September 2018 www.hermann-mensing.demensing literatur
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Sa. 1.09.18 18:49 sonnig
Seit die Hitzewelle vergangen ist, wird es abends schnell frisch und gegen neun dunkel. Die Wiesen, vor vierzehn Tagen noch durchweg verbrannt, haben sich deutlich erholt. Nur ich erhole mich nicht. Ich weiß nicht, was ich soll auf der Welt. Ihr Zustand ist Grauen erregend.
So 2.09.18 9:57
Call me Richard Kimble.
20:53
S. fuhr für die Landwirtschaftskammer von Hof zu Hof und prüfte, ob die Angaben, die die Bauern hinsichtlich der Fördergelder aus Brüssel gemacht hatten, stimmten. Hatte B. wirklich, wie angegeben, fünfzig Schweine, oder waren es nur zwanzig? Die Bauern schenkten S. ein, um ihn günstig zu stimmen. Zum Glück fuhr sein 220er Diesel fast von allein. Das bisschen Land, dass er selbst noch bewirtschaftete, hielt ihn am Wochenende und bis in den späten Abend auf Trab. Die Nachbarn nannten ihn Mondscheinbauer. S. hatte eine depressive Frau, deren Vater sich erhängt hatte. Seine Schwiegermutter lebte mit im Haus, ein Drachen, die er am liebsten klein gehackt und dann mit dem Traktor überfahren hätte. Als sie schließlich von selbst starb, wurden die Dinger nicht besser, denn nun ging es mit seiner Frau bergab. Sie versuchte sich umzubringen. Sie wurde gebrechlich. Manchmal musste er sie zwei, dreimal pro Nacht zur Toilette bringen und anschließend reinigen. Der Mondscheinbauer trank immer mehr. Manchmal stand er mit vollgepinkelten Hosen vorm Haus und weinte. Dann starb er. Seine Frau ging nicht zu seiner Beerdigung. Jetzt hat sie eine Betreuerin und blüht auf.
23:31
Morgen früh setze ich mich aufs Rad und fahre nach Westen. Mir ist nach alten Geschichten, (Ahaus, die erste Freundin), nach Heimat (Gronau) und Grenze. Mal sehn, wen ich sehe. Mal sehn, ob ich jemand besuche.
Mo 3.09.18 19:25 bedeckt, nachmittags schwül
Nach 97 auf dem Rad zurückgelegten Kilometern lasse ich Harz in Rauch aufgehen, lege die Bein hoch und synchronisiere mich mit dem Universum. Es hat eine Nachricht für mich. Etwas mehr als siebzig Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges, sagt es, solltet ihr Deutschen nicht immer noch so tun, als wärt ihr etwas Besonderes, sondern hinnehmen, dass es bei euch wie in jedem Land dieser Welt Idioten gibt, die ihr Nazis nennt, die anderswo anders heißen, aber den euren in Dummheit und Aggressivität in nichts nachstehen. Gegen solche Menschen kann man nichts tun. Man muss sie, wenn möglich, entlarven, ansonsten hoffen. Auf keinen Fall aber ständig über sie reden, das macht sie nur geiler. Schön ist das nicht, aber es gibt sie, liebe Deutsche, warum auch nicht. Findet euch endlich damit ab. Werdet normal.
Di 4.09.18 12:53 bedeckt, schwül
Es gibt glückliche Menschen, ich erkenne sie, wenn ich sie treffe. Gestern habe ich einen getroffen. Diese glücklichen Menschen scheinen die Welt und sich selbst durch ihr Tun wahrzunehmen. Von früh bis spät tun sie etwas, was andere Arbeit, sie aber Glück nennen. Vor allem Menschen, die mit den Händen und der Erde arbeiten, Gärtner zum Beispiel scheinen dem Glück nah. Ich habe auch eine Arbeit, die ich von früh bis spät tun kann, besser, tun könnte, wenn sich ihr Sinn mir entschlösse. Sinn zu erwarten ist der größte Fehler, den man auf der Suche nach Glück machen kann. So blieb mir gestern nichts, als diesem glücklichen Menschen bei seiner Arbeit mit Blumen und Schönheit zuzuschauen, ein Mensch übrigens, mit dem ich drei Jahre gemeinsame Vergangenheit teile. Auch damals war er schon glücklich. Ich verließ ihn, weil er alles, was ich sagte und tat, bejahte. Das war mir zu wenig. Vielleicht war es mir auch unheimlich. Dieser Mensch ist ganz anders gealtert als ich. Seine Haut ist gegerbt, eine lebenslange Raucherhaut. Er geht auch ein wenig krumm, sein Rheuma zwingt ihn. Ich hatte ihn besucht, weil mich das Heimweh trieb. Dann und wann habe ich Heimweh nach früher, nach meiner Stadt, nach Eingeborenen. Nach etwas mehr als einer Stunde verließ ich ihn. Ich fuhr durch das Weiße Venne über die grüne Grenze nach Enschede, traf dort auf einen Fachverkäufer für Harzprodukte, der mich lobte, als ich ihm sagte, dass ich das hochgezüchtete niederländische Gras nicht rauchen könne, worauf er mir marrokanisches Harz empfahl, das rauche er selbst und wünsche viel Vergnügen. Eine sehr gute Wahl. Ich fuhr in meine Stadt, die mich seltsam kalt ließ, und nahm den Zug nach Münster. Hier nun warte ich weiter auf einen Anruf. Die Welt soll sich bei mir entschuldigen, aber das wird sie nicht tun. Es ist also alles umsonst, es sei denn, ich könnte auf meine alten Tage noch ein glücklicher Gärtner werden.
17:36
18:02
Vor einer halben Stunde wollte ich ein Gedicht schreiben, blieb aber auf dem Rückweg von der Toilette vorm Klavier hängen. Gerade hatte ich "Ausgerechnet Bananen, Bananen verlangt sie von mir ...." gepfiffen, und immer, wenn ich ein Lied pfeife, will ich es spielen. Es ging ganz gut. Als ich auf die Uhr schaute, war es viertel vor Sechs. Ich machte die Tomatensuppe heiß, die ich mir mittags gekocht hatte. Knoblauch und Zwiebeln anbraten, Brühe, Tomaten hinzu, Salz, Pfeffer, Coriander, und Ahmeds Feuerpulver Harissa. Erst wollte ich Fleischbällchen rein tun, war aber zu faul, welche zu machen, und nahm stattdessen Büsumer Crevetten.
19:29
Zwischen Ahaus und der holländischen Grenze variierten die Kilometerangaben auf Hinweissschildern. Innerhalb der Ortsdurchfahrt Wessum waren es mal 23, dann 13 Kilometer bis Enschede, später 18 und 15, tatsächlich wurden es 25.
22:12
Ich schreibe nicht über eine Frau. Ich könnte auch gar nicht über sie schreiben, weil ich keine habe. Oft glaubt man, man brauche unbedingt eine. Aber das stimmt nicht. Meist hat man sie sowieso nur aus Angst vorm Alleinsein. Mit oder ohne Frau, was man macht, ist verkehrt. Ich weiß nur, dass ich nicht noch einmal erleben will, dass eine Frau, mit der ich zusammen bin, vor mir stirbt.
Mi 5.09.18 13:34 blauer Himmel, angenehm warm
Meine Nachbarin ist eine freundliche Frau. Wenn wir uns im Treppenhaus sehen, sprechen wir über dies und das, und so kam es vor ein paar Wochen, dass ich ihr einen meiner Romane für Kinder schenkte. Heute früh, ich war auf dem Weg in die Stadt, trafen wir uns am Briefkasten. Ach, ich hab gerade was für dich reinggesteckt. Werbung, sagt sie. Ich zieh den Umschlag raus, zerreiße ihn und will das Papier in meine Wohnung bringen. Lass mal, das nehm ich mit, sagt sie, und: übringens, ich hab den Roman gelesen, der ist ja süß. Hm hmmm, sage ich, dann bin ich draußen, setze mich aufs Rad und frage mich, welchen Roman sie meint.Ich kann das Titelbild sehen, aber der Titel fällt mir nicht ein. Die Geschichte dazu auch nicht. Die ersten zweieinhalb Kilometer Richtung Münster versuche ich verzweifelt, mich zu erinnern. Dann lasse ich ab. Auf dem Markt weiß ich immer noch nicht, wie der Roman heißt und entschließe mich, in die Stadtbücherei zu gehen und im online Katalog nachzuschauen. Ich tippe meinen Namen ein. Zwei meiner Arbeiten erscheinen? Der Roman, um den es geht, ist nicht dabei. Und all die anderen auch nicht. Haben die mich outgesourct? - Tiefschlag. - Auf dem Heimweg, ich bin in Höhe des hinteren Aasees, sage ich plötzlich Der zehnte Mond. Immerhin.
18:11
schöne tage waren das
sagt man
oder sagte man das
weil man nicht als lügner dastehen wollte
schön war das
im mercedes deines vaters
halb unter der bahnschranke
als der zug uns fast die motorhaube abfuhr
jetzt bist du immer noch
die du damals warst
und ich immer noch der
für schöne tage und lügen
bleibt kaum noch zeit
und verstehen wird niemand
version 2
schöne tage waren das
sagte man
weil man nicht als lügner dastehen wollte
schön war das
im mercedes deines vaters
halb unter der bahnschranke
als der zug uns fast die motorhaube abfuhr
jetzt bist du immer noch
die du warst
und ich auch
für schöne tage und lügen
bleibt kaum noch zeit
Fr 7.09.18 wechselnd bewölkt, ab und an Regen, mild
Das Zittern der linken Hand, nein, Parkinson sei das nicht, und auch, dass er so schlecht gehen können und seine Stimme kaum noch Volumen habe, das komme alles vom Rauchen. Auch das Blutspucken. Krebs sei das nicht, die hätten ja nachgekuckt, die hätten eine Bronchoskopie gemacht. Warum er denn nicht endlich aufhöre, wo er doch mit dem Alkohol auch aufgehört habe, schon seit fast zehn Jahren? Das schaffe er nicht, sagt der Freund, der mir lieb ist.
Sa 8.08.18 14:04 bewölkt, frisch
Ich sei doch sicher Holländer, oder? Nein, sagte ich, wenngleich mir das schmeichelte. Schließlich habe ich den Holländer in meiner Jugend täglich geübt und verfeinert, um nicht als Moff dumm dazustehen, denn das war die Regel, die Moffen, wir also, hatten in Holland keinen guten Stand. Dass meine Oma Holländerin war, Friesin, erfuhr ich erst viel später. Wo ich denn herkäme? Aus G., sagte ich, an der Grenze. Ach, sagte er. Ich auch. Du auch? Ja. Bismarckstraße 22. Und du? Eper Straße 1, sagte er. Da war doch der Zahnzart W. Im Keller, sagte ich. Ja, im Souterrain, sagte er. Das war mein Vater. Uiiii, sagte ich. War er brutal? fragte er. Ich weiß nicht, sagte ich. Jedenfalls habe ich keine guten Erinnerungen, aber vielleicht sind die auch nur von kindlicher Angst geprägt, Zahnärzte tun einem ja weh, zumal es in 50ern ja noch diese riemengetriebenen Bohrer gab. Am nächsten Tag erzählte ich meiner Schwester von dieser Begegnung. Das ist ja interessant, sagte sie, und erzählte mir, dass der Sohn des Zahnarztes Ergebnis einer Affäre mit ihrer Deutschlehrerin war, und dass das 1959, ein Riesenskandal war. Die Lehrerin wurde nach Niedersachsen zwangsversetzt. Später hat der Zahnarzt sie wohl auch geheiratet.
17:23
Ich hatte mich so sehr aufs Tanzen gefreut. Als ich in den Club kam, war es noch früh. Es war kaum jemand da. Ich schaffe es einfach nicht, mir eine halbe Stunde Verspätung anzutrainieren. Die, die schon da waren, sind immer da, so wie ich, Inventar. Inventar ist langweilig. Lieber wäre ich unberechenbar, aber ich will nichts verpassen. Nach und nach kamen die übrigen Gäste. Kein neues Gesicht. Alle kennen sich. Alle wissen etwas voneinander, ohne sicher zu sein. Der DJ ritt lustlos sein Repertoire. Meine Tanzpartnerin trug eine Leopardenbluse. Ich versuchte, die Bluse zu ignorieren, aber dadurch wurde meine Stimmung nicht besser. Ich lese gerade "Extrem laut und unglaublich nah" von Jonathan Safran Foer, damit hätte ich den Abend verbringen sollen. Die einzige Rettung jetzt wäre eine umwerfende Tänzerin gewesen, aber die war nicht da, und wenn sie da gewesen wäre, hätte ich mich nicht getraut. So ist das an solchen Abenden, ich hätte ihn drehen und wenden können, nichts hätte mir gefallen, also fuhr ich frühzeitig heim. Plötzlich warst du weg, schrieb die Tanzpartnerin. Ja, antwortete ich. Es ekelte mich geradezu, gestern. Heute abend probiere ich es noch einmal und versuche, mich nicht zu freuen.
So 9.08.18 9:30 bewölkt
Ein Fest soll das Leben sein. Niemand muss sich fürchten. Trotzdem fürchten sich alle.
11:02
Der Besitzer des Imibiss in Glanerbrug ist Chinese. Ich bestelle Fritten und Fricandel Spezial. Vor der Tür stehen zwei Alutische mit Stühlen. An einem sitzt ein bärtiger Araber mit einer dunkelblonden Frau. Beide sind Mitte zwanzig. Vorm Tisch steht eine andere blonde Frau mit Rad. Auf dem Gepäckträger sitzt ein strohblondes Mädchen von vier oder fünf, das die Füße in den Satteltaschen versenkt hat. Der Araber und die Frau mit dem Rad besprechen Dorfklatsch. Sind sind laut und lachen viel. Am anderen Tisch sitzt ein dicker Glatzkopf. Er isst, was ich auch bestellt habe. Ich frage, ob ich an seinem Tisch sitzen darf. Er brummt ja. Neben seinem Teller liegt ein Mercedes-Funkschlüssel, daneben ein vergoldetes Nokia. Ich überlege, ob er Deutscher ist.
15:18
An der Straße zwischen Enschede und Glanerbrug stehen immer noch Eichen. Auch viele der alten Häuser und die Siedlung Dolphia sind noch da, aber der freie Raum dazwischen ist urbanisiert. Die Holländer bauen die Zukunft. Ich weiß nicht, ob ich dort wohnen möchte, aber architektonisch ist es einfallsreicher als bei uns. Auf jeden Fall mutiger. Früher kam mir mir der Weg zwischen Enschede und Glanerbrug lang vor. Als ich ihn letzten Montag mit dem Rad fuhr, war das überhaupt nicht so und ich war ich verwundert, wieso ich das damals so gut wie nie mit dem Rad gefahren bin. Da musste ich entweder mit dem letzten Bus zurück, oder ich trampte.
23:01
Ich war durch das Weiße Venn gefahren, Het Witte Ven, ein deutsch-niederländisches Naturreservat. Weites, flaches Land: Mais und Wiesen, Wald: Kiefer und Eiche. Irgendwann trifft der Radweg auf eine Straße. Sie heißt Broekhoerneweg. Aber wo ich und die Stadt wären, wusste ich nur ungefähr. Ich war aus Süden gekommen und tippte auf Nordost. Zwei Radler näherten sich. Sie bestätigten meine Annahme. Das Krematorium ist in der Nähe. Meine Eltern, meine Tante und meine Frau sind dort kremiert worden, und ich werde das auch. Je näher ich der Stadt kam, je deutlich wurde, wo ich auf sie träfe: am Wesserelerbrink, Enschede Zuid, ein Viertel, das in den Siebzigern weit vor den Toren der Stadt mitten in das Venn gebaut worden war.An der ersten großen Kreuzung trennen sich Straße und Radweg. Die Straße führte geradewegs ins Zentrum, der Radweg entfernt sich, mäandert durch gebaute Landschaft mit Gras, Büschen, Hügeln und kleinem Teich, überquert einen Autobahnzubringer, unterquert eine Straße und folgt ihr als begleitender Radweg hinein.
Ich will in der Stadt Kaffee trinken und in einem ordentlich geführten Coffeeshop Harz kaufen. Dort verkauft, seperat von der Bar in einer Ecke beim Fenster an einem Tisch mit den Waren sitzend, ein Araber, Mitte bis Ende vierzig. Ich sage ihm, dass mir Gras zu stark wäre. Stimmt, sagt er. Nehmen Sie lieber den Marokkaner, den rauche ich selbst. Der Marokaner ist senffarben, bei Erhitzen leicht zu zerbröseln und angenehm in der Purpfeife. Er ist ganz und gar nicht spektakulär, eher von ruhiger Klarheit. Für so einern Zustand muss mancher Buddhist lange sitzen.
Mo 10.09.18 12:15 bewölkt, mild
Morgen lese ich auf Hülshoff aus Mein Prinz. Eine Dramaturgin wird mit einer Gruppe Gymnasiasten am historischen Ort eine Performance zu diesem Roman erarbeiten, wie immer die aussehen mag. Ich bin gespannt, habe aber bis auf die Urheberschaft nichts weiter damit zu tun, was mir ganz lieb ist.
21:34
Ich lese einem nach einem Schlaganfall im Rollstuhl sitzenden Mann vor. Ich konnte ihm in die Augen schauen und nichts darin sehen. Eine seiner Hirnhälften (die rechte) ist tot. Man sagt, das Hirn sei flexibel genug, so einen Ausfall zu kompensieren. Möglich. Mir aber tat er über die Jahre mehr und mehr Leid, und ich glaube, Mitleid ist das Letzte, was man in so einer Situation will. Wenn ich fragte, wie es ihm gehe, sagte er "hervorragend." Ich glaubte das, und glaubte es trotzdem nicht. Er hat eine Zeitungvorleserin, zwei Romanvorleser (25 Euro hat er mir für die Stunde gegeben), einen Klavierlehrer, eine Mallehrerin, er hat Putzfrauen und Physiotherapeuten. Alle sechs Wochen wechseln die ihn pflegenden Polen. Ich konnte das Elend nicht mehr sehen. Ich mochte sein Geld nicht mehr nehmen, aber umsonst wollte ich auch nicht lesen. Was blieb, als den Job aufzugeben. Jetzt bin ich froh, dass ich raus bin.
Di 11.09.18 14:52 windig, wechselnd bewölkt, mild
Bei allem, was ich schreibe, denke ich an mich, den Leser. Ich bin jemand, der einen Text oft schon verwirft, eh er geschrieben ist. Diesen werde ich nicht verwerfen, denn er ist für uns, die Familie der Menschen. Sie ist in größter Gefahr. Wer die Gefährder sind, ist egal. Mal heißen sie so, dann so, doch jeder, der sich gegen die Familie der Menschen wendet, ist dumm und herzlos. Wir aber brauchen Klugheit und Herz, sonst ist es mit uns vorbei. Die Welt, alles, was nicht Mensch ist, würde sich freuen. Für uns wäre das schade, denn wir sind schön und könnten im Paradies sein.
Mi 12.09.18 16:45 bewölkt, regnerisch
Fr. 14.09.18 18:46 sonnig, milder Tag
Soll ich Glück wollen, während die Welt kollabiert? Ja. Soll ich. Was sonst sollte ich wollen und tun sollen? Mich politisch engagieren? Bei wem? Höchsten bei den autonomen Straßenämpfern, aber dazu bin ich zu alt und zu feige. Außerdem kenne ich Gewalt aus der Kindheit, psychisch wie physisch, mehr brauche ich nicht. Seit ich denken kann, überall Gewalt. Von Amerikanern, das sind die, die uns befreit haben. Den Amerikanern, denen man die Twin Tower kaputt flog. Sie hatten's verdient. Sie waren an jeder Sauerei beteiligt, die sich irgendwo irgendwann zugetragen hat. Mit den Amerikanern bin ich fertig. Die Russen sind auch gefährlich, aber eigentlich eher für sich selbst. Sie wären ein Europäischer Partner. Afrika leidet bis auf wenige Ausnahmen unter Despoten, Folge unserer Politik. Ich schäme mich. Asien - China, Gott bewahre. Die scheißen die Welt zu mit Fleiß, Geld und Menschen. Mein einziger Freund ist die Welt. Die will nichts Böses. Der Rest ist verdammt. Mein Gerede führt zu nichts. Die einzigen, die Dinge bewegen, sind Gewalttäter. Besser wird es dadurch nicht. Alles andere ist Demokratie und dauert zu lange. Ratlosigkeit ist keine Lösung. Also bitte. Meine Generation hat versagt. Ich habe gesagt, was zu sagen ist, bin aber zu eitel, aufzuhören.
Sa 15.09.18 17:59 wechselnd bewölkt, recht mild
Auf dem Enkelgeburtstag in Tilbeck. In Gruppen schwärmten sie aus zu einer Schnitzeljagd. Zwei hatten walkie-talkies. Die piepten ununterbrochen. Und dann sahen wir einen Milan. Den ersten in dieser Gegend. Aßen ein bisschen Kuchen, beglückwünschten das Geburtstagskind, aber das hatte gar keine Augen für den Opa. Das war beschäftigt.
So. 16.09.18 19:25 sonnig
die sonne wirft schon früh
ihr licht ins zimmer
wo ich allein im bett und immer
noch in träumen glüh
als leckten feuer mich
als trieben teufel durch mein herz
als wären du und ich
nicht längst vergangenheit und schmerz
wär' längst im rauch verschwunden
ich hätt' mir einen kranz gewunden
aufs haupt gelegt und dort belassen
ich kann was war mit dir nicht fassen
es ist nur so dass du noch immer bei mir bist
und so dass mich das leben langsam frisst
2. Version
die sonne wirft schon früh
ihr licht ins zimmer
wo ich allein im bett und immer
noch in träumen glüh
als leckten feuer mich
und trieben teufel durch mein herz
als wären du und ich
vergangenheit und schmerz
im rauch verschwunden
als hätt ich einen kranz gewunden
aufs haupt gelegt und dort belassen
ich kann was war mit dir nicht fassen
dass du noch immer bei mir bist
und dass mich dieses leben langsam frisst
22:27
Ich hatte es schön heute. Ich habe es immer schön, manchmal fällt es mir nur nicht auf. Da übernimmt mein Kopf und sagt, stimmt nicht. Heute sagte er nichts dergleichen. Die Frage, rasiert sich der Mann, ja oder nein, erübrigte sich, denn sein Spiegelbild verbat sich, mit Schaum besprüht und mit einer an Schärfe zu übertreffenden Klinge (Billigklinge vom DM) gereizt zu werden. Beim Ankleiden gab es mehrere Fehlversuche. Korrektur der Hose. Wahl zwischen zwei Pullovern. Schließlich ein Leinenhemd und in der Endausscheidung zwei Jacketts. Also dieses. So wird es gehen. Das mit der guten Laune hatte beim Wiegen, das ich mir verbeten habe, aber dennoch gestatte, begonnen. Mit Schlafanzug woge ich 88,9, ohne alles 91,8, und nach dem Duschen 91,2 Kilogramm. Ich beschloss, die Waage nicht mehr ernst zu nehmen. Darauf folgte eine Heiterkeit, die sich über den ganzen Tag zog und beim Tango ihren Höhepunkt erreichte. Das war ein Fest, das sogar einen zur Melancholie neigenden Hobbyschlagzeuger und faulen Dichter gefallen hat. Davon will er gern mehr.
Mo 17.09.18 20:34
Während die Welt ist, was sie immer war, ein Tollhaus, also nicht Neues, habe ich mich - die Morgenfrische wich gerade - aufs Rad gesetzt, um weit draußen, kurz vor den Bergen, die neue Ernte zu begutachten. Hoch gewachsene, kräftige Pflanzen. Seit April haben sie im Freiland die Pflege eines versierten Gärtners genossen. Bald kann geerntet werden, was nicht bedeutet, dass man nicht auch jetzt schon verkosten könnte, aber das ließ ich. Ich war ja auf der Durchreise. Ich wollte noch weiter. Ich wusste zwar noch nicht recht, ob ich die Berge überqueren und an deren Südhang entlang fahren sollte, wo, wie der Gärtner erzählte, letzte Woche eine nackte Frau im abgeernteten Maisfeld gelegen habe, einfach so, er habe es nicht glauben wollen. Ich solle doch mal nachschauen, ob sie immer noch da sei, sie fahre einen alten Volvo. Ich habe nicht nachgeschaut. Statt rechts abzubiegen bin ich links gefahren und habe mich dem Ort genähert, in dem wir in den frühen Siebzigern unsere erste Wohngemeinschaft gegründet haben. Aus einem Dorf, das sich um die Kirche scharte wie die Hühner um eine Glucke, ist eine zu allen Seiten ausufernde Stadt geworden, mit Gewerbegebieten, Discountern, Kreisverkehren und einem McDonalds. Nichts davon damals, vieles noch nicht einmal denkbar. Der Ortskern allerdings hat sich kaum verändert. Hier hat der Pfarrer noch immer eines der repräsentativsten Häuser aus Sandstein. Die Tümpel an der Wassermühle sind trocken. Unterwegs alle Bäche. Alles ist trocken, aber das Land ist erstaunlich grün. Ich weiß jetzt, wen ich besuchen werde und fahre weiter ins Nachbardorf, aber es ist niemand zu Hause. Ich nehme den Zug zurück. Im Zug ist nur ein Fahrkartenautomat. In der Hoffnung, ohne Fahrkarte nach Hause zu kommen, lasse ich allen den Vortritt. Dann bin ich aber doch an der Reihe und löse ein Ticket.
Di 18.09.18 17:02
Die Gründungsidee der Firma ist super. Leider kommt danach lange nichts, dann fehlende Armlehnen, kaputte Verdecke, klapperndes Dieses und Jenes. Einmal habe ich gedroht, wenn Jenes nicht repariert würde, käme ich nicht zur Arbeit. - Ich ging, weil repariert worden war. Aber meist wird nicht repariert, selbst, wenn Schäden gemeldet werden. Letzte Woche hatte ich meinen Funkschlüssel verloren. Wo? Nicht die geringste Ahnung. Normalerweise verliere ich nichts, bis jetzt offenbar. Ich verlege wohl und finde wieder, aber auch das ist eher selten. Heute wollte ich mir den neuen Funkschlüssel holen. Man hatte ihn mir in der Garade hinterlegt. Ich musste anderthalb Stunden warten, weil der, der mir mit seinem Schlüssel hätte helfen können, die Garage zu öffnen, in dem mein "neuer" Funkschlüssel lag, nicht auftauchte. Erst eine Kollegin, die um die Ecke wohnt, half aus. Nun also habe ich den "neuen" Schlüssel. Er hat keine Druckknöpfe mehr. Ich muss in die Elektronik tippen, dann funktioniert es. Schlamperei, wo man hinschaut.
Do 19.09.18 10:12 leicht bewölkt
In Billerbeck hatte ich meine Radtour abgebrochen und den Zug zurück genommen. Normalerweise liebe ich die Rückfahrt von Billerbeck. Es gibt zwei Strecken. Bei beiden muss man zunächst eine lange Steigung hinter sich bringen, aber dann geht es fünf, sechs Kilometer ununterbrochen bergab. Bei der Richtung Beerlage sind Geschwindigkeiten bis 50 KmH möglich. Gegen Abend kam eine seltsame Mattheit auf, von der ich nicht recht wusste, woher sie käme, vom Radfahren, vom Kiffen, hmm??? - Ich schlief schlecht, ich erwachte mehrfach, gegen Morgen war meine Stimme belegt, so dass ich mich entschloss, nicht zur Arbeit zu gehen. Heute fühle ich mich matt, die Nase sitzt zu, ich habe einen Brummschädel. Man nennt das grippalen Infekt. So etwas hatte ich seit Jahren nicht mehr. Ich schätze, ich hab es mir auf dem Rad geholt, die Sonne schien, ich bin mehrfach ordentlich ans Schwitzen gekommen, hier und da aber auch ans Frösteln. PS. Ich höre, es hat auch andere erwischt.
So 23.09.18 15:20 Westfalen, es regnet, es ist Herbst
Dass es nach sechsmonatiger Trockenheit gerade heute, wo auf Schloss Hülshoff ein Literaturvolksfest stattfindet, ein Fest für die Menschen und die Literatur, die traumhafte Umgebung, in die der Veranstalter Zelte hat bauen lassen, um Menschen lesen und Dinge tun zu lassen, die den Alltag verrücken könnten, damit wieder Platz wird für neue Fragen und alte Antworten, dass es heute, wo nahe Münster so etwas Schönes und Hoffnungsvolles geschieht, meimelt wie die Sau, ist gemein. Es sei aber allen, die nicht da waren, gesagt, dass sie etwas verpasst haben und selbst Schuld sind, bäääää.
Mo 24.09.18 1:02
Voetvolk / Lisbeth Gruwez
A Sea withinEine quadratische Spielfläche, Sand, könnte man glauben, keine Requisiten, im Hintergrund eine rechteckige Projektionsfläche. Ringsum zehn Menschen, Frauen. Manche verharrend, andere in zeitlupenartigen Bewegungen - erwachend. Eine lockt die anderen näher. Jede muss ihren Raum erobern, jede ist in diesem Raum zunächst allein, auch, wenn die anderen in der Nähe und sichtbar sind. Die Musik ist ein noch kaum wahrnehmbares Geräusch, dennoch interagieren die Tänzerinnen. Flöten, Atmen und Stimmen, Gesänge, später pumpende Beats, in den Soundscapes von Maarten van Cauwenberghe nicht wegzudenkende Elemente.
Im Gegensatz zu den letzten Produktionen von Voetvolk ist "A Sea Within" weniger erruptiv, weniger ekstatisch, kontemplativer, sich eher den Bewegungen des Meeres anpassend, das sich hebt und senkt, rau ist und dann doch wieder sanft. Viel zeitlupenartige Bewegung, die mühsamste und höchste Konzentration fordernde Art des Tanzes, vielleicht Folge von Lisbeth Gruwez tänzerischer Auseinandersetzung mit "Sad eyed lady of the lowlands" von Bob Dylan, wozu sie eine atemberaubend langsame Choregrafie getanzt hat, vielleicht aber auch Reaktion auf das kräftezehrende "We're fucking far away from okay".
Gruwez tritt in "A Sea Within" zum ersten Mal in Voetvolks Geschichte nicht als Tänzerin, sondern als Choreografin in Aktion. Sonst ist sie beides. We never solo, we ever solo, sagte Joe Zawinal, Kopf der Gruppe Weather Report und Vertreter einer Spielart des Jazz, die sich vom Bop und Cool löste. Das Prinzip der gemeinsamen Improvisation scheint auch die Choreographie von "A Sea within" zu beflügeln. Aber immer wieder finden die Tänzer sich zu einer Gruppe zusammen, die wogt und sich bewegt, die atmet, die lebt, und wenn einer strauchelt, fangen andere ihn auf. Bei diesen Vereinigungen in der Mitte der Bühne entstehen berührende Bilder. Eines, eine Diagonale der gereiht am Boden liegenden Tänzerinnen im Licht ist mein Lieblingsbild.
Die Triologie der Ekstase (We're fucking far away from okay" - "AH/HA" und "It's going to get worse and worse & worse, my friend") ist Geschichte. In "A Sea within" betritt Voetvolk Neuland, wenngleich unüberseh/ und hörbar Zitate der Trilogie aufscheinen. Ich mochte das sehr und möchte es weiter empfehlen. Für alle, die Tanz als Assoziationsfläche genießen können, ein unbedingtes Muss. A Sea Within. Heute Abend, 22.Setember, 20:00 im Pumpenhaus Münster.
23:06
Ich hätte einen warmen Mantel anziehen müssen, um auf dem Balkon zu frühstücken, aber das wollte ich nicht. Ich aß mein Müsli drinnen. Ich trank kräftigen Espresso mit Milchschau. Das Tab lag auf dem Tisch, aber ich wollte die Welt und ihre Nachrichten nicht, ich wollte Likes bei FB und hatte keine, ich fragte mich, ob ich täglich schlechter würde, oder schlicht an all jenen vorbei schriebe, an denen mir sowieso nichts liegt, und ob die das wüssten, ob die ahnten, dass sie gemeint sind, so wie auch ich immer gemeint bin, wenn die Welt böse ist und ich auf die Welt böse bin, also quasi täglich. Täglich bin ich böse, ein böser, heiterer Mann, der keiner Fliege etwas zuleide tut.
Ich war vom ersten Tag an süchtig auf das Internet, ich weiß noch, wie mein Herz schlug, als ich mit Bobbele plötzlich drin war, mir noch vor meinem webaffinen großen Sohn eine Webseite gebaut hatte und sie Paolo, einem befreundeten Gitarristen und seinem Vater in Padua stolz vorführte. Ich war weltweit, das gefiel mir. WWM World Wide Mensing. Dass mich kaum einer liest, dass der Großteil der Besucher schon auf und davon ist, eh er auch nur ein Wort gelesen, geschweige verstanden hätte, ist mir egal. Ich weiß, was ich tue. Ich arbeite im Netz.
Heute wollte ich Fotos sichten, die ich während der zweiten Vorstellung von "The Sea Within" im Pumpenhaus gemacht hatte. Die Choreografin hatte mir das Fotografieren erlaubt. Ohne Blitz, freihand, von einem mit ihr abgesprochenen und diskutierten Platz, einem mit Draufsicht, was sich als genau richtig erwies. Feuertaufe auch für meine Lumix, die ich mir gekauft habe, weil sie eine größere Brennweite hat, als die Leica. Schafft sie Kunstlicht und Zoom? Gibt sie mir genügend kurze Verschlusszeiten, damit nicht jedes Bild bewegungsunscharf wird? - Ja. Sie kann das, und jetzt, zwölf Stunden später, sind von 477 Fotos noch 109 übrig geblieben. Kein schlechter Schnitt. Die Auswahl der Fotos ist meist nach Impuls erfolgt. Wenn ich bei einem zuckte, habe ich es gelöscht. Natürlich tat das auch weh, aber das vergeht. Zeigen kann von diesen Fotos zunächst einmal nichts, das habe ich versprochen, schließlich gibt es Rechte und Voetvolk ist eine Firma, auch, wenn ich mit der Choreografin befreundet bin.
Di 25.09.18 18:57
Meine Vermieterin, eine Ärztin aus Koblenz, hat er sinnliche, tiefe Stimme, sieht gut aus, ist aber, was ihre Zahlungsmoral angeht, gern säumig.Immer geht es um Nachzahlungen, die aus den Jahresabrechnungen für Heiz- und Nebenkosten resultieren. Letztes Mal blieb sie mir drei Wochen 800 Euro schuldig, diesmal sind es 500, und das seit vier Wochen. So etwas ärgert mich. Bei mir war Geld immer knapp, gekauft wurde nur, wenn bar bezahlt werden konnte, und bezahlt wurde alles innerhalb der gesetzten Fristen. Als sie mir 800 Euro schuldete, habe ich sie in der vierten Woche angerufen, und da sagte sie, ach, Herr Mensing, ja, entschuldigung, gerade bin ich auf dem Weg zur Bank. Für die 500 habe ich noch nichts unternommen. Ich warte bis Donnerstag, dann rufe ich sie an. Sie haben keine Ahnung, wie es sich anfühlt, wenn man mit jedem Euro rechnen muss, werde ich sagen. Und dann schämt sie sich, wetten.22:38
Ich hatte versprochen, keine Fotos vom "A Sea Within" zu posten, hatte es aber doch getan, weil ich so stolz war auf meine Fotos. Jetzt schäme ich mich. Sorry Liz. Verzeih mir. Schriftsteller lügen und betrügen, wo sie können, auch wenn sie als Fotograf unterwegs sind.
Mi 26.09.18 16:36
Während ich meine Laune wegschreibe, die mich während vierstündigen Herumkutschens ohne einen einzigen Gast durch die vom Marktvolk und Historikern mit roten Halsbändern und Namensschildern gefluteten Stadt befallen hat, warten Zutaten für mein Essen im Kühlschrank. Sollen sie doch. Ich warte ja auch. Ich warte, ich hoffe. Da können Pfifferlinge auch mal ein bisschen dem harren, was sie erwartet. Ich jedenfalls habe noch keine Lust, etwas zuzubereiten. Ich möchte, dass man mich mit Lob besänftigt. Am liebsten sollte das Lob sechsstellig sein, dann könnte ich abhauen. Ich könnte von fern hören, wie Historiker dem erlauchten Publikum erklären, wo das, was die Welt, von narzisstischen Populisten in immer schnellere Wirbel getrieben, erlebt, hinführt. Gestern Trump vor der Uno. Heute Historikerauflauf. Kein Lob. Ein kaum dreißigjähriger Priester in bodenlangem, schwarzen Habit, umringt von zehn, elf Jahre alten Jungen in dunkelblauen Blazern mit Wappen auf der linken Brusttasche, hellblauen Hemden und Krawatten. Was man da denkt, denke ich auch. Außerdem zwei Männer Mitte Siebzig, die mir beim Anblick der Kutsche auf Platt zuraunen, ich hätte wohl die Pferde vergessen, ich solle doch vier Frauen vorspannen. In welchem Alter? Bis dreißig. Gestern habe ich vom Wirt meiner Lieblingseisdiele Ecke Windhorststraße/Engelenschanze den von seinen Nachbarn zuhause gebrannten Grappa bekommen. Hervorragender Grappa ist das.
Do 27.09.18 12:24 sonnig
Die Ukulele ist ein Geschenk meiner Frau und die ist bald zehn Jahre tot, ich habe sie also schon lange, aber so richtig ernst habe ich sie nie genommen, dazu war sie mir zu klein und zu süß. Ich kann ein paar Lieder spielen, ich habe sie mit zu Lesungen genommen, das schon, aber erst seit dem Sommer beschäftige ich mich intensiver mit ihr. Sitze auf dem Sofa, höre Musik und versuche, auf der Ukulele mitzuspielen. Improvisiere. Ich habe ein gutes Gehör für Melodien, schwierig wird es, wenn ich sie harmonisieren soll. Auf dem Klavier ist das relativ einfach, da liegen die Töne sichtbar und deutlich für alle immer an derselben Stelle, während man sie bei Saiteninstrumenten an verschiedenen Orten finden kann. Das Ukulelespielen macht Spaß. Mir fiel auf, dass ich gern Bassläufe spiele. So ein Basslauf ist schnell herausgehört. Und dann fiel mir ein, dass ich ja noch eine Westergitarre habe, vor mehr als einem Jahrzehnt gekauft, nie wirklich gespielt, weil ein Klavier im Haus und ein Schlagzeug im Keller ist. Auf der Westerngitarre lassen sich Bassläufe viel prägnanter und lauter spielen. Na ja, so kommt eines zum anderen und jetzt denke ich darüber nach, mir einen akustischen Bass zuzulegen. Quasi, um meiner Reinkarnation als Bassist ein wenig vorzuarbeiten.
Fr 28.09. 18 00:15 abnehmender, noch sehr voller Mond. Milde Nacht. Eine der letzten.
Einfach wäre, die Fotos, die ich von Voetvolk gemacht habe, und die schon deshalb kaum schlecht aussehen können, weil zehn gut aussehende, junge Frauen drauf sind, die Arme und Beine schwenken zu verschiedenartigster Musik, die sich dramatisch verrenken und Posen einnehmen, die man auf der Straße nur ein einziges Mal einnähme, und dann wäre schon jemand da und nähme einen mit, wenn ich also die Fotos, die ich in einer Stunde gemacht habe, freihand und von halbschräg oben, bei ständig wechselndem Kunstlicht und ohne Blitz, 500 insgesamt, wovon 107 übrig geblieben sind, veröffentlichen könnte, weil ich so stolz bin, dass ich sie hingekriegt habe, aber ich darf es nicht, ich habe es versprochen. Ich hatte eines hochgeladen und sofort kam Einspruch. Du hast es versprochen, wurde gesagt. Stimmt, ich habe es versprochen, aber Dichter halten sich nicht an Versprechen. Dichter behalten nichts für sich. Alles, was sie verwerten können, verwerten sie. Auch dann, wenn sie zwischenzeitlich als Fotograf auftreten. Eigentlich sollten alle tot sein, da hätten Dichter freie Bahn und bräuchten keine Rücksicht mehr nehmen, so nehem sie keine Rücksicht und haben keine Freunde. Berufsrisiko. Manchmal macht das keinen Spaß. Dann wieder ist es sehr lustig, vor allem, weil so viele Kollegen vor Seriösität kaum scheißen können. Kaum scheißen können andere auch nicht, jedenfalls, wenn man die Werbung kurz vor acht ernst nimmt. Aber das ist eine andere Geschichte. Diese handelt von einem, der 107 Fotos aus der Festplatte hat, sie allen zeigen möchte, aber nicht darf. Man kann ihn aber besuchen. Man kann jederzeit kommen und sagen, Dichter, zeig mal diese Fotos, diese 107 Fotos von "A Sea Within", und dann macht er das. Er würde wahrscheinlich noch Kaffee kochen. Er ist einer der besten Kaffeekocher im Dorf. Wahrscheinlich der Beste. Er würde auch anderes anbieten, falls verlangt. Bei ihm dürfte man auch mit Schuhen an auf dem Sofa liegen, er hätte nichts dagegen. Aber das ist schon wieder eine andere Geschichte. Er hat da nämlich einen Freund, bei dem er das nicht darf. Darf! Das muss man sich vorstellen. Da wird er gemaßregelt. Aber wie gesagt, andere Sofa, andere Sitten, jetzt aber heißt es, husch husch ins Körbchen.
10:33
Die abgespeckte Version:
Zehn gut aussehende, junge Frauen schwenken Arme und Beine zu verschiedenartigster Musik, verrenken sich dramatisch und nehmen Posen ein, die man auf der Straße nur ein einziges Mal einnähme, dann wäre schon jemand da und nähme einen mit. Ich fotografiere. Freihand und von halbschräg oben, bei ständig wechselndem Kunstlicht und ohne Blitz, 500 Fotos insgesamt, wovon 107 übrig geblieben sind. Wenn ich das ein oder andere veröffentlichen könnte, wäre ich stolz und glücklich, aber ich darf es nicht, ich habe es versprochen.Ich hatte eines hochgeladen und sofort kam Einspruch. Du hast es versprochen, wurde gesagt. Stimmt, ich hatte es versprochen, aber Dichter halten sich nicht an Versprechen. Dichter behalten nichts für sich. Alles, was sie verwerten können, verwerten sie. Sie sind indiskret. So kommt es, dass sie kaum Freunde haben. Das ist Berufsrisiko. Manchmal macht das keinen Spaß. Dann wieder ist es sehr lustig. Man kann Dichter aber besuchen. Man kann jederzeit kommen und sagen, Dichter, zeig mal diese Fotos, diese 107 Fotos von "A Sea Within", dann macht er das. Er würde wahrscheinlich Kaffee kochen. Er ist einer der besten Kaffeekocher im Dorf. Wahrscheinlich der Beste. Er würde auch anderes anbieten, falls verlangt. Bei ihm dürfte man sogar mit Schuhen auf dem Sofa liegen, er hätte nichts dagegen. Aber das ist eine andere Geschichte. Er hat nämlich einen Freund, bei dem er das nicht darf. Da wird er gemaßregelt. Aber wie gesagt, andere Sofas, andere Sitten, jetzt heißt es, husch husch ins Körbchen.
23:45
Heute war ich in den Pilzen. Die Sache hatte nur einen Fehler. Es war keine da. Stattdessen ein überfahrenes Nutria vor einer Brücke über einen Fluss, der kaum Wasser führt. Wenn es nicht diesen langen dünnen Schwanz gehabt hätte, hätte ich es für einen Biber gehalten. Weil ich in der Nähe war, besuchte ich den Einsiedler. Er hat Dülmener Rose, die er nicht pflückt, und ich dachte, da hole ich mir ein paar. Ich läutete die Glocke, er bat mich herein. Hast du geerntet? fragte ich, denn aus den Augenwinkeln hatte ich gesehen, dass die Pflanzen nicht mehr da waren. Er nickte. Er zeigte mir die Ernte. Er war stolz, und das kann er auch sein, denn er ist nicht nur Einsiedler, überzeugter Arbeitsloser, Looser, nein, er ist zugleich Meister vieler Klassen. Er wässert grüne Wallnüsse drei Wochen, kocht sie in Zuckerwasser auf und legt sie ein. Ich hätte mir statt des Zuckerwassers eine zusätzliche Variante für die Geschmacksknospen gewünscht, vielleicht einen Schuss Zimt, etwas Limone, aber lecker waren sie. Er schleift aus Holz Dinge, die man gern anfasst. Er taucht Blätter in Silberlack. Er kann Motoren auseinander nehmen und wieder zusammensetzen. Er schreckt auch vor Computern nicht zurück. er schreibt Gedichte und macht Fotos. Aber arbeiten will er nicht. Er verachtet das, wird aber stinksauer, wenn ich ihm sage, dass er mehr Geld vom verhassten Staat bekommt, als ich Rente, und ich habe immer versucht, es zu verdienen.
Ich bewundere ihn. Und ich hatte noch etwas zu erzählen. Auf dem Weg zu ihm hatte ich einen Milan gesehen, wie vor zwei Wochen, kaum einen Kilometer südöstlich. Der Einsiedler meinte damals, ich hätte mich verguckt. Es gäbe keine Milane hier. Bei Borken, ja, davon habe er gehört, aber hier. Hier auch, jetzt weiß er das. Er bot mir von seiner Ernte an. Er plant eine Pressung. Am Nachmittag, ich hatte verkostet, war ich auf dem Markt, wo die Käseverkäuferin schon von weitem "Hallo, Herr Mensing", rief, mich anschaute und lachte. Das ist sehr schön. Ich lache zurück und freue mich über die Verwunderung in den Gesichtern der anderen Kunden. In meine Käsetüte tut sie mir immer was extra. Wir regeln das über die Augen. Bis dahin. Beim Brotkauf war vor mir ein Mann, der verschiedene Brote, Gebäck und die letzte Rumkugel kaufte. Nee, das können Sie jetzt nicht machen", sagte ich. Er erschrak. Dann sackte der Witz durch und wir lachten. Die Verkäuferin, die sonst eher ernst ist, lachte mit. Ich aß einen Backfisch, aber der schmeckte mir nicht. Ich hatte es gewusst. Bei den Holländer schmeckt er besser. So. Und jetzt gebe ich dem Kandidaten die höchstmögliche Punktzahl, denn er ist nicht verzweifelt, er hat diesem Tag dreißig Kilometer auf dem Rad abgetrotzt, er hat unzählige Kubikmeter Sauerstoff ein, und Kohlendioxid ausgeatmet, er war unterm Himmel, wissend, dass er ihn nie erreichen wird, und sich abfinden muss. Lieben, sozusagen, sich selbst lieben, eine in der Bismarckstraße unbekannte Tugend. Dort hassten sich die Eltern so gut es ging, und wir Kinder verstanden nichts. Das Erschütterndste war, dass, als es zu Ende ging, plötzlich doch Liebe auftauchte.
Sa. 29:09.18 11:18 sonnig, 10 Grad
Seit geraumer Weile besänftige ich die Götter und Geister, die mit meinem Leben spielen wie Gaukler, vorm Einschlafen durch Autosuggestion. Laut und deutlich bedanke ich mich für den Tag, summiere, signalisiere mein Einverständnis, falls der Plan beabsichtigt, es in den nächsten Stunden zu beenden, weise aber im gleichen Atemzug darauf hin, dass es mir lieber wäre, zu überleben, da ich hundert werden möchte, mich schon sehr aufs Frühstück freue und bis - und jetzt wird es interessant, weil verifizierbar - sagen wir, acht Uhr schlafen möchte. Das funktioniert mit Abweichungen von plus-minus einer halben Stunde.
So 30.09.18 12:03 sonnig, 13 Grad
Seit März haben wir nichts mehr von Herrn M. gehört. Stattdessen war häufig von "ich", "man" und einem sogenannten "wir" die Rede. Vielleicht war die heilige Trinität gemeint, die jeder Erzählperspektive anhaftet. Unterm Strich schien es sich um eine Suche nach Ausreden zu handeln, die die Faulheit tarnen, das Ausweichen und Davonlaufen, die Furcht vorm Leben, die das "ich", "man" und "wir" erfand, um zu vermeiden, etwas zu schaffen, das größer ist als alles, was sie bisher getan hatten. Dabei ist alles getan, das Leben meint es gut und Größeres stünde nur im Weg.
15:38
Er hat Ähnlichkeit mit Lyle Lovett, ein amerikanischer Sänger und Schauspieler, aussagekräftige Ohren also. Da er nicht groß war, kam es, dass die rechte Gesichtshälfte seiner Tanzpartnerin, eine ein kleines Schwarzes tragende Frau, zehn, fünfzehn Jahre älter als er, sich vor der Ohrmuschel seines rechtes Ohres befand, worüber der Beobachter laut lachen musste.