September 2003                                    www.hermann-mensing.de                              

mensing literatur

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Mo 1.09.03 11:14

Ich ahne nur, was die Uhr geschlagen hat, wenn jemand etwas ausruft. Den "totalen Krieg" etwa, oder den "totalen Sieg über den Terror", den ein Herr aus Texas, ein weiser, geliebter Führer, anstrebt. Da es modern ist, "Totalität" zu erstreben, hänge ich mich an diesen Zug und rufe "die totale Literatur" aus. Was immer das meinen mag. Ich weiß es selbst nicht, denke mir aber, dass man besser einmal laut ruft, als zweimal schüchtern schweigt.

15:52

Ich sah, wie sie über einen dramatisch bewegten Himmel heranstürmten, Regenvorhänge aus sich brüstenden Wolken, ich nahm einen Schirm, als ich aus dem Haus ging, aber da waren die Wolken schon abgebogen oder an ihrer eigenen Wichtigkeit erstickt und es blieb sonnig bis zum nächsten Mal, das ich von drinnen erlebte. Wie das Wasser die Fenster hinabströmte, aus den Dachrinnen überlief und in den Vorgarten platschte, kleine Seen machte und die Mäuse vertrieb.
Alle haben darauf gewartet, jetzt jammern manche und sagen, wie schön es war mit 38 Grad im Schatten. Ich sitze und denke mir Geschichten aus, die Geld auf mein Konto brächten, wenn ich sie verwirklichte.

 

Di 2.09.03 11:20

Da Deutsche die mutigsten Vertreter "totaler" Lösungen sind, habe ich beschlossen, meine Bedenken hinsichtlich verschiedener weltpolitischer Ereignisse hintan zu setzen und ab sofort mit Amerika und Israel (das auch nicht zimperlich ist) zusammen zu arbeiten.
Russland können wir dabei nicht gebrauchen. Die Russen schlampen zu viel.
Aber wir drei könnten totale Erfolge feiern. Die US-Boys mit ihrer Unbekümmertheit, wir mit unserem Organisationstalent und Israel mit seinen weltweit guten Verbindungen. Wir würden die Turbanfritzen ebenso aufmischen wie die Russen. Den verzickten Franzosen und den vertrottelten Biten setzten wir die Pistole auf die Brust, warum, müssten wir uns noch überlegen.
Alle würden nach unseren drei Pfeifen tanzen, unsere Haushaltsdefizite wären im Nu umgepolt und wiesen schwarze Zahlen auf. Es ist gar nicht auszudenken, welches Wohl wir über die Welt brächten.
Und wie dann alle glücklich wären. Die Israeli auf Boden, auf dem sie vor 2000 Jahren einmal siedelten, die Amerikaner auf Boden, der ihnen erst gehörte, nachdem die Indianer geschlachtet waren, und wir natürlich auf Blut und Boden. Totaler Frieden überall. Totaler Frohsinn. Totale Totalität. Toll.

 

Mi 3.09.03 10:22

Und wenn dann alle wie toll tanzen, sich auf Brust und Schultern schlagen, wie in anderen Kulturen üblich, sich kübelweise Sangria in den Leib gießen, wenn sie halbnackt Vaginaltänze aufführen auf mit brüllenden Lautsprechern bestückten LKW, wenn sie andächtig und in feinsten Zwirn gewandet hochdotierten Geigern lauschen, die so exzellent geigen können, dass einem die Flötentöne vergehen, wenn die Sonne auf und ab geht und der Geschützdonner immer woanders Tage und Nächte zerreißt, wenn Eiferer am Werk sind und niemand etwas dabei findet, dass arabische Potentaten ihre Sonnenbrillen nie abnehmen, wenn nichts mehr zählt außer Dachsen und Wachstumsechsen, dann gehe ich in mich und schaue, was drinnen ist. Sehe, wie das Mobiliar steht und wo Bilder hängen und welche Texte gesprochen werden von wem und zu welchem Zweck. Spreche darüber neue Texte von großer grober Wut und Zerstörungskraft, wohl wissend, dass nichts sich jemals verändern wird, ganz gleich, wie grob die Texte sind, wo die Möbel stehen und die Bilder hängen, unhängig vom Leid und den seltsamen Bräuchen religiöser und weltlicher Gruppen, unabhängig von warmen oder kalten Sommern, öffentlich gehaltenen Reden und schon gar von Beteuerungen jeder Art, vor allem von denen, die als ganz große Lügner bekannt sind.

12:02

Für die, die nicht groß geworden sind mit den üblichen, Trost spendenden Ritualen der Kirchen, für die, die nichts mit Kirche zu tun haben wollen und werden, reicht diese kurze Meditation aus dem Kanon der christlichen Tröstungen: Dein Reich komme, dein Wille geschehe.

16:32

Und im Anschluss dann wieder Zweifel.

 

Do 4.09.03 10:22

Meist bin ich der "Sehr geehrte(r) Herr Mensing". Nach erstem Kontakt wird daraus häufig der "Liebe(r) Herr Mensing", während ich meine Briefe immer und ausnahmslos mit "Guten Tag" beginne. Mit scheint das die neutralste und aufrichtigste Formulierung zu Beginn einer Kontaktaufnahme. Man begrüßt einander und mildert so die gegenseitige Furcht, die man gemeinhin vor Fremden verspürt, wenn auch verborgen und meist nicht an einen Fluchtimpuls gekoppelt. Guten Tag wünscht einem niemand, der Übles will.
Sagt jemand "Sehr geehrter Herr Mensing", fühle ich mich weder geehrt noch ins Vertrauen genommen, sondern begreife mein Gegenüber eher erstarrt in einer Gedankenlosigkeit als offen für Austausch.
Den "lieben Herrn Mensing" finde ich übertrieben, denn ich glaube nicht, dass ich lieb bin, und falls ich es wäre, hätte das trotzdem nichts zu Beginn einer Kontaktaufnahme zu suchen.
Wir nehmen Kontakt auf, um miteinander ins Gespräch zu kommen über Literatur.
Wir wechseln Briefe, um ein Geschäft mit Geschichten abzuwickeln. Möglichst zu gegenseitiger Zufriedenheit.
Lieber Hermann ließe ich mir gefallen, aber um mich so anreden zu können, müsste man mich schon einmal unter vier Augen getroffen haben. Und das haben die wenigsten.
Sagen Sie also "Guten Tag", falls Sie mir schreiben.
Ich würde dann glauben, Sie hätten Stil. Zumindest aber, Sie hätten nachgedacht.

18:30

Gestern die erste Session seit Juni. Begleitete (wurde begleitet von) einen(m) Bassisten, der die Lines gerne aufbricht und Arpeggien spielt, was dem Ganzen mehr Schwung gibt und Räume öffnet, über die man improvisieren, die man umspielen und weiter zerteilen und wieder zusammensetzen kann. War zwar nicht über die Maßen glücklich, aber auch die kleinen Momente der Wahrheit werden von nun an addiert und im Herzen getragen, damit man später weiß, dann und dann da und da gab es sie, klein, aber mein.

 

Fr 5.09.03 10:30

Ich gebe zu, ich nutze Billigflieger. Morgen früh fliege ich nach London. Morgen Abend fliege ich wieder zurück. Nur so. Zum Spaß. Ich erkläre daher, dass ich fortan auf Kritik jeder Art verzichte. Dieses Recht habe ich verwirkt. Ich bin ein Umweltschädiger. Ich bin ein Vernichter, einer dieser zahllosen Schädlinge. Lassen Sie ihre Wut an mir aus, wenn Sie das nächste Mal demonstrieren. Klicken Sie einfach auf das Kontaktformular meiner Webseite und schreiben mir, was Sie schon immer loswerden wollten. Etwa, wie sehr sie Billigflieger verachten. Wie moralisch fragwürdig sie Billigflieger finden. Wie unnütz im Angesicht des Elends weltweit. Zögern Sie nicht. Sie haben Recht. Ich erwarte Ihr Urteil. Schreiben Sie jetzt:

13:21

Damit Sie morgen, wenn ich London nur Bestes vom Besten kaufe und Rohstoffreserven vergeude, nicht ganz ohne Lesestoff sind, nehmen Sie dies...

 

So 7.09.03 18:10

Mehr über die Sicherheit beim Fliegen seit 9/11, über das Inselvolk der Angeln und Sachsen, ihre Geschmacklosigkeit, ihre seltsamen Vorlieben und jenseitsgewandte Rückständigkeit morgen an diesem Platz.

 

Mo 8.09.03 12:15

Das schönste Bild unserer Vater/Sohn Reise nach London hat sich in der U-Bahn-Station Holborn in meine Hirnrinde gebrannt. Am Fahrkartenautomat steht ein mittelgroßer, muskulöser Schwarzer. Er trägt einen Tarnanzug, hohe Schnürschuhe und hat eine Glatze. Nur auf dem Hinterkopf ist ein schmaler Streif Haare stehengeblieben, Mister T.
Er führt einen schneeweißen Kampfhund an der Leine, ein sehr kräftiges, aber nicht unfreundliches Tier. Auf der steilen Rolltreppe, die tief hinab zu den Zügen führt, steht Mister T. nicht weit hinter uns. Er drückt seinen Hund an seine breite Brust wie eine kleine Geliebte. Ihr Kopf liegt auf seiner linken Schulter. Sie macht einen sehr unglücklichen Eindruck. Ängstlich. Der martialische erste Eindruck der beiden ist völlig verflogen. Nun wirken sie liebevoll einander zugetan. Rührend. So ganz unpassend zu Rasse und Outfit. Kampfhund und Kämpfer.
Mehr zu London finden Sie hier.

15:33

"Der Alte (...) hatte schon mehrere Bücher vollendet, ganz besonders sein erstes: An diesem Buch hatte er (da das Bücherschreiben zu jener Zeit noch nicht sein Beruf war und er dieses Buch nur so, man könnte sagen, aus seiner eigenen, willkürlichen Laune heraus schrieb) ein gutes Jahrzehnt gearbeitet, und dann war es nur unter ziemlich widrigen Umständen - und nach dem Verstreichen von zwei weiteren Jahren - in Druck gegangen; für das zweite Buch erwiesen sich bereits vier Jahre als ausreichend; für die weiteren Bücher aber verwandte er (nachdem das Bücherschreiben inzwischen sein Beruf geworden war beziehungsweise - um genauer zu sein - es sich so ergeben hatte, dass es sein Beruf geworden war) (weil er sonst keinen Beruf hatte) nur noch die zur ihrer Fertigstellung notwendige Zeit, im wesentlichen proportional zur Dicke der Bücher - denn er musste (nachdem es sich so ergeben hatte, dass es sein Beruf geworden war) bestrebt sein, möglichst dicke Bücher zu schreiben, in seinem eigenen Interesse, dieweil dickere Bücher auch dickere Honorare einbrachten als dünne Bücher, für welche - da sie dünner waren - auch die Honorare dünner waren (proportional zu ihrer Dünnheit) (und unabhängig vom Inhalt) (nach der vom Minister für Kulturelle Angelegenheiten - im Einvernehmen mit dem Finanzminister, dem Minister für Arbeitsangelegenheiten, dem Vorsitzenden des Staatlichen Material- und Preisamtes sowie dem Staatlichen Gewerkschaftsrat - erlassenen Verordnungen 1 / 1970.III.20.MM, betreffend die Bedingungen für Verlagsverträge und Autorenhonorare).
Nicht dass der Alte darauf gebrannt hätte, ein neues Buch zu schreiben.
Nur war schon seit langem kein Buch mehr von ihm erschienen.
Wenn es so weiterging, würde sein Name bald in Vergessenheit geraten.
Was den Alten - für sich betrachtet - im übrigen nicht im mindesten gestört hätte.
In gewisser Hnsicht - und das war gerade der Haken - musste es ihn allerdings dennoch stören.
Nur noch wenige Jahre, und er erreichte die Altersgrenze: Er könnte Schriftsteller im Ruhestand werden (ein Schriftsteller also, der es sich mit seinen Büchern verdient hat, keine Bücher mehr schreiben zu müssen) (obwohl er es natürlich tun könnte, falls er doch Lust dazu hätte).
Das war - wenn er von allen nebulösen Vorstellungen absah und sich ans Handfeste hielt - das eigentliche Ziel seiner literarischen Arbeit.
Um also keine Bücher mehr schreiben zu müssen, musste er noch einige schreiben.
Und zwar möglichst viele." (1)

 

Di 9.09.03   9:11

Selten senden Leser Signale.
Diese hier kamen heute früh und freuen mich sehr:

wir halten den kurs kapitaen

die sichtung des weissen wales ist schon
einige zeit her

geduld nemo
geduld
rom brannte auch nicht in einer nacht ab

und die sieben weisen
waren nicht mehr jung

an manchen tagen
steche ich meine harpune
in den fetten wanst
der gesellschaft

geduld
im meer schwimmen
viel zu viele fische

ich bin der hai
ein grinsen zum grusse


(cornelia travnicek)

 

Mi 10.09.03   10:59

Cha cha cha.

11:56

Verblöden auf hohem Niveau.

 

Do 11.09.03 9:06

Herr Bauer spülte gerade, als sein Sohn (er hatte einen Sohn und zwei Töchter) aufgeregt rief, er solle mal ins Wohnzimmer kommen, schnell! Herr Bauer trocknete sich die Hände ab und ging nach nebenan. Sein Sohn saß vorm Fernseher. "Da!" sagte er. Herr Bauer starrte auf den Fernsehschirm. Sah die Türme. Das Feuer. Hörte den Kommentar. Und sagte: "Endlich zeigt es diesen verfluchten Amerikanern mal jemand."

12:37

"Die Ideologie, mit der Washington in den "Krieg gegen den Terror" ging, stand lange vor dem 11. September zur Verfügung. Was Bush verbal radikalisiert, haben schon die Washingtoner Unterstützer des Chile Putsches vor genau 30 Jahren und davor die Vietnam Krieger nutzen können: die missionarische Vorstellung, im Besitz der Wahrheit über die bester aller Welten zu sein. Und die Sicherheit, dieses Konzept allen anderen mit fast allen Mitteln aufzwingen zu dürfen. Die Tatsache, dass sich "das Gute" anhand der Mittel seiner Durchsetzung selbst dementieren kann, ist in dieser Denkschule traditionell unterrepräsentiert. (...) Geradezu zwingend greift Washington also zur Lüge, um das eigene Vorgehen moralisch zu rechtfertigen." (2)

 

Fr 12.09.03  9:14

Präzisierend muss hinzugefügt werden, dass Herr Bauer nicht:
"Endlich zeigt es diesen verfluchten Amerikanern mal jemand" sagte.
In Anlehnung an die anglo-amerikanische Alltagsvulgarität fucking sagte er:
"Endlich zeigt es diesen verfickten Amerikanern mal jemand."
PS.
Bei Kriegseintritt in Irak wünschte er ihnen ein zweites Vietnam.
Auch sonst wünscht er ihnen nichts Gutes.
PPS:
All diese Äußerungen beziehen sich auf die amerikanische Führung und sind nicht als Zynismus gegenüber dem Leid der geschundenen Menschen zu verstehen.
Der Zynismus gilt den Schindern, wenngleich Herr Bauer natürlich weiß, dass man ihnen damit nicht das Handwerk legt.

10:49

Ich schlafe den unruhigen Schlaf derer, denen das ICH unheimlich ist und für jede Lüge gut.

 

Sa 13.09.03   10:47

Frau Bauer wandte ein, dass Herr Bauer so etwas nie hätte sagen dürfen. Vor allem nicht ins Anwesenheit ihres Sohnes. Was, so schalt Frau Bauer ihren Mann, solle der denn nun denken?
Herr Bauer wandte ein, dass es in einer zerrissenen Welt darauf ankomme, klare Texte zu sprechen. Diplomatische Schönfärberei sei Sache der Diplomaten. Er, Herr Bauer, habe damit nichts mehr im Sinn. Ihm werde wohl bald der Kragen platzen.
Und was dann? fragte Frau Bauer ängstlich.
Das wisse er noch nicht, murmelte Herr Bauer, wenngleich er sich vorstellen können, dass....
Nein, sagte Frau Bauer, das tust du nicht.
Doch, sagte Herr Bauer. Das tue ich wohl.
Wenn du das tust, dann....sagte Frau Bauer.
Was dann? sagte Herr Bauer spitz, der einen Angriff auf seine innersten Überzeugungen erwartete und bereit war, sich mit allem zu verteidigen, was ihm zur Verfügung stand. Vulgäre Ausdrücke, Brutalität, dumpfe Schläge in verschiedene Körperregionen. Das ganze Spektrum undiplomatischer Aktionen also.
Nun? Ich warte.
Frau Bauer war einen Schritt zurückgetreten.
Mach doch was du willst! sagte sie.
Worauf du dich verlassen kannst! sagte Herr Bauer drohend, ohne wirkliche Vorstellung von dem, was er denn eigentlich tun wollte. Sich demonstrativ wegzusprengen behagte ihm nicht. Er hätte ja nicht einmal gewusst, woher denn den Sprengstoff zu nehmen.
Sich auf öffentlichem Platz zu verbrennen wäre ihm zu schmerzhaft gewesen. Auch all die anderen drastischen Maßnahmen zur Demonstration seiner öffentlichen Missbilligung der politischen Verhältnisse der ihm bekannten Welt waren ihm zu schmerzhaft.
Am liebsten wäre ihm der plötzliche Herztod, denn damit wären alle diese Verwirrungen mit einem Schlage beendet, aber von solch glücklichen Wendungen im Leben eines Menschen las er immer nur in der Zeitung. So lange der also nicht eintrat, musste er sich etwas anderes einfallen lassen. Nur was?
Komm, lass uns ficken, schlug Frau Bauer vor.
Ob das etwas ändert? sagte Herr Bauer.

 

So 14.09.03 8:51

Natürlich nicht, sagte Frau Bauer. Ich meinte auch nur.
Herr Bauer, längst nicht mehr Herr aller anwendbaren Praktiken und verunsichert von großen und kleinen Unregelmäßigkeiten, seltsamen Stühlen, verwirrenden Träumen, ordentlichen und außerordentlichen Einflüsterungen zu jeder Tages- und Nachtzeit, beschlichen von ständig wechselnden Ahnungen und Einsichten, furchterregend, falls sie je Wirklichkeit würden, Herr Bauer senkte den Kopf, denn diese Demütigung übertraf alles, was ihn seit dem Kollaps seines kleinen, florierenden Geschäfts vor etwa fünf Monaten bedrückte. Er versuchte, sich mit einem "Aufritte nur an hohen Feiertagen" aus der Affaire zu ziehen, wusste jedoch sofort, dass er seine Niederlage damit nur um ein vielfaches vergrößerte. Zum Glück gab es noch das Auto und die Autobahn. Dorthin begab er sich und linderte seinen Schmerz bei ca. 225 KmH. Als er nach Stunden zurückkehrte, zeigte er sich einsichtiger. Also gut, sagte er, lass es uns versuchen.

9:07

Der Auftritt des spanischen Tänzers und Choreographen Vicente Saéz war kleine und große Stadt, Weltstadt und Kosmos, und darin ist er Herr jeder Bewegung. Mit Leichtigkeit ist er unterwegs, um die Welt reicher zu machen und ihr etwas vom Dunkel zu nehmen. Tanzt die Gefühle, die Menschen prägen, die ihn schmerzen und froh machen, hat mein Herz getroffen, ohne dass ich sagen könnte, wieso das so war, wie denn dieser tanzende Mensch das angestellt hat, Leichtes und Schweres, Frohes und Böses, und das nur mit sich und ein wenig Licht und Musik dann und wann. Vicente Saéz hat in den Metropolen der Welt getanzt, und jetzt in Münster. Worauf ich fast stolz bin.

16:06

Und, war das nicht schön? fragte Frau Bauer.
Es ging! antwortete Herr Bauer.
Es ging?
Ja, ich hatte es anders in Erinnerung.

21:31

Saßen vorm Haus des Staatsanwalts und applaudierten 5000 Marathonläufern, die einzeln, in kleinen und größeren Gruppen, in guter und weniger guter Verfassung zwischen 13:00 und 16:00 vorbei liefen, jeder in einen Kampf mit sich und den verbleibenden vierzehn Kilometern vorm Ziel verstrickt. Riefen Aufmunterndes, etwa: Amphetamine, Vitamine, Endorphine, wellten die Ola-Welle, tranken Tee und klatschten 5000 Mal.

 

Mo 15.09.03  15:11

Und dann hätte Herr Bauer fast einen Fehler begangen. Bremste sich aber im letzten Moment und so wird Frau Bauer nie etwas von den Frauen erfahren, die Herrn Bauers Weg auf die ein oder andere Weise gekreuzt hatten und noch immer in seiner Erinnerung lebten. Er konnte sich zwar kaum noch an Namen und Gesichter erinnern, ansonsten aber an viele Details. Zum Beispiel an seine Freude, als er an einem kühlen Sommerabend im örtlichen Stadtpark zum ersten Mal einen Venushügel anschauen durfte.

 

Mi 17.09.03   7:55

Herr Bauer hat auch die Berge gesehen. Aber das ist eine andere Geschichte.

9:01

erschütterndes aus dem hause men-sing:

o wie grämt sich meister men-sing
über alle eisen, die im feuer warten
könnten die verwerter denn nicht heut schon
ihren weisen ratschluss ihm verraten
ihn mit positiver nachricht auf die nächste stufe heben
oder aber ignorieren eben
wie es ausgeht wissen sowieso nur götter
beltz & gelberg oder fischer
gibt es bargeld satt und schönes wetter
oder wird es wieder frischer
wie es ausgeht ist dem meister letztlich doch egal
denn in depressionen macht ihm niemand etwas vor
früher war es häufig liebesqual
heute tanzt er überall den tor
macht fürs radio den affen
tanzt fürs buch den chachacha
lässt von kindern sich begaffen
und ist unbegreiflich fern und nah
muss wohl seine harte jugend sein, die ihm stets auf neue in die suppe pisst
fazit: glück ist meister m. ein rätsel, dass er sie bloß nie vergisst.

18:16

Ich stelle auf dre Lnadesgratesnhcau (LAGA), die seit April dieses Jhares auf dem ehmeailgen Bertiebsgelnäde der Textliinudstire in Gronau (westliches Münsterland) und Holland sttatfnidet und bshier übre eienn Million Bseucher angleokct hat, mienen Roman Abends am Meer vor.
Ich wrede das vor ca. 300 Shcülren tun. 300 Schüler snid eni vredammt hartre Brcoken. Fünfzig Hröer sind in etwa die Regel, auch vor über 300 habe ich scohn eimnal gleesne, aber da ging es ums Gruseln.
In meinem neuen Roman aber geht es um Liebe, ein hekiles Thmea und ich kann sie shcon höern, die pubreteirenden Giggler, die bürllenden Sich-in-die-Rippen-Stoßer, die Prsuter, die Fülsterer.
Ich wrede da stheen und ruhgi sein. Ich wered kenien Schritt wechien und jede Prvookation abpuffern. Ich werde sie mit ihren eigenen Waffen schlagen. Voraussetzung wird sein, dass ich dann nicht - wie gestern und heute - drei Viertel krank auf Sofas liege, darauf warte, dass mein Kopf wieder klar wird und sich die Erkältung verzieht. 300 Jungen und Mädchen. Ich muss wahnsinnig sein. 300 Menschen und nichts als eine Geschichte plus Stimme. Herzlichen Glückwunsch.

 

Do 18.09.03  9:10

Der Nazi ist ein Arschloch, ich bin eins, der linke Attentäter ebenso, der Israeli, der Palästinenser, der Ami, der Russe, wir sind Arschlöcher, jeden Tag gehört uns das um die Ohren geschlagen, auf dass nie niemand nichts vergisst, denn das Arschloch liebt nichts mehr, als sich zusammen zu kneifen und im Dunkeln zu stinken.
Das muss verhindert werden.
Daher bitte ich an diesem wundervollen Spätsommermorgen inständig um Vergebung für alle Dummheiten.
Kommen Sie einfach am Dienstagfrüh 11:15 zur Bürgerhalle in der Landesgartenschau Gronau und bewerfen Sie mich mit Überraschungseiern. Nennen Sie mich, wie Sie mich immer schon nennen wollten, dann hätte ich zumindest das Gefühl, Spuren hinterlassen zu haben.
So bleibt alles vage.

Vor mir liegt die fünfte Folge meines neuen Ohrenbären. Im Augenblick weiß ich wenig bis nichts über ihren weiteren Verlauf, zum Abend aber wird sich das geändert haben. Dann könnte Folge 5 fertig sein. Mit dem Ergebnis, dass mir Folge 6 dann schleierhaft ist.
Ein schöner Beruf, dieses Stochern im Nichts.

12:06

Folge 5 ist fast fertig. Spare mir den Rest für den Nachmittag. Werde nun mit dem Rad eine Runde drehen, um nicht gänzlich vor Einsamkeit und nicht geschriebenen Geschichten den Verstand zu verlieren.

15:55

Liebe Kollegen,
hier zur Abstimmung noch einmal die facts:

Termin: Di., 23.9.2003, 11.15 Uhr
Ort: Bürgerhalle ( bei gutem Wetter wird um 09.00 Uhr entschieden, die Veranstaltung ggfs. auch auf der Festplatzbühne zu machen )
Technik: Audio-Konzept, Jürgen B.( Bürgerhalle/Festplatzbühne )
Publikum: 250 Schüler und Lehrer der Realschule Gronau; erhalten kostenlosen Zugang über Haupteingang Süd
Der Autor Hermann Mensing und die "Buchhandlung am Markt" werden gebeten, über den Künstlereingang/Festplatz ( Tor 8; Spinnereistraße ) zu kommen und sich bei der Security zu melden.
Info an Franz van A. ( Bürgerhalle )

 

Fr 19.09.03   9:23

Mögliche Eröffnung:

Guten Tag,
ich heiße Hermann Mensing, ich bin in dieser Stadt geboren, ich bin hier zur Schule gegangen, habe hier eine Lehre absolviert, meinen Zivildienst auch, dann bin ich fort.
Heute bin ich hier, um euch mit zwei mächtigen Drogen bekannt zu machen.
Beide sind legal.
Beide können euch in den Himmel schicken und in die Hölle.
Die eine hat ihren Siegeszug um die Welt Mitte des 15. Jahrhunderts begonnen.
Damals erfand jemand den Buchdruck, lieh sich 1550 Gulden und druckte das erste Buch.
Bücher haben Menschen und Gesellschaften verändert.
Alle Revolutionen, alle sozialen Umwälzungen, gute und schlechte, haben sich in Büchern angekündigt.
Bücher kann man an jedem Ort zu jeder Zeit für sich nutzen.
Allerdings muss man wissen, wie.
Damit diese Reise beginnen kann, muss man lesen lernen.
Die Türen öffnen, die einem erlauben, die geheimen Räume der Bücher zu betreten.
Deshalb stehe ich auf dieser Bühne.
Die andere Droge, von der ich sprach, gibt es, seit es Menschen gibt.
Man nennt sie Liebe.
Darum geht es in in diesem Buch.
Es heißt Abends am Meer und spielt in Gronau.
Also hört zu.

10:47

Zwei südostasiatische Frauen auf Fahrrädern überqueren die Straße. Ein Handy beginnt zu dudeln. Beide Frauen steigen ab. Die zweite fördert ein Mobiltelefon aus den Tiefen ihrer Einkaufstasche an ihr Ohr und sagt: Hallo. Ja. I bin mit Lad. Ja. Jetzt. Bin Einkauf. Gleich. Ja.
Schönes Deutsch an einem sonnigen Morgen. Dafür lieben wir den Zugereisten. Er macht Freude und bestätigt gern unsere Vorurteile.

 

Sa 20.09.03 1:00

Wir sind Seeed, und das ist unser Gebiet, singende Caballeros auf 'nem bombigen Beat...

13:41

Ob es in Nazi-Hirnen genügend Speicherplatz gibt, zu erkennen, wie dämlich man ist? Wahrscheinlich nicht. Wahrscheinlich reicht es gerade zum Deutschen Gruß und zu tiefsitzenden, durch keinerlei Erfahrung begründeten Vorurteilen und Gewaltfantasien. Wie dämlich muss man eigentlich werden, um verboten zu sein? Bitte liebe Nazis, geht doch in die USA, feiert da, geht doch Bullenreiten.

15:32

Gestern 19:45 in der Schlange vorm Einlass zum Seeed Konzert: Ein dunkelhaariger junger Mann geht mit gesenktem Blick suchend an mir vorbei und ruft seinem Freund zu, "ich finde das schon". Wonach er denn suche, frage ich, schon gut, weicht er aus und sich sage, "ach dein Piece", worauf er mich kurz und ein wenig erschrocken anschaut, sich schnell abwendet, zu seinem Freund geht und sagt "dreh schon mal einen".
Höchst druckvolles Konzert, nicht zu laut, Chris und ich die ältesten Konzertbesucher, endlich wissen wir wieder, das Leben geht weiter, wir sind nicht mehr jung, aber wir teilen die ein oder andere Vorliebe. Hingehen, falls Seeed in der Nähe spielt. Spielfreude pur, hohe Musikalität, guter Gesang, Witz, Energie.

 

So 21.09.03     10:30

Durfte einen der Höhepunkte deutschen Fernsehschaffens schauen. Mike Krüger suchte Deutschlands besten Doppelgänger. Wochenlang hatte ein Autorenpool an witzigen Dialogen gearbeitet, die Mike und seine Ko-Moderatorin Nassan flüssig aufsagten, immer wieder von donnerndem Applaus gekrönt, den die Zuschauer unter Androhung von Elektroschocks spendeten.
Meine heilige Unschuld, auf die ich so viel halte, wurde wieder einmal befleckt.
Hätte beim Bäcker gerade fast auch noch die Bild am Sonntag gekauft, denn Frau Juhnke hält es nicht mehr aus und Olli Kahn hält keine unhaltbaren Bälle mehr.
Kam rechtzeitig zu Verstand und führte mit meiner Frau stattdessen ein Gespräch über Leichenflecken, zunehmende Demenz, Potenzstörungen, über Schlabbern beim Essen und ähnliche Torheiten, die dem älter werdenden Menschen das Leben so lebenswert machen.
Während wir saßen und den Tod herbeisehnten, torkelte der in tiefem Unglück mit sich selbst brabbelnde Alkoholiker vorüber, der am Ende der Straße wohnt, Hundebesitzer hielten ihre Vierbeiner zum Scheißen in Vorgärten an, das junge Ehepaar plus Kind von nebenan verließ fluchtartig die Wohnung, in der es es nie länger als 12 Stunden an einem Stück aushält, die nikotinverseuchte Familie über uns hustete im Chor mit seinem Nachkömmling, die Frau mit dem dicken Arsch und den kurzen Beinen raste auf den letzten Drücker mit dem Rad zur Kirche, auf dass bloß kein Fleck auf ihre Anwesenheitsliste falle, alles in allem war alles wie immer, wir legten unsere Heiligenscheine an und leuchteten still.

12:09

erschütterndes aus dem hause men-sing:

und wie plötzlich falten sich wie spalten auftun
gestern waren sie doch noch nicht da
und wie fies die eigenen geister dich dann ausbuhn'
gestern war doch alles wunderbar
und wie großartig das letzte graue haar jetzt glänzt
gestern war die glatze doch nur halb so groß
und wie die protese eins den biss ergänzt
gestern war doch höchstens eine krone los
hach, das leben ist ein abenteuer
unerträglich heiter ungeheuer
voller lust und hundsgemeiner stand-up comedy
fick mir daher heut ins knie

15:19

"Die Zeit bereitete Steinig (...) immer ein wenig Probleme; solange er in ihr lebte, schien sie ihm unendlich, doch betrachtete er sie als Vergangenheit, so kam ihm die Zeit fast wie nichts vor, ihr Inhalt hätte womöglich sogar eine einzige Stunde, in einem anderen, irgendwie wirklicheren, man könnte sagen essentielleren Leben vermutlich - sann Steinig - in eine untätige, eine Dämmerstunde gepasst, etwa vor dem Abendesen, wenn man gerade nichts Besseres zu tun hat und es ohnehin gleichgültig ist, und schließlich - ging es Steinig flüchtig durch en Kopf - würde vielleicht ein ganzes Menschenleben auf diese Weise vergehen, sein Leben, an das er dann einmal würde zurückdenken können wie an etwas, das er womöglich sogar in einer einzigen Stunde hätte erledigen können, das übrige wäre reine Zeitverschwendung gewesen, schwierige Lebensumstände, Kampf - wozu eigentlich?" (3)

 

Mo 22.09.03   12:13

Mitten in der Vorbereitung für morgen. Kürze hier und da, um eine möglichst spannungsgeladene Lesung abliefern zu können. All die reflektierenden Teile lasse ich aus. Das Lampenfieber wächst. Also. Werden wir siegen? Ja.

14:00

Cha cha cha....

21:40

"Seine Person hat er zu einem Gegenstand gemacht, sein hartnäckiges Geheimnis ins Allgemeine verwässert, seine unaussprechliche Wirklichkeit zu Zeichen destilliert. Der für ihn einzig mögliche Roman würde zu einem Buch unter Büchern werden, welches das Massenschicksal der anderen Bücher teilt, darauf wartend, dass vielleicht der Blick des raren Käufers darauf fällt. Sein Leben würde zum Leben eines Schriftstellers werden, der seine Bücher schreibt und schreibt, bis er sich völlig ausgezehrt und zum Skelett geläutert hat, befreit von allem überflüssigen Plunder: dem Leben." (4)

21:43

Falls Malte B. in der Nähe ist, lege ich ihm ans Herz, das Fiasko zu lesen. Ich habe es aus meinem Blickwinkel getan, er wird es aus seinem tun, andere Schlüsse ziehen, und dennoch staunen.

 

Di 23.09.03 17:16

Eine geschlagene Stunde durfte Herr M. vor 250 Schülern lesen. Sein Lohn war das Nichtdenkenmüssen währenddessen. Hervorgerufen wird dieser glückliche Zustand durch hohe Konzentration. Die zu erlangen fiel ihm diesmal nicht schwer. Herr M. hatte eine Bühne mit Licht, einen verdunkelten Zuschauerraum, er hatte ein Headset wie Britney Spears, und eine klug gekürzte Romanfassung, die es ihm ermöglichte, bis auf Seite 89 zu gelangen. Den Rest legte er seinen Hörern zur eigenen Erkundung ans Herz.
Leider hat das Denken nun schon wieder begonnen. Aber das macht nichts. Die Erinnerung bleibt und nächste Woche schon darf Herr M. schon wieder lesen. Vor Grundschülern dann, und er weiß auch schon was: Pitti Pörtner und der kleine König vor den ersten zwei Jahrgängen, Der zehnte Mond vorm dritten und Voll die Meise vorm vierten.

21.24

Vermelde den 10.000ten echten Zugriff.
Hochdeutsch: 10.000 Menschen haben sich seit Sitelaunch eingeloggt.
Ich gratuliere mir. Danke.

 

Mi 24.09.03 14:28

Verkostete nach der Lesung ein wenig von H.'s neuer Ernte. Während die Trinker sich ihrer Droge auf großen, weltweit bekannten Festen bis zur Bewusstlosigkeit widmen, sind wir Cannabis-Raucher eher still und genießen im Verborgenen. Was mir entgegen kommt, denn ich mag Massendelirien nicht und die dabei gespielte Musik schon gar nicht.

 

Do 25.09.03 13:46

Äußerst mühselig geht es voran, ich umkreise den Schreibtisch wie die Wespe den Apfelpfannkuchen, den ich gerade aß, ich bin viel zu müde, um gefährlich werden zu können. Die Berichterstattung zu meiner Lesung fiel knapp aus: ein Foto mit Unterschrift, dass 250 Schüler mir gebannt an den Lippen gehangen hätten.
Man stelle sich vor: 250, an meinen Lippen.
Hätte danach sicher eine afrikanische Tellerlippe gehabt.

Tatsache ist, dass ich nach dieser Lesung vor so vielen Pubertierenden sehr froh war.
Nicht, weil sie vorüber war, sondern weil ich mich gut fühlte. Weil mir schien, dass die Geschichte angekommen war. Weil sogar ein paar Jungen kamen, um sich Bücher signieren zu lassen. Das ist mutig, denn Jungen und Liebe sind eine Sache, eine andere ist es, sich einen Liebesroman zu kaufen und das auch noch vor aller Augen.

Ich bin froh, dass schon nächste Woche wieder drei Lesungen stattfinden. Wünschte, das wäre jede Woche so, ich käme dann ein wenig unter die Leute und fort von diesem Schreibtisch.

Sonst noch?
Ja, zwei meiner Gedichte werde auf der Kinderseite des Berliner "Tagesspiegel" erscheinen.

16:35

Nicht, dass ich nicht wüsste, dass Nachtigallen auch tagsüber sängen, aber gehört hatte ich sie noch nie. Heute früh jedoch, auf meinem Spaziergang, hörte ich einen Vogel singen und von allen Melodien, die ich identifizieren kann, schien es mir wie Nachtigallengesang. Und gerade eben hörte ich es schon wieder. Dabei könnte es doch durchaus sein, dass Nachtigallen Teilzieher sind oder ganz und gar für den Winter im Süden verschwinden, oder? Ich weiß nicht, jedenfalls habe ich gehört, was ich gehört habe, und das war sehr schön.

20:13

27 israelische Piloten weigern sich, Angriffe auf palästinensische Ziele zu fliegen.
Schlage sie für den diesjährigen Friedensnobelpreis vor.
Man stelle sich vor, zwischen 1933 und 1945 hätten mehr Menschen in Deutschland mitgedacht!

 

Fr 26.09.03 11:13

trömm noll schna.

13:03

Es whet übre die Starsse, tuamlet, hta die Frabe vno Pfredebult, stiegt, snikt, ladnet und bleibt. Ein Weinblatt. Dazu gläznen Altwiebrefdäen.

 

Sa 27.09.03 11:45

"Tatsache ist, in diesem Jahrhundert hat sich alles entlarvt, hat wenigstens einmal alles sein wahres Antlitz gezeigt, sich als das offenbart, was es eigentlich ist. Der Soldat als berufsmäßiger Mörder, die Politik als kriminelle Machenschaft, das Kapital als menschenvernichtendes, mit Leichenverbrennnungsöfen gerüstetes Großunternehmen, das Recht als Spielregel fürs schmutzige Geschäft, die Weltfreiheit als Völkergefängnis, der Antisemitismus als Auschwitz, das Nationalgefühl als Völkermord. (...) Wir sehen also, dass die politische Begriffe ihren Inhalt gleichermaßen verloren haben, wie die Ideologien inzwischen völlig entleert sind. In diesem Jahrhundert sucht jeder nach seiner Identität, was von tiefer Verunsicherung der Menschen zeugt (...) Was ist recht und was ist schlecht? Wie hat man richtig zu leben? Die Worte des großen Tschechow klingen aus der Entfernung eines Jahrhunderts in mein Ohr: "Ich weiß es nicht, auf Ehre und Gewissen, ich weiß es nicht..." (5)

 

So 28.09.03 16:42

"Vom ersten Augenblick an, da ich zu schreiben begann, bin ich mir über die Nichtigkeit meines Tuns im klaren gewesen. Ich könnte auch sagen, die Nichtigkeit des Schreibens hat mich zum Schreiben gebracht. Um die Nichtigkeit unserer Person, unserer Individualität, unseres Daseins zu erkennen, gibt es keine bessere Schule als die, durch die ich gegangen bin. Darum haben die Form und die Sätze, die mir vorschwebten, mir nie eine Wahl gelassen. Es ist nicht meine Sache, über ein Blatt Papier gebeugt, darüber nachzusinnen, wie ich meinen Stoff in die gefälligste Form kleiden könnte. Ich fühle mich immer dann in Sicherheit, wenn es für mich nur eine einzige Möglichkeit gibt, den sogenannten Stil, das heißt, mein Verhältnis zum Gegenstand zu bestimmen." (6)

 

Mo 29.09.03 9:46

Endlich herrscht wieder das Wetter, mit dem ich sozialisiert worden bin. Es hat geregnet, es wird wieder regnen. Ich bin glücklich, nicht wie meine Urväter in einer Lehmhütte zu hausen, ohne Strom, ohne fließend Wasser etc. undsoweiter pp. Ich schaue hinaus und begreife, dass meine Lebensgeister jetzt jeden Augenblick erwachen könnten, ich litte dann zwar unter Arbeitswahn, aber das wäre immer noch besser als die unendliche Ruhe der nicht enden wollenden Sommertage mit 35 Grad im Schatten.
Gleich würde ich den zur Hälfte geschriebenen Roman (Tilli, Geige und die Birkenbande) beenden, ich schriebe noch heute die letzte Folge einer Radioerzählung, ich machte mich daran, die Welt zu erobern und wäre auf dem höchsten Gipfel der Möglichkeiten.
Zunächst aber gilt vorsichtiges Umschleichen der genannten Arbeiten, denn die Erfahrung sagt, dass zu großer Eifer alles mit einem Satz zunichte machen kann.
Tief im System spüre ich schon die drei Lesungen, die ich am Mittwoch habe. Werfe schon verstohlene Blicke auf die Bücher, aus denen ich lesen werde.
Also, immer gleicher Leser, nie dich meldender Internet-Spanner, vergeblich herausgeforderter Voyeur, das wundervolle Spannlaken eines Tiefdruckgebietes hält den Himmel mit warmem Grau in Schach, mein Fenster ist weit geöffnet, ich habe Kaffee getrunken, ich habe ein kleines Frühstück zu mir genommen, im Keller nimmt eine Waschmaschine mir Arbeit ab, und wenn Sie wissen wollen, was ich gleich tatsächlich tun werde, lesen Sie dies und denken Sie sich die letzte Folge.....

15:27

Alles ging gut von der Hand. Nun wird man (falls man mich vorlässt) an höherer Stelle darüber beraten. Dort arbeiten Menschen, die alles besser wissen. Die zu jedem Dreh einer Geschichte einen anderen Dreh kennen, die glauben, was unglaublich, und bezweifeln, was unbezweifelbar ist, die lechts und rinks nie verlwechsern und Fünf niemals gerade sein lassen können.
Wieso ich mich mit solchen Menschen überhaupt einlasse? - Gute Frage.
Aus Geltungssucht, aus dem Willen zu Ruhm und Ehre zu gelangen, aus der Hoffnung, endlich einmal Geld einzusacken. Darum. Man könnte auch so sagen: aus niederen Motiven. Schönen Tach noch.

 

Di 30.09.03 10:26

1. Versuch:
Herr Bauer hat sich eine Alu-Leiter besorgt. Diese hat er sorgfältig aufgestellt, schließlich will er sicher sein, dass beim Absprung nichts wackelt. Als alles vorbereitet ist, vollführt er eine letzte rituelle Waschung. Dann steigt er auf die oberste Stufe der Leiter, breitet die Arme aus und springt. Bruchteile später landet er bäuchlings auf seinem Bett, das unter ihm nachgibt und zusammenbricht. Herr Bauer ruft: Scheiße.

2. Versuch:
Herr Bauer hat sich ein Kopftuch besorgt. Dieses hat er sorgfältig in Augenhöhe um seinen Kopf gebunden, schließlich will er sicher sein, dass er nichts sieht. Als alles vorbereitet ist, geht er los. Er will seine rituelle Waschung vollführen, hat aber vergessen, dass er das Kopftuch schon umgebunden hat und stößt mit der Stirn hart an eine Türfassung. Die Türfassung gibt nach und bricht aus dem Rahmen. Herr Bauer ruft: Aua.

3. Versuch:
Herr Bauer hat sich Flügel besorgt. Diese hat er sorgfältig umgeschnallt, schließlich will er sicher sein, dass der Flug gelingt. Als alles vorbereitet ist, vollführt er eine letzte rituelle Waschung. Dann öffnet er die Dachluke seines Wohnhauses, steigt hinaus, wendet sich gegen den Wind und springt. An der Dachtraufe verfängt er sich und wird von der Feuerwehr gerettet. Herr Bauer ruft: Wichse verdammte!

Vorschläge für weitere Versuche, das Leben zu meistern und in all seinen Zügen zu genießen, werden gern entgegen genommen.

13:01

In der Folgezeit stieß Herrn Bauer schnell auf, was er bei der Suche nach Wahrheit (der hatte er sich bisher verpflichtet gesehen) immer außer acht gelassen hatte: die Möglichkeit nämlich, dass diese gar nicht existierte. Dass sich jeder nur auf seiner Bühne bewegte, seinen Text sprach, seine Beleuchter kannte und grüßte, seinen Inspizienten beim Schach besiegte oder ihm unterlag, seinen Regisseur hasste und liebte, dass jeder sich nur mit seinem Publikum stritt, von dessen Existenz wiederum auch nicht klar war, ob und auf welcher Ebene es existierte und ob der Beifall, den es spendete oder versagte, tatsächlich in Zusammenhang mit der Leistung stand, die man ihm bot.
Kurz, Herr Bauer fiel es wie Schuppen von den Augen.
Statt sich also weiter der Wahrheit in den Rachen zu werfen, könnte er es genausogut mit der Lüge probieren. Hatte denn jemand schlüssig nachweisen können, dass da ein Unterschied war?
Nein. Herr Bauer wusste von keinem Beweis, wusste nur von der Größe mancher Bühnen und der stickigen Enge anderer, aber auf allen wurden Texte gesprochen und zu allen Texten sagten die einen dies und die anderen das. Scheißdreck verfluchter! sagte Herr Bauer.

17:05

Ich beende den Monat mit diesem Foto.

© 2003 Jan Mensing

Aloha....

 

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1. Imre Kertész: Fiasko, Büchergilde Gutenberg 1999 // 2. FR 11.09.2003 Kommentar: Stephan Hebel // 3. Imre Kertész: Fiasko, Büchergilde Gutenberg 1999 // 4. Imre Kertész: ebd. 5. Imre Kertész: Rede über das Jahrhundert in: Imre Kertész: Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommanda neu lädt, Essays, Rowohlt 1999 // 6: Imre Kertéz: Nachwort zu: Der Spurenleser, Suhrkamp 2002 //

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