, dass Radfahren sie glücklich macht. Glücklich, hungrig und durstig. Am Ende eines Hohlweges steht eine Bank. Sie wäre ideal für ein Picknick, der Blick ginge hinunter zum Fluss, sie ist aber leider besetzt. E-Biker älteren Semesters schälen hartgekochte Eier und trinken aus Thermoskannen. An einer Weggablung findet sich die nächste. Es ist eine SOS Bank, sie hat eine Nummer, darunter steht die Notrufnummer. Die wissen, dass wir alt sind, sagt der Mann. Die Dame ist beschäftigt, und tut so, als höre sie nicht. Die Dame ist sechzig. Sie hat drei erwachsene Kinder, nur Mädchen, und sie hätte so gern einen Jungen gehabt. Eines lebt in Neu Zeeland, eines in England, eines nicht weit von ihr, aber sie hört selten von ihnen. Ihr Begleiter ist kinderlos. Er war nie verheiratet. Er hat studiert, aber das Promovieren verschlafen, er besaß einmal eine kleine Galerie, ging aber pleite, er schlug sich durch, hatte eine Freundin, mit der er eine Weile in Holland lebte, dann dort eine, aber länger als ein, zwei, maximal vier Jahre hatte er es nie ausgehalten, und nun hat er diese Dame kennengelernt, obwohl er sich geschworen hatte, nie wieder etwas mit Frauen zu beginnen. Sie nennt ihn "Amateur", und "Liebling", und er weiß nicht, was er schrecklicher findet. Trotzdem glaubt er manchmal, dass er nicht ohne sie kann. Dass ihm sowas passieren musste, wo er doch auf die siebzig zugeht. Sie nennt ihn "Mann". Er sagt "Rubens" zu ihr.

Sie hat Brote geschmiert, Äpfel, Tomaten, Oliven und Gurken dabei, sie ist ein Engel der weisen Vorausschau, er nicht. Er ist das genaue Gegenteil, ein zäher Verfechter des Zufalls, ein Gegner jeden Plans, umso erstaunlicher, dass die beiden tatsächlich losgefahren sind. Trotzdem hat Frikadellen, Wasser und Wein für den Abend in seinen Satteltaschen. Eine Lärche steigt in den Himmel. Kiebitze zickzacken über einem Feld. Drei wie Tour-de-France-Fahrer gekleidete mittelalte Männer kommen in hohem Tempo von rechts einen Hügel hinab, sehen die Weggabelung viel zu spät und verbremsen sich.

Die Oliven sind köstlich, sagt die Dame. Probier mal. Die Dame braucht ständig Bestätigung. Ganz gleich, was es ist, ob sie es nur gekauft oder vielleicht sogar gekocht hat, man muss es loben. Das tut er ungern. Die E-Biker tauchen auf und stellen ihre Räder ab. Sie grüßen und verschwinden verschwörerisch nickend in den Büschen, als hätten sie einen Auftrag. Als sie zurückkehren, hält der Mann eine Dose in der Hand. "Ah", sagt der Mann, Geo-Cacher?" Er nickt und die Frau sagt, wir sollten nichts weitersagen.

Wir haben schon ein paarmal die Flussseite gewechselt, augenblicklich fahren wir links vom Fluss und Frau E. fragt, ob man links und rechts des Flusses von der Mündung flussauf, oder von der Quelle flussab definiert. Flussab, sagte ich. Wir verlassen die Wiesen, das Grün und die Ruhe für die Durchquerung der nächsten Stadt, überqueren aber bald schon wieder den Fluss über eine Fußgänger- und Radfahrerbrücke, die sich näherende Bootsfahrer mit bunten, automatisch sich trimmenden Segeln,empfängt.

Mitten im Wald stehen Schützen vor einem Mahnmal und warten ungeduldig darauf, endlich mit dem Trinken beginnen zu dürfen. Wir schleichen uns an ihnen vorbei. Wir sind wieder in Kiefernwald, Kiefern und Heide. Alles riecht nach Sommer im Elter Sand.

An der Bockholter Fähre gibt es Kaffee, selbstgebackenen Kuchen und einen bärtigen Kapitän, der die Fähre, die knapp 10 Räder trägt, an einem über den Fluss hängenden Stahlseil zieht. In Elte hat jemand eine gelbe Telefonzelle zu einem Marienaltar umfunktioniert. Die Blumen darin sind frisch. Am Ortsrand ist die Arbeitersiedlung, von der ich schon sprach. Es sind grau verputzte Reihenhäuser an einer Straße, die in leichtem Linksbogen abwärts führt, sozialer Wohnungsbau des frühen 20. Jahrhunderts. Hinter jedem Haus ist ein kleiner Garten. Die Fabrik steht am Fluss, eine Textilfabrik höchstwahrscheinlich, denn das war die dominierende Industrie im Westen Westfalens.

Wir folgen dem Fluss durch die Stadt, ohne sie zu berühren. Er ist zurückgestaut, recht breit, der Weg ist idyllisch, man würde hier jeden Abend spazieren gehen, falls man hier lebte. Kanuten üben an einer Grundschwelle das Wildwasserfahren. Am Ende dieses Weges liegt das Kloster Bentlage. Es ist längst kein Kloster mehr. Hier wird Kunst ausgestellt, es finden Konzerte statt, man kann essen, trinken und wohnen.

Wir haben ein Zimmer im dazugehörigen Bauernhaus gebucht, in dem Druckwerkstätten untergebracht sind und Künstler wohnen und arbeiten. Es riecht nach Farbe. Unser Zimmer ist klein, es sind zwei Doppelstockbetten darin, das Fenster öffnet sich zu einer Wiese. Auf ihr steht eine lichtgrün flirrende Zeder, und im Schatten von Buchen liegen braunweiße Kühe im Abendlicht. Sechzig Kilometer liegen hinter uns, nichts ist wund, nichts tut weh. Ich hatte drei Flaschen Wein in die Satteltaschen gepackt. Für die nächsten Abende je eine. Kloster Bentlage ist wahrscheinlich der idyllische Höhepunkt der zu erwartenden Unterkünfte auf unserem Weg nach Emden, wir werden sehen. Wir gehen spazieren, wir atmen salzhaltige Luft unter der Saline Gottesgabe, wir sitzen vorm Haus, wir essen und trinken, und als wir uns schlafen legen, ist kein Wein mehr da.

2. Tag

Unsere Durchschnittsgeschwindilgkeit liegt bei 14 KmH. Das macht knapp 5 Stunden für 64,5 Kilometer inklusive drei Pausen, die wir gestern zurückgelegt haben. Wir werden auch heute nicht eilen. Ich bin gerade erst aus dem Bett. Ich habe unruhig geschlafen. Das Fenster war weit geöffnet und es scheint, dass meine Sinne so eine Ruhe nicht gewöhnt sind. Sie schlafen nie, und haben sich Mühe gegeben, mich jederzeit warnen zu können. Ich dusche. Ich stelle mich auf das linke Bein und recke mich, als wolle ich in den Himmel. Das wirkt.

Frühstück gibt es im Kloster. Eine fragile Fünfzigerin mit schwarzgrauem, bis auf Höhe der Kinnlade geometrisch geschnittenem Haar flattert fahrig herum und bedient. Es macht ihr sichtlich Mühe, aber ihr gefällt, es den Gästen recht zu machen, sie lächelt, was das Zeug hält. Das rührt mich, denn eine Frau, die am frühen Morgen für überwiegend schweigende, sich nur hin und wieder räuspernde oder brummende Menschen arbeiten muss, hat es nicht leicht.

Ob der Frühstücksraum irgendwie "fürstlich" aussah, "klösterlich" oder gar "festlich", kann ich nicht sagen. Ich weiß, wo das Büffet stand, und dass es nicht sonderlich reichhaltig war, aber ob da kristallene Leuchter hingen oder ein mannshoher Kamin war, auf dessen Sims Blumen standen, weiß ich nicht. Frau E. sagt, nein, ich behaupte es dennoch, falls nicht, wäre es wünschenswert.

Zehn Minuten nach Abfahrt sind wir im schattigsten Wald, den man sich an einem sonnigen Morgen wünschen kann. Buchen mit glänzenden Stämmen und frischem, kräftigen Laub in allen denkbaren Grüntönen, Lichteffekte, die selbst Hollywood nie hinkriegen würde. Der Weg öffnet sich für eine Durchsicht zu einem Dorf. Kaum ein paar Stunden hier draußen sind Straßen und Autos aggressive Störenfriede.

Wir haben die Grenze zu Niedersachsen überschritten. Vor uns ein sanft abfallender, asphaltierter Weg durch offenes Feld, ein, zwei Kilometer lang. Hier steigt die erste Ahnung des norddeutschen Himmels auf, der viel weiter ist als der Himmel in großen Teilen Westfalens. Wir rollen. Wir werden flott. Wir haben den Tag vor uns. Wir wissen nichts, und so soll es sein. Erst einmal geht es scharf links. Manchmal sind wir der Ems ganz nah, fahren dicht neben ihr, dann wieder ist sie woanders. Hier ein Wehr, dort eine Schleuse, eine Brücke, das Halbdunkel der Rotbuchen an einem Steilufer, ein Tisch, Bänke, Picknick, aber weit und breit kein Papierkorb.

Die Ems macht eine scharfe Rechtskurve, die Böschungen werden niedriger, bald liegt sie flach im Land, auf gleichem Niveau. Es gibt viele Zeltplätze hier, und wer will, darf ahnen, dass es auch uns morgen auf einen verschlägt. Von weitem sehen wir die Kühltürme des Atomkraftwerkes Lingen. Beim Zusammenfluss der Ems und des Dortmund-Ems-Kanals passieren wir sie. Hochsicherheit überall, wir fotografieren, der Werkschutz fährt langsam vorbei und beobachtet uns. Aus einem benachbarten Stahlwerk dröhnt und scheppert es.

Haneken Fähr ist ein Wehr, das die Ems staut und ein Ausflugsrestaurant. Kleine Ausflugsdampfer liegen verträuit, eine Siedlung dicht an dicht stehender Wohnmobile ist nicht weit und auf jedem eine Satellitenantenne. Es ist wärmer als gestern. Es ist verdammt warm. Wir ketten unsere Räder an ein Geländer und trinken Kaffee auf der Restaurantterrasse.

Vater, Oma, ein Junge und ein Mädchen im Alter von sechs bis acht tauchen auf. Das Mädchen zeigt auf einen Stuhl im Schatten und sagt, ich will dort sitzen. Der Junge drängelt an ihr vorbei und nimmt ihren Platz ein. Das Mädchen steht da und schaut den Jungen so lange ernst und wortlos an, bis er kapituliert.

Das Stahlwerk scheppert in Intervallen, das AKW fliegt aber nicht auseinander. Frachtschiffe kommen um die Kurve, wo Kanal und Ems sich teilen. Die beiden verhalten sich ab hier wie ein Paar. Sie trennen sich, kommen wieder zusammen, sie trennen sich undsoweiter, bis man nicht mehr weiß, wer sie gerade sind, und irgendwann ist man am Meer. Wir merken uns deshalb: die Kanalufer sind befestigt, die Emsufer nicht.

Wir folgen einem Treidelpfad. Durch die Blätter und Äste der Eichen und Pappeln fällt mehr Licht als auf die Waldwege am Morgen. Ich fotografiere während des Fahrens nach hinten. Manchmal gibt das schöne Schnappschüsse. Meist aber nicht. Auf dem Kanal gibt es keine Sensationen. Man sieht alles schon von Weitem herankommen, nichts als freie Sicht. Ein tief im Wasser liegendes Schiff. Herkulesstauden, eine kleine Yacht, Schilf, paar Enten vielleicht, und die ganze Zeit rechts die Stadt. Sie hat eine gut ausgestattete, hochmoderne Stadtbücherei, ich habe da einmal gelesen, überhaupt lässt sich die Stadt das Atomkraftwerk gut bezahlen. Wir fahren nicht hinein, sie interessiert uns nicht. Wir sind unterwegs, und wenn das Unterwegssein aufhört, kommen wir an und lassen uns überraschen.

Als die Stadt ausfasert und dumm da steht wie alle Städte, die sich im Umland verlieren, verlassen wir den Kanal. Auch die Ems sehen wir erst viel später wieder. Stattdessen Wiesen. Große Höfe. Reiche Bauern. Ein Golfplatz. Ein Landhaus mit Porsche. Die Straßen sind schmal. Die Sonne brennt und Schatten gibt es hier kaum.

Wenn Frau E. hinter mir fährt, fällt sie zurück. Das liegt daran, dass ich hinter mir immer mit Eco 1 fahre, sagt sie. Das spart Strom. Fährt sie vor, habe ich manchmal Mühe, ihr und ihrem E-Bike zu folgen. Das Rad macht ihr Spaß. Sie hat sich's gekauft, um mit mir die Tour machen zu können. Wir schwitzen, aber unser Tagesziel ist nicht mehr weit, der Geester See. Ein Hotel in der Nähe ist gebucht. Vielleicht gibt es am Ufer ein Restaurant, vielleicht können wir am Abend Fisch essen, Weißwein trinken, Schwimmen gehen.

Der Weg durch Biene bringt uns zu einem Hinweisschild an einer nach links von der Hauptstraße abbiegenden Landstraße. Der Radweg verläuft rechts, endet vor einem Schild und geht auf der anderen Straßenseite weiter. Ein Pfeil knickt erst nach links und nimmt dann die ursprüngliche Richtung wieder auf. Wir müssen links, sagt sie. Ich widerspreche nicht, wahrscheinlich, weil ich der Hitze wegen ein wenig abwesend bin oder keine Lust habe, eine Diskussion über die Richtung vom Zaun zu brechen.

Was vorhin der Treidelpfad längs des Kanals war, ist nun ein Radweg an einer sich in die Ewigkeit ziehenden Landstraße ohne Schatten. Es geht gegen drei und wir sind seit zehn unterwegs. Frau E. mag nicht an Straßen fahren. Sie glaubt, wenn sie unterwegs ist, müsse alles Idylle sein, das sei die Welt ihr schuldig. Mir wäre ein Waldweg auch lieber, aber ich kann die Straße ertragen, vor allem aber kann ich gerade nichts daran ändern. Wald ist ja da, Kiefernwald, soweit das Auge reicht Kiefern und Birken rechts von uns hinter einem Zaun, und als wäre das noch nicht genug, füllt sich die Luft mit einem dunklen Beat, der lauter und lauter wird und zusätzlich Zweifel aufkommen lässt.

An einem Hinweisschild zum See biegen wir rechts ab. Wir überqueren weitläufige Parkplätze. Junge Menschen sind mit Sack und Pack unterwegs, Security, Umleitung. Frau E. wird unleidlich, was ich verstehen kann, mir gefällt es hier auch nicht, aber der Weg führt nun einmal dort entlang. Was ist das für ein Deich? Und wie hoch der ist. Liegt der See dahinter? Und woher kommt dieser Radau? Wir folgen dem Umleitungsschild und sehen auf der Krone des Deiches eine haushohe, aufgeblasene Gummiburg. Dahinter: Bühnen. Stroboskope und 220 Beats pro Minute.

Ich weiß jetzt, wieso wir hier gelandet sind, aber ich sage nichts. Wenn man sich einmal verfahren hat, verfährt man sich leicht auch ein zweites Mal, und dann muss man auf seine Nerven aufpassen. Am Fuße des Deiches radelnd lassen wir den Radau langsam hinter uns, bis wir an eine Weggabelung und in ein Waldgebiet kommen. Das Beste wird sein, erst einmal anzuhalten, abzusteigen und sich neu zu orientieren. Da vorn geht es nach Lingen, da wollen wir nicht hin, da kommen wir her, da hinten geht es nach Osterbrück, das kennen wir nicht, und hinter uns wummert, bumst und donnert es.

Wir fahren auf den Deich, um uns einen Überblick zu verschaffen. Die Rampe ist lang und steil, ich keuche, sie hat ja das E-Bike. Die Aussicht auf und über den See ist erschütternd. Der See ist kein See, sondern ein Speicherbecken für das Atomkraftwerk Emsland. Asphaltierte Ufer, kaffeebrauner Uferschaum, eine Segelschule, ein Sandstrand. Wir sehen Taucher, und noch weiter hinten das Festivalgelände. Hier gibt es nichts von dem, was wir erhofft hatten. Wir drehen um und fragen jemanden, wie wir auf dem schnellsten Wege nach Geeste kommen. Zu unserem Hotel.

In einer Viertelstunden sind wir in Geeste, eine Straße mit Häusern, einer Kirche und einer Konditorei, in der es geschmacksneutralen Cappuccino gibt. Aber immerhin, wir können uns setzen und diskutieren, wo wir falsch abgebogen sind, aber es ist einerlei. Wären wir dem Schild gefolgt, wären wir auch hier gelandet, und das nur, weil auf der Radwanderkarte Geester See steht, nicht Geester Speicherbecken. Auch nicht: Vorsicht, einmal im Jahr findet hier ein House, Gabba- und Techno Festival statt.

Unser Hotel liegt in Geeste-Dalum, ein Nachbardorf auf der anderen Emsseite zwei Kilometer entfernt, und wir ahnen, dass wir nun mutig sein müssen. Der Höhepunkt der Unterbringungsidylle war gestern erreicht, man kann nicht jede Nacht in einem zur Künstlerherberge umgebauten Bauernhaus übernachten und Wein trinken, aber Frau E. sieht das anders.

Frauen in ihrem Zustand muss man wie rohe Eier behandeln. Man kann es mit vorsichtigen Scherzen versuchen, muss aber wissen, dass diese die Lage dramatisch verschlechtern können. Sicherer ist, sie auf Händen zu tragen, ihnen die Welt schön zu reden und jede ihrer Unmutsäußerungen zu überhören. Ganz sicher wäre es, gar nicht erst mit einer Frau loszufahren, aber da ich sie liebe, hatte ich keine Wahl.

Ja, sage ich also, das Hotel Aepken liegt an der Straße nach Wietmarschen, aber wer fährt nach Feierabend schon noch nach Wietmarschen, außerdem, das Zimmer ist unterm Dach, das Fenster geht nicht zur Straße, es ist ruhig und groß, komm, schau es dir an, es hat ein wunderbares Bad mit Granitfließen und zwei Spülsteinen.

Ja, sage ich, im Dorf ist Schützenfest, richtig, vom Zimmerfenster kann man das Schützenzelt sogar sehen, aber der Wind weht die Geräusche bestimmt in die andere Richtung. Nein, sage ich, man darf hier nicht rauchen, aber rauch doch einfach zum Fenster hinaus. Komm, sage ich, wir trinken ein Bier. Wir essen. Wer sechzig Kilometer Fahrrad fährt, muss Essen und Trinken.

Das Murren verebbt. Wir essen, und das gar nicht schlecht. Dann biegen König, Königin und Hofstaat um die Ecke, um im Gasthof zu speisen, was beweist, dass wir im ersten Hause am Platz wohnen. Der König ist um die Dreißig, die Königin ebenso, man ist groß und korpulent, alle sind irgendwie groß, blond und korpulent, auf Brust und Rücken des Königs klappern Orden und Auszeichnungen einer Amtskette.

Jetzt muss ich nichts mehr schön reden, jetzt können wir uns die Mäuler zerreißen über den Mann mit den weißen Froteesocken und die Frau mit dem Atombusen und dem schmalen Mund am Nebentisch, E-Bike Rentner aus Hamm. So wird Geeste-Dalum real, und das ist es doch, was wir wollten, oder, wir wollten die wirkliche Welt mit dem Rad erobern, hier ist sie. Dazu gehört das Geester Speicherbecken ebenso wie das Dalumer Schützenfest. Und morgen? - Wir werden schon sehen.

Der Chef geht von Tisch zu Tisch, um seine Aufwartung zu machen. Auch er ist groß, blond und korpulent, ein jovialer Mann, der uns erklärt, dass man im Emsland auf Scheiben schießt, nicht auf Vögel, und dass er im Gegensatz zum König der Schützen ein Leben lang König sei und die Verantwortung trage. Wir wissen das zu schätzen und erobern das Dorf, die Kirche, den Friedhof. Wir schauen zu, wie König, Königin und Hofstaat ins rotweiß geschmückte Festzelt einmarschieren, während die Cadillacs dazu spielen und merken uns, dass die Welt überall schön ist.




3. Tag


Schade, dass man kaum mehr als ein, zwei Brötchen zum Frühstück hinunter bringt, sonst könnte man auf Vorrat essen, denn wer weiß, wann es wieder etwas gibt in den Weiten des Emslandes. Andererseits - volle Bäuche mögen nicht gern in die Pedalen treten, und geschmierte Brötchen in der Tasche verschwinden lassen macht keinen guten Eindruck. Kaffee und Säfte hingegen kann man literweise trinken, ein Ei und ein bisschen Lachs schafft man auch, und Früchte, na ja, die Früchte der Frühstücksbuffets in Hotels sind in der Regel blass und geschmacksneutral. Immerhin hat man sein Tablett an einen Tisch im Garten getragen, es ist schönstes Wetter, da ist es schwer zu verstehen, wieso die übrigen Hotelgäste drinnen sitzen, und natürlich hat man hier draußen noch einen nicht zu unterschätzenden Vorteil, wenn man mit einer Raucherin unterwegs ist. Zudem kann man interessante Unterhaltungen über die heimische Vogelwelt (hier: Singdrossel ja oder nein) führen.

Als ich unsere Räder aus dem Schuppen hole, fällt mir wieder das Schlagzeug ins Auge, das dort verstaubt und ich frage mich, wem es gehört und ob es je genutzt wurde. Ich würde es gern anspielen, so wie ich jedes mir begegnenden Klavier kurz anspiele, aber ich finde keine Schlagzeugstöcke. Schade, ein kurzes Schlagzeugsolo am Morgen kann sehr erfrischen, aber es geht gegen neun, wir haben gezahlt, die Welt wartet.

120 Kilometer bisher. Für Frau E. soll es natürlich rote Rosen regnen, morgens, abends und jederzeit, aber die ersten zwei Kilometer des Tages folgen wir einer geschäftigen Bundesstraße. So etwas beleidigt sie, man sieht es in ihrem Gesicht, aber ich kann sie beruhigen, gleich fahren wir links, rufe ich, und gleich wieder rechts, mitten hinein in die Emsauen, UND als wäre nie etwas gewesen, fassen wir Tritt.

Wir müssen unsere besten Teile neu mit dem Sattel versöhnen. Man rutscht ein wenig hin und her, man steht auf, man setzt sich wieder, dann, plötzlich, geht es. Der Himmel ist reine Unschuld, milchig und blau. An so einem Tag schaffte man ohne Probleme 80 Kilometer, dann wäre man schon morgen in Emden und könnte zur Insel, aber das behält man für sich, und hofft, dass es wieder 50 bis 60 werden. Man zuckelt. Mal ist man auf freiem Feld, dann wieder verschattet, man staunt, dass ein Grieche nicht davor zurückschreckt, zwischen Groß- und Klein Hesepe ein Restaurant zu eröffnen, das er in seiner Verzweiflung Thessaloniki nennt. Heimweh ist eine schlimme Krankheit. Klein Hesepes Kirche ist so groß wie ein Wohnzimmer, der Samstagmorgen ist hier wie überall, man gibt sich Mühe, der herzzerreißenden Stille, die über diesem Land liegt, mit auch im urbanen Raum gern genutztem Gartengerät zuleibe zu rücken.

Rote Rosen, natürlich soll es für sie rote Rosen regnen. Ich habe ja alles arrangiert. Am Fluss stehen Rinder und Fischreiher. Ich würde gern schwimmen, aber ich tue es nicht, weil ich vor fremden Gewässern großen Respekt habe. Meppen taucht auf, ein Fernmeldeturm, Reitergestüte, man sieht und man riecht sie, und zum Glück riechen sie um vieles besser als Schweinezuchtbetriebe. Den letzten, unter von Efeu umrankten Eichen zurückgelegten Kilometer sind wir einem Kreuzweg zum Gedenken an unsere Vergangenheit gefolgt. Das ist gut so, man muss daran erinnern, die Schrecken reichen bis in die Gegenwart und die Gegenwart scheut sich nicht, täglich neue zu erfinden. Und war es nicht auch so, dass es bei Dalum ein Arbeitslager der Nazis gab.

Wir überqueren die Stadtbrücke auf der Suche nach einem Café, aber wir finden keines. Frau E. aber muss rauchen und rasten, und das tun wir am Fluss. Auf einem Zeltplatz gegenüber wird ein Schlauchboot startklar gemacht. Eine Yacht namens Renate fährt flussauf. Bei einem hohe Wellen verursachenden Außenborder ist zu vermuten, dass der Kapitän gewisse Probleme hat, aber wen will er beeindrucken? Uns nicht, wir lassen die Wellen ans Ufer schwappen, und die Enten und Blesshühner nehmen sie ungerührt hin.

Ein gut aussehendes, gepflegtes älteres Paar steht diskutierend am Weg. Es scheint nichts Boshaftes zwischen ihnen, eher zeugen ihre Gesten von einer gewissen Ratlosigkeit. Schließlich kehrt sie um, und er schlendert weiter. "Er hat etwas vergessen, und ich muss es holen", sagt sie lachend, als sie an uns vorbeigeht, aber sie lacht ihn nicht aus, es ist einfach so, man vergisst schon mal dies und das, wenn man älter wird.

Ems und Kanal sind wieder eins, aber kaum haben wir den Ort hinter uns, zweigt ein verwunschener Altarm ab, ein Angler wartet auf Zander und Hecht, es ist kühl und verschwiegen in dichtem Wald. So soll es bleiben, wir wollen durch tiefsten Urwald direkt bis ans Meer, aber das wird nicht gelingen. Wieder auf freiem Feld bereuen wir, dass wir nicht länger nach einem Café Ausschau gehalten haben. Hier wird weit und breit keines sein. Aber was ist das für ein Schild, da, mitten in freiem Feld? Schomaker! Kaffee und Kuchen, steht drauf.

Wir verlassen den Emsradweg, um ins nahe Dorf zu fahren. Es ist kaum mehr als eine schmale Straße mit Straßenbäumen, Höfe mit offenen Scheunentoren, die Alten auf Bänken unter Eichen und sichelnden Schwalben. Schomaker aber, wo wir Kaffee und Kuchen erhofften, hat geschlossen und zudem den Besitzer gewechselt. Schomaker ist nun ein mongolisches Restaurant. All you can eat für erstaunte Emsländer.

Nebenan aber ist Rettung, ein Edeka, Kommunikationszentrale, Post, Kaffeeausschank, frische Brötchen, Fleisch. Frau Schomaker hat die Kneipe nicht mehr geschafft, sagt die Frau hinter der Wursttheke, sie war einfach zu alt, und nun hätten die Männer im Dorf keinen Ort mehr für ihren Frühschoppen, das sei tragisch für sie und ärgerlich für die Frauen.

Wir setzen uns auf eine Bank vorm Laden, trinken Kaffee und fühlen uns wie im Paradies. Das sei auch das Paradies, sagt man uns, man nenne es so, und wenig weiter, hinten am Weg, sei zudem ein Naturschutzgebiet gleichen Namens. Urwald, ein Ems-Altarm, ein kleines Wehr, ein Teich, wir schätzen uns glücklich. Jetzt regnen Rosen. Wilde Tiere wären schön, wie gern würde ich endlich einmal einen Fuchs in freier Wildbahn sehen, aber man kann nicht alles haben. Wir strampeln.

Als ich im Hünteler Brook von einer Emsbrücke rechts auf den Radweg abbiege, schlingert das Hinterrad aus der Spur. Ich steige ab. Der Reifen hat Luft verloren. Notfall also. Jetzt heißt es - oder - nein, bis Haren ist es nicht mehr weit, ich kann es schon sehen, ich pumpe jetzt erst einmal auf und schaue dann, wie sich der Reifen verhält.

Haren ist klein und zumindest links und rechts des dort abzweigenden, nach Holland führenden schmalen Kanals idyllisch. Ansonsten viel Backstein aus den 60ern und 70ern. Alte Schiffe liegen vor Anker, in der Marina herrscht Samstagmorgenbetrieb. Der Reifen hat keine Luft mehr verloren, bis Lathen sind es noch 13 Kilometer, zur Not hat Frau E. dieses Spray, das ins Ventil gesprüht wird. Ich lasse es darauf ankommen.

Vorbei an einer Werft gelangen wir in den Bockholt und legen uns am Mersbach in die Wiese. Pferde schauen uns zu. Ein kräftiger Wind fegt über die Felder, da kommt etwas, denkt man, aber der Himmel ist bleich und blank gefegt. Das, was da kommen könnte, kommt erst in der Nacht als wir schlafen und davon erwachen. Jetzt picknicken wir. Ich muss wieder sagen, wie gut alles schmeckt. Wir dösen, wir blinzeln, wir fragen uns, wieso Menschen ständig in Flugzeuge steigen, um weit fort an überfüllten Stränden zu liegen, während hier alles ist, was sie am Nötigsten brauchen, Ruhe, frische Luft und die Abwesenheit von Menschen.

Ab und an Radfahrer. Ab und an ein Trecker. Moin, ruft der Bauer. Moin sagen die Leute hier zu jeder Tageszeit, aber ein Alleinstellungsmerkmal für den Norden ist das längst nicht mehr, man sagt das auch in Westfalen, wenngleich nicht unbedingt abends. Dass der Mersbach keine hundert Meter entfernt in die Ems mündet, bemerken wir erst, als wir wieder auf dem Rad sitzen. Gleich hinter der nächsten Ecke liegt sie ruhig und entspannt in den Wiesen. Ein Frachtschiff tuckert nordwärts, Yachten sind unterwegs, man wähnt sich weit fort, man denkt oft an Holland, und tatsächlich ist Holland nicht weit, unterm Strich aber haben wir kaum 150 Kilometer zurückgelegt. Wenn man dann noch bedenkt, dass so ein Radweg mäandert, sind wir vielleicht hundertzwanzig, hundertdreißig Kilometer von zuhause entfernt, ein Fliegenschiss, und so viel Schönes.

Da vorn ist ein Reiterhof, sehr edel, ein Landgut. Man heiratet hier, man macht Fotosessions, Limousinen rollen über die herrschaftliche Anfahrt, Familien machen Urlaub, Kinder werden animiert, gleich ist die offizielle "Wasserschlacht", dann ist dieses und jenes, und die Eltern sitzen dann da und wundern sich, was sie tun könnten. Es gibt viele Reiterhöfe im Emsland, große Gestüte, wahrscheinlich bringt das mehr als die von Wind und Wetter geplagte Landwirtschaft.

Der Reifen hält immer noch Luft, also fort von hier, hier werden wir nicht bleiben. Ich hatte zwar nach einem Zimmer gefragt, weil eine gewisse Lustlosigkeit in der Luft lag seit unserem Picknick, aber alles war ausgebucht. Also zurück an die Ems, über die nächste Brücke, plötzlich ist die Ems wieder Kanal oder umgekehrt, und dann ist da auch schon Lathen, und es gibt keine Zimmer mehr, weit und breit alles ausgebucht.
Also doch keine Rosen?

Frau E. muss erst einmal rauchen. Ich verhandle. Zum Hotel gehört ein Zeltplatz. Gäbe es da nicht ein Mobilheim, das wir mieten könnten? Zögernd: Doch. - Ja und? - Ja, das könnten Sie haben. Küche, zwei Schlafzimmer, Dusche, Toilette, Veranda, Fernsehen, alles da, einfach alles. Man könnte es sogar kaufen, 32tausend soll es kosten, da kann man sich leicht ausrechnen, wie oft man in einem Hotel an idyllischen Orten übernachten könnte.

Unsere Nachbarn sind freundliche Leute. Ein Handwerker, Frau, zwei Kinder und ein Golden Retriever aus Lünen direkt gegenüber, und so halb schräg gegenüber eine dicke Frau und ein dicker Mann aus Siegburg, der uns zeigt, wie man eine Tür mit englischem Schloss öffnet bzw. schließt. Das, sagt wiederum der Handwerk später, könne ein Kontinentaleuropäer nur schwer verstehen. Damit will er uns trösten, denn wir benötigten zweimal Hilfe.

Nachdem wir es kapiert hatten, fuhren wir ins Dorf einkaufen. Auch hier, alles Backstein, nichts älter als dreißig, vierzig Jahre. Im Supermarkt ist es kühl, dass man gar nicht wieder hinaus möchte, und irgendwie weiß man auch nicht recht, was man eigentlich kaufen soll. Irgendetwas, entscheiden Sie das, Frau E., ich bin für ihr Seelenheil und ihre Stimmung zuständig, ich navigiere Sie durch die Welt, Sie wissen doch gar nicht, wo die Gefahren lauern und ohne mich auch nicht, wo sie wären. Und dann gehe ich schwimmen. Es gibt einen Teich beim Zeltplatz, er ist nicht groß und nicht tief, Moorwasser. Oben hat es eine angenehme Temperatur, aber wehe, man lässt die Beine ein wenig in die Tiefe sinken, da ist es sehr kalt.

Die DLRG Ortsgruppe sitzt am Kanal, grillt Berge Fleisch und trinkt. Man hofft, dass niemand mehr ins Wasser fällt, aber sicher haben sie eine nüchterne Notwache organisiert. Wir hocken uns an die Uferböschung und hängen Gedanken nach. Man sieht und hört so viel, wenn man mit dem Rad unterwegs ist. Manchmal überwältigt einen die Schönheit, man hat also zu tun nach so einem Tag, aber irgendwann kriegt man Durst, steht auf, überquert eine Brücke, mit roten Bögen und sich über der Fahrbahn kreuzenden Tragelementen, man tut das, weil man neugierig ist und sehen will, wie das andere Hotel aussieht, in dem auch nichts mehr frei war, denn das ist da hinten, man denkt, hm, unser Mobilheim ist schöner, aber es gibt einen Biergarten, da trinkt man ein Bier, man wird müde, man möchte ins Mobilheim gebeamt werden, aber man muss laufen, also läuft man und legt sich schlafen. jetzt klappt es übrigens mit dem englischen Schloss.


4. Tag


Am frühen Morgen macht sich in meinen Träumen ein Krachen und Prasseln breit. Eh ich begreife, dass nicht ich das bin, der Schlagzeuger einer alten Männerkapelle, The Real Fullmooners, die dreimal im Jahr zusammenkommt und in der Lage ist, einen so vielschichtigen und den Menschen nahegehenden Lärm zu produzieren, sondern dass es das Wetter ist, das sich gestern schon ankündigt hatte, vergeht ein Moment, aber nun ist es da. Es hat gut fünfzehn Stunden gebraucht.

Da ein Mobilheim aus Plastik und Holz besteht, wird jeder Aufprall eines Tropfens verstärkt. Ein Blitz würde es in kleinste Teile zerlegen. Es ist schon hell, aber die Vögel haben vorübergehend zu singen aufgehört. Es kracht ein paarmal, es schüttet, dann ist es vorbei. Die Vögel beginnen wieder zu singen, die Luft ist frisch, und eigentlich kann man jetzt nur noch frühstücken, die Sachen packen, die Gunst der Stunde nutzen und losfahren.

Leider hat der Hinterreifen über Nacht gehörig Luft verloren, sodass ich mich entschließe, ihn zu flicken. Ich fülle Wasser in eine Schüssel und hebe den Mantel von der Felge. Ein Leben lang habe ich das mit Löffelstielen gemacht, jetzt ist Premiere für die kleinen schwarzen Plastikkeile meines Reparatursets. Sie funktionieren super, aber ich finde nicht das kleinste Loch und montiere Schlauch und Mantel wieder auf die Felge. In meiner morgendlichen Ratlosigkeit fülle ich Frau E.s Reparaturspray in den Schlauch. Der Reifen bläht sich. Das ist Schaum, sagt der Nachbar, jetzt sei der ganze Reifen voll Schaum.

Ich hatte mir Reparaturspray anders vorgestellt. Ich hatte gedacht, man sprüht etwas hinein, dreht den Reifen, damit sich die Flüssigkeit über die undichten Stellen verteilt und sie schließt. Am besten bis Weener, denn soweit wollen wir heute, geruhsame 40 Kilometer. Morgen dann fände sich jemand, der mein Rad reparierte, damit wir Emden erreichen und von dort Borkum. 175 Kilometer bisher, sage ich, als ich aufs Rad steige. Soviel schon, sagt Frau E. Sie ist stolz, so weit ist sie noch an einem Stück Rad gefahren. Ich bin auch stolz, denn ich habe es mit ihr, und sie hat es mit mir ausgehalten, was wahrscheinlich noch komplizierter ist.

Es ist schön, morgens aufs Rad zu steigen, und einen Ort, an dem man die Nacht verbracht hat, zu verlassen. Man rekapituliert. Der blöde Hund, sagt man, der Frau E. bei Ankunft gestern durch rüdes Auftreten und lautes Reden vom Tisch vertrieb, weil er sich für den Platzhirsch hielt. Man weiß, was man mit ihm täte, man hatte befürchtet, er könne im Nachbarmobilheim herrschen, eine Schreckensvision, aber er war zum Glück ein Hotelgast. Wir wünschen ihm den plötzlichen Herztod und verlassen den Campingplatz mit seiner automatischen Schranke. Auf dem Treppenabsatz des Hotels hockt eine blonde Frau und streckt ihr Smartphone in die Luft. Auf Empfang? rufe ich. Sie lacht. Ja, hier funktioniere das Netz.

Rund um den angrenzenden See parken Wohnmobile. Wohnmobilfahrer sind etwas anderes als Mobilheimbewohner. Der Mobilheimbewohner imaginiert sich eine zweite, provisorische Heimat, in der alles so sein soll, wie zuhause, nur anders. Der Wohnmobilfahrer hingegen versteht sich als Abenteurer. Er kann heute hier und morgen dort sein, was er meist nicht ist, aber immerhin, er hat die Option. Lieber aber steht er neben anderen Wohnmobilen in einer Wagenburg. Dort fühlt er sich sicher.

Die Glocken läuten. Man weiß nicht recht, ob das Emsland katholisch oder eher evangelisch ist. Man erinnert sich aber an einen vom Katholizismus schwer geschädigten Bekannten aus Lingen. Man durchquert den Ort. An der Bahn bemerkt man, dass man sich verfahren hat.

Bei Regen und Gewitter hockte ich vor zwanzig Jahren mit meinem jüngsten Sohn unter einem Busch auf der anderen Seite der Bahn. Wir waren auf dem Weg nach Papenburg. Wie ich wohl reagiert hätte, wenn sich damals die Tür zur Zukunft geöffnet hätte, wie sie das zur Vergangenheit häufiger tut.

Wir drehen um. Der zentrale Platz in Lathen, da, wo das Rathaus steht und vielleicht sogar ein Brunnen, ist alles aus rotem Backstein. Der hält eine Ewigkeit, ordentlich ist er auch, aber so ein Elend hat der Ort eigentlich nicht verdient. Immerhin sind wir wieder auf dem richtigen Weg. Der schwere Regen der Nacht hängt noch in den Bäumen. Unter tropfenden Eichen wirkt der Kanal düster. Bald pressieren nicht erledigte Geschäfte. An der Düther Schleuse gibt es ein kleines Restaurant mit Pension, das geöffnet hat. Ein alter schwarzer Hund liegt davor, die Wirtin, eine Holländerin, tauscht gerade klitschnasse Sitzkissen aus, und natürlich gibt es auch Cappuccino.

Der Sonntagmorgen wird munter, nur wir sind eher faul, und es steht zu befürchten, dass es noch wärmer als gestern wird. Zum Glück sind die Wege oft schattig. Ems und Kanal treiben das alte Spiel, irgendwo zweigt etwas nach Oldenburg ab, Küstenkanal steht auf einem großen Schild, Wasserverkehrsknotenpunkt quasi Hilfsausdruck. Der Himmel spannt sich frühsommerlich über Land, auf Wiesen grast Vieh, auf flussnahen, sandigen Brüchen wachsen Ginster und Sanddorn. Mir steckt die Sorge um meinen Reifen im Nacken. Ich hätte ihn einfach aufpumpen- und mir das Spray für den Notfall aufheben sollen, aber vielleicht ist es ja nur das Ventil, das so schleichend Luft entlässt. Ob man einen Schlauch, der voller Schaum ist, noch aufpumpen kann?

In einem kleinen Yachthafen sitzen Kapitäne und ihre Frauen an Deck, der Fluss ist breit und ruhig, wieder würde ich gern schwimmen, aber ich traue mich nicht hinein. Während wir radeln und radeln, verwandelt sich die Ems, ohne dass wir es so recht mitbekommen. Da ist ein Altarm, da ist die Ems, da sind die Emsauen, da ist der Kanal, aber was ist nun was?

Was immer es auch im Augenblick ist, gerade war es noch bis an der Rand voll, jetzt ist es leergelaufen und schlammig. Reicht der Tidenhub denn bis hierher? Eine Brücke überquert Schleusenkammern bei Aschendorf. Dahinter das gleiche Bild, als sei urplötzlich eine große Trockenheit über Land gekommen und habe zwei Schiffe überrascht, die gerade noch genug Wasser unterm Kiel haben, um sich aufrecht halten. Wir rollen den Deich hinunter, folgen dem Kai und nehmen Anlauf zurück auf die Deichkrone. Frau E. hat elektrische Unterstützung, ich nicht, ich steige in die Pedale. Auf halbem Weg gibt es einen peitschenden Knall. Das Rad schlingert, aber ich kriege es in den Griff. Ich steige ab. Ende der Reise für heute.

Aber zu meiner Überraschung ist der Schlauch gar nicht geplatzt. Die Satteltasche ist in die Speichen geraten und dabei ist eine Speiche gebrochen. Das Hinterrad hat eine Unwucht, die lässt sich korrigieren, aber nicht heute, heute ist Sonntag. Allzu weit sollte ich also nicht mehr fahren. Sechs Kilometer bis Papenburg? Das geht.

Frau E. ist glücklich, dass mir nichts passiert ist. Glück gehabt, das Schicksal hat es gut mit mir gemeint, ich hätte mir den Hals brechen können. Man kann jederzeit alles Mögliche sagen und befürchten, denn alles Mögliche kann geschehen, aber in der Gegenwart sieht man nicht sonderlich weit. Erst in der Rückschau wird klar, was so ein Moment bedeutet. Er wirft alles um und erfordert einen Neustart. Er will sofort alles anders.

Wir verfahren uns an diesen langen, nichts sagenden, oft von Kanälen begleiteten Straßen Papenburgs, eh wir einen Kirchturm entdecken, auf den wir zuhalten. Als wir einen türkischen Imbiss passieren, ruft Frau E., komm, lass uns eine Kleinigkeit essen. Gute Idee, sage ich.

Die Neuprogrammierung unserer Reise hat auf den letzten Kilometern schon theoretisch Form angenommen. Wie wäre es, habe ich irgendwo da draußen im Stadtwald am See gefragt, wenn wir versuchten, heute noch nach Borkum zu kommen? Und wie, hat sie gefragt. Mit dem Zug von Papenburg nach Emden und dann auf die Fähre. Gute Idee, hatte sie gesagt.

Jetzt wäre ein Smartphone wunderbar, aber ich besitze keines. Mein Tablet kann Internet nur mit WLan. Ich frage den Restaurantbesitzer, ob er mir aushelfen könne? Natürlich, gern, sagt er und schreibt mir den Zugangscode auf. Ich verbinde mein Tablet. Zwei, drei, viermal schlägt es fehl. Ich werde nervös. Frau E. sagt immerzu irgendetwas. Sie will, dass ich mich für Essen entscheiden, aber ich habe hier ein Problem. Bestell einfach irgendetwas, und lass mich in Ruhe, sage ich.

Bingo. Ich bin ich drin. Ich brauche Infos zu Hotels, Zügen und Fähren. Zunächst aber Hotels. Kategorie. Preis. Sieht das gut aus? Mal probieren, mal anrufen. Man sei ausgebucht, sagt man mir im ersten, und überhaupt, Borkum sei voll, Himmelfahrt, beweglicher Ferientag, aber dann finde ich doch eines, das Hotel Zum Hanseaten.

Ich buche. Ich esse. Ich trinke.
Die Züge nach Emden fahren einmal pro Stunde.
Das letzte Schiff, ein Katamaran, legt um 16:45 ab.

Es ist 14:15, als wir uns auf den Weg zum Bahnhof machen. Der Zug, aus unserer Heimatstadt kommend, was mich seltsam berührt, fährt um 14:56. Ein Schalter ist nicht besetzt. Vor einem Fahrkartenautomaten auf unserem Bahnsteig stehen entnervte Menschen. Das Display wird direkt von der Sonne beschienen und ist unlesbar. Buchungen sind unmöglich. Nicht mal mit Abitur? frage ich. Hilft nix, haben wir hier alle, sagt ein Mann. Als der Zug kommt, steigen wir ohne Ticket ein, bereit, dem Schaffner eine gepfefferte Rede über den Service der Deutschen Bahn zu halten, aber der Schaffner ist eine junge Frau, die um die Schwierigkeiten mit Fahrkartenautomaten weiß und uns äußerst freundlich behandelt.

Vom Hauptbahnhof Emden müssen wir weiter zum Außenhafen, zwei oder drei Kilometer. Eine vierspurige Brücke dorthin überquert die Gleisanlagen. Ihre lang geschwungene Auffahrt ist weit weg. Wir hatten ein Problem, wir haben es gelöst, jetzt wollen wir keine Verzögerungen mehr. Es gibt eine spiralförmige Treppe mit Radspur, drei Stockwerke hoch. Da ich der Mann bin, muss ich da hoch. Mein Rad ist leicht, ihres wiegt mehr als das Doppelte, etwa 25 Kilo. Als beide Räder auf der Brücke stehen, bin ich schweißgebadet, aber um 16:00 sind wir im Außenhafen.

Wir stellen die Räder in einer bewachten Garage ab, kaufen ein Ticket, und setzen uns auf die Terrasse des Terminals. Die Sonne scheint, es riecht nach Meer, vielleicht auch ein bisschen nach Dieselabgasen und Schlick, aber wir sind glücklich. Wir gehen davon aus, dass wir in gut zwei Stunden auf der Insel sind. Ich kaufe uns Kaffee und Kuchen. Eine Fähre kommt, aber nicht unsere. Reisende tragen schweres Gepäck vom Schiff zum Bahnsteig gegenüber, wo ein Zug wartet. Ein leichter Wind kühlt angenehm nach den warmen Tagen auf dem Rad. Das Meer ist braun. Die gegenüberliegende Küste gehört zu Holland. Schlote, Überlandleitungen, Terminals, ein Kohlekraftwerk.

Zehn Minuten vor Abfahrt des Katamarans wird Frau E. unruhig und erkundigt sich, wann er denn eigentlich komme. Es sei längst da, erfährt sie. Da vorn, außerhalb unserer Sichtachse. Er hat Platz für etwa zweihundert Menschen. Man sitzt wie im Flugzeug. Die Stimmung ist ähnlich. Wir gehen auf Deck. Der Katamaran legt ab, fährt ruhig aus dem Hafen und gibt Gas. Das Heckwasser wird aufgewühlt, anthrazitfarbene Abgase steigen auf, der Fahrtwind wird Sturm und treibt uns zurück in die blauen Flugzeugsessel. Frau E. kauft sich eine Bockwurst. Ich werde neidisch und hole mir auch eine. Die Verkäuferin ist Asiatin. Die Bockwurst ist groß und schmeckt.

Am Abend werden wir allen Grund haben, zu glauben, wir hätten eine Halluzination. Jetzt aber, mit Bockwurst auf hoher See, überholen wir einen Autofrachter. Er hat weder Türen, Bullaugen oder sonst irgendetwas, das an ein Leben an Deck erinnert, sondern nur eine große Klappe am Heck. Dort fahren Autos hinein, tausende oder hunderte, dann geht die Klappe zu, und Übersee darf sich auf Audi freuen, auf VW oder beides. Ein beeindruckendes Bild, aber keine Halluzination.

Das auf der Insel aber hätte eine sein können, denn wo sollten gegen 23 Uhr auf der Deichstraße sonst Rehe herkommen? Vom Festland herüber geschwommen? Wir bleiben stehen. Siehst du, was ich sehe? sage ich. Ein Hirsch und vier Rehe kommen über die Gleise der Schmalspurbahn, die den Hafen mit der Stadt verbindet, schauen, bleiben auf der Straße stehen, prüfen, gehen durch das Eingangstor zum Rasenvorplatz des Friedhofes, auf dem ein großes Kreuz steht, vielleicht auch ein Ehrenmal, und beginnen zu äsen. Ja, sagt sie. Als wir weitergehen, fliehen die Rehe auf den Friedhof.
Eine Straßenecke weiter ist eine Kneipe. Scottish Whisky Depot steht auf einem Schild. Lass mal reingehen, sage ich. Absacken. Moin, sagen alle, als wir reinkommen. Ich trinke einen Tallisker und einen Laphroaigh. Als ich dem Wirt von den Rehen erzähle, sagt er, das wären keine Rehe, sondern Damwild. Er muss es wissen. Er ist Inseljäger.

Aber erst einmal muss man ja anlegen. Ob man einer Halluzination aufsitzt, kann man sich später noch fragen. Man legt also an, geht von Bord, steigt in den Waggon der Schmalspurbahn, in dem man auf Holzbänken sitzt und auf dessen kleinen überdachten Vorbau man rauchen kann. Das steht sie, raucht und sieht gut aus. Ihr Haar weht im Wind.

Das riesige, eingezäunte Areal mit den roten Backsteinbauten beim Hafen, ein ehemaliger Marinestützpunkt, ist die Jugendherberge. Wir schlagen drei Kreuze, dass es mir beim Türken in Papenburg nicht gelungen ist, sie zu erreichen und ein Zimmer zu buchen.

Watt, weite Sicht, Heckenrosen am Bahndamm. Am Inselbahnhof nehmen wir ein Taxi zum Hanseaten. Wir müssen nicht mehr Radfahren, wir müssen jetzt ein Hotel ertragen. Ginge es nach unseren kulturellen und ästhetischen Vorstellungen, würden wir uns mit Grausen abwenden. Die maritimen Dekorationen, die Teppiche, das Mobiliar, alles müsste längerer Betrachtung unterzogen und dann entsorgt werden. Da unser Einkommen keine Wahl lässt, werden wir uns den "Hanseaten" schönreden.

Das Zimmer am Ende des Flurs im ersten Stock ist erstaunlich geräumig. Schlafzimmer mit Flachbildschirm (Sky Entertain), kleiner Aufenthaltsraum mit Flachbildschirm, Tresor, Wasserkocher, großes Bad, Fenster zum großen Garten. Hinten links ein Trampolin, weiter vorn rechts viele, von der Witterung gezeichnete Sitzgelegenheiten.

Der Hotelier trägt Jeans mit Hosenträgern, T-Shirt und ist um die 40. Keine Figur, die man beschreiben könnte. Am liebsten sitzt er an einem Tisch in einer Ecke des Frühstücksraumes und starrt auf seinen Laptop. Seine Tochter, 15-18, hat langes dunkles Haar und muss unser Zimmer fertig machen. Das behagt ihr nicht. Ihrem Vater scheint überhaupt nichts zu behagen, schon gar nicht, dass wir da sind. Aber vielleicht verstehen wir das alles falsch. Vielleicht ist das der Stress. Wir hatten schließlich einen turbulenten Tag. Wir wollen jetzt an einen Strand. Dort wollen wir sitzen, das Meer sehen und die Möwen hören, mehr nicht.

Unser Hotelier empfiehlt uns den Südstrand, keine zehn Minuten zu Fuß. Das spricht für ihn und sein Hotel. Und die Art, wie er die Info zum Strand rausgerückt hat, sehr trocken und äußerst neutral, lässt hoffen. Wir überqueren die Trassen der Schmalspurbahn. Jedes zweite Haus ist eine Pension. Am Strand ist ein Bereich des Meeres mit schlanken, in den Boden getriebenen Holzstämmen und daran befestigten, dicken Seilen abgeteilt. Es gibt zwei Strandcafés. In jedem ist Selbstbedienung.

Man kann sitzen und sitzen und niemand fragt nach einer Bestellung. Ich habe so etwas noch an keinem Strand erlebt, in Strandcafés kommen sie immer sofort und fragen, was man will. Wir sehen, dass der Feierabend vorbereitet wird und holen uns noch schnell etwas zu trinken. Es gefällt mir hier. Ich weiß noch nicht wieso, aber es gefällt mir. Es ist über 50 Jahre her, dass ich das letzte Mal auf einer deutschen, ostfriesischen Insel war, aber die Art, ein Badeareal abzustecken, ist noch die gleiche. Die Promenade ist großzügig. Man kann unten Rad fahren und oben promenieren. Heckenrosen duften auf den Dünen, die von konkaven Betonplatten gehalten werden. Darauf, leicht vorgebeugt, ebensolche Lampen. In den Strandbuden gibt es Milchreis und Suppen. Die Hotels heißen "Vier Jahreszeiten, Nordseehotel, Ostfriesenhof, Strandhotel Hohenzollern".

Gemäßigter Klassizismus vor Strandkulisse mit einem Pavillon und Seehunden auf den vorgelagerten Sandbänken. Eine Band spielt. Komm, sage ich, lass uns tanzen. Kann ich doch nicht, sagt sie, aber dann kann sie es doch. Ich muss aufpassen, dass ich keine Tränen vergieße, denn die Sonne geht unter, es geht mir gut, es könnte besser nicht sein mitten im Beben der Katastrophen. Und dann natürlich der Heimweg, die Halluzination mit Damwild, aber davon sprach ich schon.



5.Tag

Der schlanke, leicht blasiert wirkende mittelgroße Mann Anfang 40 trägt eine schwarze Hose, einen ebensolche Weste und ein weißes Hemd. Es ist noch früh am Morgen, noch keine neun. Man erwacht in einem fremden Bett, man schaut sich um, man hat Hunger. Und dann ist da dieser Mann. Man weiß nicht, ob ihm sein Dasein gefällt, es könnte sein, dass er seine Gäste hasst, denen er Zimmer zu Verfügung stellt und Kaffee serviert. Es ist aber ebenso möglich, dass er ein liebenswerter Gastgeber ist, der sich in Zurückhaltung übt.

Der Versuch, den Frühstückraum zu schildern, scheitert schon an den weißes Stores vor den Fenstern, die zur Mitte hin kürzer werden und also einen dreieckigen Ausblick auf den Garten und die Straße vorm Haus gestatten. Nicht zu vergessen ist der bordeauxfarbene Saum aus Satin. Natürlich sind die Stores in regelmäßige Falten gelegt. An den Wänden Seestücke, Leuchttürme etc. Mit anderen Worten, es könnte kaum schrecklicher sein, aber wir werden es überleben. Wir ignorieren das und deuten es um. Für uns wird es eine Studie des sozialen Mittelmaßes. Wer hier übernachtet kann sich nichts Besseres leisten. Es gibt aber, auch das wissen wir aus eigener Anschauung, durchaus Hotels, die noch billiger, geschmacklich aber nicht derart verwahrlost sind, zum Beispiel das Hotel Sonnenvanck in Wijk aan Zee.

Man kann sich natürlich streiten. Man kann sagen, es ist sauber hier. Man kann sagen: es ist ruhig. Man kann sagen, was wollen Sie denn, es hat einen großen Garten. Bis zum Südstrand ist es nicht weit. Und das Zimmer ist groß, wirklich sehr groß. Man schaut sich die Frühstücksgäste an. Man nickt vielleicht dem ein oder anderen zu. Aber man versucht nicht, zu interagieren. Was will man auch mit Menschen, die in solchen Hotels ihren Urlaub verbringen müssen.

Man trinkt den angebotenen Kaffee, ohne in Verzückung zu geraten, man isst Eier, man nimmt von diesem und jenem, sogar Melone ist im Angebot, diese Supermarktmelone, die gleich nach der Bestäubung geerntet und dann in die Regale der Supermärkte gelangt, das alles tut man und versucht, nicht aufzufallen. Dann packt man seine Sachen, schließlich ist Sommer, man ist auf einer Insel mit Hochseeklima, da können einem gefaltete Stores doch gestohlen bleiben, man geht die Straße hinab und biegt nach links, man gelangt bald zwischen Wiesen, auf denen Pferde stehen oder auch nicht, man sieht Wegweiser hierhin und dorthin, bis man schließlich hoch oben beim Sturmeck auf einer Düne steht und aufs offene Meer schaut, das noch immer weit weg ist.

Irgendwo legt man sich in den Sand. Hübsch ist es hier mit all den bunten Strandkörben und den Hotels, dem Strandhotel Hohenzollern, der Villa Viktoria, und seltsamerweise dem CVJM, allesamt längst vergangene, klassizistische Träume. Man sitzt in einer Strandbude, man überlegt, was man als nächstes isst, Milchreis, Suppen, Dickmilch mit Erdbeeren, rote Grütze, Pfannkuchen? Der Himmel meint es gut, man lacht und der Tag verstreicht.

Am Südstrand versuche ich, auf einer Slackline zu balancieren, die vom Fremdenverkehrsamt gesponsert und von einer sportlichen jungen Saisonkraft betreut, zum touristischen Angebot zählt. Sie hält meine Hand, der dicke Mann vom DLRG mein angebissenes Brötchen, aber kaum bin ich auf der Line, bin ich schon wieder unten. Frau E. lacht. Sie hat gut lachen, sie versucht es erst gar nicht.

Ich weiß gar nicht mehr, wie wir den Abend verbrachten. Die Flasche Wein, die wir gekauft hatten, zerbrach versehentlich, als wir auf einem Wellenbrecher am Strand saßen. Tranken wir Bier, bis die Strandbude dicht machte? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich waren wir hundemüde.

Am Tag darauf wanderten wir durchs Naturschutzgebiet, wo Birken, Eichen, Haselnuss dicht an dicht stehen, wo das Dammwild lebt, wo es kleine Heideflächen gibt und die Heckenrosen duften. Manchmal fällt leichter Regen, aber es ist mild. Als wir freies Land erreichen, da, wo auf der einen Seite das Watt beginnt und auf der anderen die Insel ausrollt, als wäre hier Irland, geht ein Wind uind es nieselt. Man möchte gern großartige Fotos machen, aber man ist kein Fotograf, und das einzige, was schlussendlich gelingt, ist ein Foto von einer Vielzahl beieinander stehender Gartenzwerge im Vorgarten eines ansonsten nicht zu verachtenden, kleinen Hauses.

Von dort führt der Weg zu einem Teich, und von dort zum Fischhus Byl, wo ich frische Austern, Matjes und Pommes esse. Den Nachmittag vertrödeln wir mit einer kleinen Depression. Frau E. nämlich würde mich gern zum Abendessen ausführen, schick soll es sein, aber ich will nicht, ich will in niemands Schuld stehen, benehmen will ich mich auch nicht, und das gefällt ihr nicht.

So geht der Abend erst einmal schief, obwohl der Blick aufs Meer wundervoll ist, die Sonne ihre letzten Strahlen wirft, und Seehunde und Kegelrobben wie bestellt auf der Sandbank liegen. Aber natürlich kommt dann doch Hunger auf, sie hatte es ja prophezeit, und irgendwo muss etwas gegessen werden. Es läuft auf Pizza hinaus, nicht einmal die schlechteste, aber sofort bezweifelt Frau E., dass die Steinpilze auf ihrer auch Steinpilze sind, jeder zahlt selbst, der Wein war auch nicht so toll, draußen treiben Menschen im Wind über die leere Einkaufsstraße, und wir finden uns doof.

Irgendwann sitzen wir auf einer Bank beim Kletterpark inmitten von Heckenrosen und können nicht sprechen. Ich bin schuld. Ich habe es gewagt, mit ihr zu verreisen. Noch dazu mit dem Rad. Ihr Hinterteil tut weh. Frauen sind Wesen, von denen niemand Genaueres weiß. Ich habe alles getan, um sie zu schonen, ich habe ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen und versucht, ihr jedes Problem vom Halse zu halten, nur eben heute nicht, und nun erstarrt sie gerade zu Stein.

Wir würden uns gern eliminieren, tun es jedoch nicht. Wir haben Mittel, die man in solchen Fällen nimmt. Nicht, dass wir zu saufen begännen, nein, das auch, aber diese Mittel sind anders, sie sind von führenden Ärzten empfohlen und wirken sogar für den Weltfrieden.

Danach hört es sofort auf zu regnen. Danach wird der Geruch der Heckenrosen so intensiv, dass man duschen möchte. Danach drängt sich einem auf, dass es ist wie es ist, und das kittet den Verdruss. Man beginnt wieder zu reden. Irgendwann fällt der richtige Satz, alles Vorherige scheint wie wegwischt oder nie gewesen, und plötzlich fragt man sich, ob die Rückfahrt von Emden nach Münster für zwei Erwachsene mit Rädern für 37 Euro nicht deshalb so konkurrenzlos billig war, weil man am Automaten vom Inselbahnhof zwischen Fahrradverleih und Eisdiele falsch gebucht hatte. Hatte man?

Man hatte den Fahrkartenautomaten der Deutschen Bahn doch immerhin dazu gebracht, ein Ticket auszudrucken. Man war darüber fast euphorisch geworden, denn man erinnerte sich ja an den Automaten in Papenburg. Aber wieso stand Niedersachsenticket darauf? Galt das Ticket also nur bis zur Grenze der Bundesländer? Man beschließt, heimzugehen. Trinken will man nicht mehr. Man weiß zwar nicht, was man in einem Hotelzimmer anfangen soll. Fernsehen? Sich wie ein Rockstar benehmen? Sich wie ein Ehepaar benehmen, das Morgenluft wittert? Nein, nein, alles, nur das nicht, zumal man bei solchen Gelegenheiten gern laut wird, am besten also, man schläft sofort ein.

Am nächsten Morgen duscht man, wirft alles hinter sich, packt, frühstückt und muss auch schon raus. Aus Hotels muss man immer frühzeitig raus, während man erst relativ spät rein kann. Als wir den Chef des Hotels um ein Taxe bitten, verweist er auf den Bus und den finanziellen Vorteil, den wir daraus zögen, aber wir wollen in keinen Bus, wir lassen uns fahren, deponieren unser Gepäck und gehen zum Strand. Es ist sonnig. Ich will schwimmen. Ich will die Nordsee nicht verlassen, ohne geschwommen zu sein. Der Nordstrand im Westen ist eigentlich gar nicht Nordsee, wie ich sie mag. In diesem großen, hinter einer Sandbank liegenden Becken, das maximal anderthalb Kilometer im Quadrat messen mag, schwimmt man wie im Pool, muss aber aufpassen, weil viele junge Quallen unterwegs sind.

Um vier geht der Inselzug. Eine halbe Stunde später ist man auf dem Boot, zwei Stunden in Emden Außenhafen. Ich löse die Fahrräder aus, die Sorge, ich könne das wegen der engen Zeittaktung nicht schaffen, erweist sich als falsch, der Zug kommt, wir finden Platz für uns und die Räder, unser Ticket erweist sich als richtig und gut, die Rückfahrt geht deprimierend schnell, wenn man bedenkt, dass wir fast vier Tage gebraucht hatten bis Papenburg.