September 2023                    www.hermann-mensing.de      

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Fr 1.09.23 11:48 hohe Bewölkung

Man hat mich erwischt. Ich renne wie vom Teufel gehetzt. Fünfmal war ich mit dem 49Euro Ticke ohne Fahrradticket unterwegs, nie hatte man mich kontrolliert, aber jetzt, hier, Rheine, Stadt an der Ems, nicht besonders schön, aber mit Kindheitserinnerungen verknüpft, weil der geizige Onkel Ewald hier lebte, der sich die Bonbons für mich in seinem Laden von meinem Vater bezahlen ließ, hier also stellte der Schaffner die entscheidende Frage. Ich hätte sagen können, nö, wir haben keine Räder dabei. Dumm nur, dass wir die einzigen Fahrgäste im Fahrradabteil waren. Also sagte ich: Ja, tut mir Leid, wir hatten keine Zeit beim Ein- und Umsteigen, und einen Automaten haben wir nicht gesehen. Ich wollte sie bei Ihnen kaufen. Der Schaffner, Ende vierzig, volles dunkles Haar, zurückgekämmt, rasiert, dunkelblaue Hose, Weste, DB Schlips, hellblaues Hemd, schüttelte den Kopf. Ich finde das dreist, sagte er. An jedem Zug steht, kein Einstieg ohne gültige Fahrkarte. Ich sag' Ihnen was, Sie haben zwei Möglichkeiten. Die erste kostet Sie 60 Euro pro Person. Die zweite: Sie steigen aus, kaufen ein Fahrradticket und nehmen den nächsten Zug. Oh nööööö, sagte die Liebste, nööööö. Er fährt stündlich, sagte der Schaffner, aber unser Zug muss wegen eines uns überholenden Zuges noch etwa drei Minuten warten. Der Automat steht in der Halle.

An der Treppe begann meine Hose zu rutschen. Ich hatte mich am Morgen auf den letzten Drücker für die Jeans entschieden und den Gürtel vergessen. Aufpassen. Nicht stolpern. Wie auf jedem Provinzbahnhof endet sie an einer mehr oder minder schmuddligen Unterführung. Die Halle ist rechts. Der Atem geht kürzer. Beide Fahrkartenautomaten sind besetzt, aber als ich heran bin, wird einer frei. Mir ist warm geworden. Display checken. Atmen. Fahrradkarte. Anzahl: 2. Zahlen. Komm schon, du Sack. Und zurück, hundertfünfzig Meter im Trab. Welcher Bahnsteig war's noch? Zwei? Ja, zwei. Treppe hoch, Bergprüfung, rot gepunktetes Trikot, aber die Hose, verdammt. Linke Hand am hinteren Hosenbund, schnaufend. Ein Mann Mitte Siebzig. Bestnoten für Haltung. Repsect. East Side is da best. Der Zug wartet noch und Sie winkt. Steig ein, ruft sie und schiebt die Räder zurück in den Zug.

In Salzbergen geht mein Atem fast wieder normal. Ich bin ein bisschen stolz. Der Schaffner taucht nicht wieder auf. Vom Zielbahnhof fahren wir schnurgeradeaus in das Straßendorf Dörpen. Fast alles links und rechts ist aus den Siebzigern und Achtzigern, Rathaus, Feuerwehr, Sparkasse, Polizei, Aldi, Friseur, Döner, Eisdiele, nebeneinander und gegenüber. Wir sitzen bei Musswessel, ein Bäcker, der seit 1862 backt, mit Herz und mit ... steht auf einem Plakat und wir rätseln, wofür die Punkte stehen. Wir trinken Bäckercappuccino. Ich esse eine Rosinenschnecke, sie einen Apfelberliner. Lecker ist nichts davon.

Wir sind auf dem Weg nach Bourtange. Eine Anfang des 16. Jahrhunderts gebaute, sternförmige, dreifach gestaffelte Festung, in der kaum 200 Menschen leben. Hinter der Emsbrücke weist ein Wegweiser hinunter zum Emsradweg, aber da sträube ich mich, der führt in die falsche Richtung, auch, wenn es der richtige Weg sein mag. Wir folgen der Straße. Eine arabische Familie mit drei Kindern kommt uns auf Rädern entgegen. Moin, rufen sie fröhlich, wie alle hier moin rufen, eine sehr schöne Sitte. Wir fahren durch Heede, fragen, passieren einen See, und dass wir in Holland sind bemerken wir an dem ehemaligen Zollhäuschen zwischen Feldern und Wiesen an einer ruhigen, von Eichen gesäumten Straße. In Bourtange steigen wir auf die Schanze und umrunden die Festung. Man hat sie gebaut, um den einzigen Handelsweg durch das Moor von Groningen über Lingen nach Münster zu sichern. Sie wurden nie eingenommen, bis Napoleon kam. Auf den steilen Hängen der Wälle wird Gras gemäht. Ein zweirädriges Fahrzeug mit einem langem, hydraulischen Ausleger am Hang, an dessen Ende Doppelreifen das Fahrzeug stabilisieren und einer langen Auslegerschere. An den Ecken der Schanze stehen Kanonen. Um den sternförmig, mit Backsteinen gepflasterten Dorfplatz gibt es drei Restaurants, eine kleine Boutique, ein Kapitänshaus. An der Ost- und Westseite stehen kleine Häuser, in denen 60000 Pfund Schwarzpulver lagerten. Im Dorf gib es eine Kirche, eine Mühle und eine Synagoge. Fünfzig Menschen haben die Nazis nach Westerbork geschafft und von dort weiter nach Auschwitz. Zwei sind zurückgekehrt. Ein Dritter hat sich verstecken können. Auf dem Heimweg werden wir nach unseren Fahrradtickets gefragt. Wie sich herausstellt, sind es die falschen. Ich hatte das NRW Ticket gekauft. Ich hätte das NRD-Niedersachsen-Transit-Ticket kaufen müssen. Aber man drückt ein Auge zu. (Mehr zu Bourtange: https://de.wikipedia.org/wiki/Bourtange

14:56

Ich habe mein Arbeitszimmer zurückerobert. Hier hängen meine Familienfotos, das Bild von Delio aus Carona mir gegenüber, hinter mir das Keyboard und das Klavier, der Drucker, Mikrophon, alles in Reichweite. Ich hatte es ein wenig vernachlässigt, weil es nach hinten heraus geht, wo überhaupt kein Leben mehr ist, seit Eltern ihre Kinder von früh bis spät zwischenparken, statt sie im Garten toben zu lassen. Vielleicht bewirkt der Umzug vom Sofa, wo ich gemeinhin hocke und vor mich hin denke, neuen Schwung. Wir werden sehen. Der September fängt gut an. Ich schreibe jetzt einen Brief an Annette von Droste zu Hülshoff.


Sa 2.09.23 12:11 bewölkt, herbstlich

man spürt es kaum
und doch ist's überall
es ist genug
die birnen und die äpfel reifen
ein frösteln treibt die gäste fort
niemand will noch nach sternen greifen
er winkt mit seinem parapluie
er steigt in einen zug
er hat zu tun und vis-avis
wartet das nächste jahr
es will gut vorbereitet werden
das leben ist ein stilles sterben

ich lass ihn fahren
ihn aufzuhalten
würde alles nur verderben
und während er
zum südbahnhof verschwindet
fährt auf dem nebengleis
ein huschen ein
das schon bald wind wird
auf dem erste blätter tanzen
ich reiße wehmut vom kalender
was jetzt kommt
wird uns von den straße treiben
ich kann das leben doch nicht ändern
und will noch eine weile bleiben


19:03

man spürt es kaum
und doch ist's überall

ein frösteln treibt die gäste fort
niemand will noch nach sternen greifen
die birnen und die äpfel reifen

er winkt mit seinem parapluie
er steigt in einen zug
er hat zu tun und vis-avis
wartet ein ungeschrieb'nes buch
es will gut vorbereitet werden
denn leben ist ein stilles sterben

ich lass ihn fahren -
ihn aufzuhalten
würde alles nur verderben
und während er
zum südbahnhof verschwindet
fährt auf dem nebengleis
ein huschen ein
das schon bald wind wird
auf dem erste blätter tanzen
ich reiße wehmut vom kalender
was jetzt kommt
wird uns von den straße treiben
ich kann das leben doch nicht ändern
und will noch eine weile bleiben

23:59

man spürt es kaum
und doch ist's überall
es ist genug
die birnen und die äpfel reifen
ein frösteln treibt die gäste aus dem saal
man riecht betrug
niemand will noch nach sternen greifen

man winkt mit seinem parapluie
man steigt in einen zug
man hat zu tun denn vis-a-vis
wartet ein ungeschrieb'nes jahr

es will gut vorbereitet werden
denn leben ist ein stilles sterben
und während man die luft anhält
zerfällt die welt in scherben

auf einem nebengleis
fährt nun ein huschen ein
das bald schon wind wird
auf dem erste blätter tanzen
hofschranzen
wringen wehmut aus kalendern
was auf uns zukommt
ich kann es nicht ändern
es wird uns von den straßen treiben
wir sind im krieg
wer soll den frieden schreiben

Mo 4.09.23 14:48 wundervoller Spätsommer

Die RB 66 um 21:19 fällt aus, die DB App verweist auf den RE 2 um 21:45. Die digitale Anzeige im Bahnhof meldet Schienenersatzverkehr, und die Dame an der Info (halbschräges, bordeauxfarbenes Käppi) sagt, eh der hier ist, sind Sie mit dem RE 2 längst zuhause. Auf einer Bank am Gleis 4 schaue ich Reisenden nach. Auf Gleis ... fährt ein der ICE nach Berlin ... Hamburg ... RE Bremen ...Bielefeld... IC Frankfurt. Ich bin aber auf dem Weg nach Münster-Roxel, Schlafstadt für Akademiker und abgehalfterte Pensionäre, Dichter, Jogger und verbitterte Ehefrauen mit Hunden, die sie an der Leine führen, nicht umgekehrt. Ein Mann Mitte fünfzig in abgetragenem Anzug fischt Flaschen und Dosen aus Mülleimern. Er trägt große Plastiktüten, in denen Dosen klappern. Dosen bringen 25 Cent. Ich gebe ihm all mein Kleingeld, etwa 1,50. Ein Fünfer hätte mich nicht arm gemacht, und ein bisschen schäme ich mich. Er ist trotzdem glücklich, zeigt auf den Zug und fragt: Münster? Ich bestätige. Er will mit mir reden. Ich verorte ihn auf dem Balkan, ich vermag mir nicht vorzustellen, wie er hier überlebt, er hat meine Sympathie, aber ich habe keine Lust auf Einwortsätze. Der RE2 steht schon auf dem Gleis. Ich steige ein. Da drin ist Licht, da kann ich Franziska Linkerhand weiterlesen. Der Mann mit den Plastiktüten kommt vorbei und nickt freundlich. Er will - das wird mir klar - gar nicht nach Münster, was sollte er dort, er durchstreift eingefahrene Züge nach Pfand. Drei Araber steigen ein. Laut lachende, sportlich gekleidete Männer um die zwanzig. Einer schaut Fußball auf seinem Handy. Ich bitte ihn auf Kopfhörer zu gehen. Das tut er. Er hat zwei große Narben an Wade und Knie des rechten, und eine große verschorfte Wunde am linken. Spielt er Fußball? Ja. Arabischmann! sagt er und zeigt stolz auf seine geschundenen Beine. Er spielt für Osnabrück, aber ich weiß nicht für welchen Verein. Und du - Fußball? Nein, sage ich. Tango. Was das ist, weiß er nicht, aber er ist für Borussia Dortmund, und das bin ich auch. Am Bussteig Münster torkelt ein Trinker herum, und ruft jedem zu, schön, dass du hier bist. Meine Aprilia wartet am Bahnhof Roxel. Der Sitz ist feucht. Ich wische ihn ab und fahre heim, entsetzt über den Zustand der Paul Gerhard Straße. Für Motorradfahrer schon tagsüber gefährlich, nachts eine Katastrophe. Löcher, Bodenwellen, Spurrilllen, Verwerfungen. Ich fahre sehr langsam, denn ich bin glücklich. Tangotanzen macht vorübergehend glücklich, deshalb tanze ich, wann immer es geht und das 49 Euro Ticket bringt mich hin. Demnächst werde ich Bochum auschecken.


Mi 6.09.23 9:54 Spätsommer, warm

sie kommen nicht rein
seien sie froh
dass der türmann
ihnen nicht die nase platt gemacht hat
sie baden im blut
verprassen die welt nach gutdünken
sie fliegen in fetten privatjets
sehen immer gut aus
und ihre ärzte versorgen sie
mit allem was fit hält
sie kreuzen in obszönen yachten
unterm wendekreis des profits
schlafen in seide
und stoßen notgeile modells
sie treiben es ohne rücksicht
mit jedem unterdrücker
aber damit ist es vorbei
wir werden sie besteuern
wir werden ihre billionen denen zurückgeben
die sie erwirtschaftet haben
und sie werden buße tun

17:40

er spürt es kaum
und doch ist's überall
es ist genug
die birnen und die äpfel reifen
ein frösteln treibt die gäste aus dem saal
er riecht betrug
er will nicht mehr nach sternen greifen

er winkt mit seinem parapluie
er steigt in einen zug
er hat zu tun denn vis-a-vis
wartet ein ungeschrieb'nes jahr

es will gut vorbereitet werden
denn leben ist ein stilles sterben
und während er die luft anhält
zerfällt die welt in scherben


Do 7.09.23 18:11 sehr warm

ich spür es kaum
und doch ist's überall
es ist genug
die birnen und die äpfel reifen
ein frösteln treibt die gäste aus dem saal
ich riech betrug
ich will nicht mehr nach sternen greifen

ich winke mit dem parapluie
ich steig in einen zug
ich hab zu tun denn vis-a-vis
wartet ein ungeschrieb'nes jahr

es will gut vorbereitet werden
denn leben ist ein stilles sterben
und während ich die luft anhalte
zerfällt die welt in scherben

auf einem nebengleis
fährt nun ein huschen ein
das bald schon wind wird
auf dem erste blätter tanzen
hofschranzen bringen kokain
nichts macht noch sinn

und niemand kann es ändern
es wird uns von den straßen treiben
wir sind im krieg die toten sind legion



18:20

schießen sie mir ruhig in den kopf
wie damals der vietnamesische
polizist auf offener straße
einem vietcong das hirn wegblies
ein kopfschuß vom profi
tut nicht weh und am leben
hänge ich schon lange nicht mehr
ich habe die frauen satt
und die musik ich hasse die literatur
und ihre dichter
vor allem aber die welt
der konquistadoren
also los
worauf warten sie
ach - ein feigling sind sie -
ein guter mensch
schön dass ich mal einen treffe
aber wenn sie's nicht tun machs ich's selbst
puffffffffff
war aber kein profi
und hatte auf dem letzten drücker
wohl doch schiss
verriss
traf nicht den hirnstamm
sondern die pyramidenbahn
und sende jetzt als gemüse
schalten sie mich bitte noch nicht ab
ich will leben
ich büße meine fehler mit frauen
eine durchgehende undurchschaubare katastrophe
meine fehler mit der musik
denn ich war faul und hätte es weit bringen können
und meiner eigensinnigen literatur
die ich liebe und die lebt bis in alle ewigkeit
in den magzinen der bibliotheken
wie sagte erich mielke
ich liebe euch doch alle


Sa 9.09.23 12:36

Wegen Hitze vorübergehend geschlossen.


So 10.09.23 21:06

ER SIE ES hieße der Roman.


22:11

Er hatte links abbiegen wollen, aber ein Sonnenstrahl traf ihn und er beschloss, ihm entgegen zu fahren.

22:15

er spürt es kaum
und doch ist's überall
es ist genug
die birnen und die äpfel reifen
ein frösteln treibt die gäste aus dem saal
er riecht betrug
er will nicht mehr nach sternen greifen

er winkt mit seinem parapluie
er steigt in einen zug
er hat zu tun denn vis-a-vis
wartet ein ungeschrieb'nes jahr

es will gut vorbereitet werden
denn leben ist ein stilles sterben
und während er die luft anhält
zerfällt die welt in scherben

auf einem nebengleis
fährt ein gerücht ein
das bald schon wind wird
auf dem erste blätter tanzen
wohin er schaut
nur fetzen blutiger finanzen
wir sind im krieg
die toten sind sein sieg

Mo 11.09.23 12:22 zu warm

In den Marschen, keine halbe Stunde Weg von Lovejoys Farm, stand ein Schid: to the sea, dem wir über Wälle, an Schafen vorbei, die uns neugierig angglotzten, durch Wallhecken bis an einen Strand folgten, der auf eine Tiefe von etwa fünfzig Meter seewärts mit in den Küstenboden geschlagenen mehr als armdicken Pfählen gespickt war, zwischen denen die Wellen aufliefen und brachen. Es kostete ihn Überzeugungskraft, den Kindern zu erklären, dass bei solchen Wellengang und den Pfählen an Schwimmen nicht zu denken sei, was zu Murren führte.


17:54

die hitze schädelt
raubt den schneid
und fädelt den gehetzten
schweißbänder


Di 12.09.23 16:47 entspanntes Wetter

Ich hatte mich hingelegt und war schon zwei Fuß im Traumland, als fortwährend zuckendes Licht mich zurückholte. Ich schlafe unter weit offenem Fenster, ein wenig Regen sprühte herein, ich öffnete die Augen, sah den tief hängenden Himmel und hörte ihn grollen. Blitze in Sekundenbruchteilen, aber nie als Solitär hinabzuckend, sondern als aufleuchtender Kurzschluss zwischen den Wetterlagen. Wind und Regen hielten sich, zumindest hier, Münster Roxel, in Grenzen, keine Flut, kein Sturm, nur dieses unablässige Grollen und Leuchten, das erst nach Mitternacht langsam nach Osten abzog. So ein Gewitter habe ich in dieser Intensität und Länge noch nie erlebt, auch nicht in den Tropen. Gegen drei erwachte ich von heftigen Donnerschlägen. Das nun war ein Gewitter, wie ich es kannte, zickzackende Blitze, die sich durch Luftschichten den effizientesten Weg nach unten suchen. Ich zählte, Donner wie Paukenschläge, aha, es ist fast über mir. Ich stand auf, trank einen Schluck, legte mich hin und schlief bis sechs, aber ich schlief unruhig. Als ich aufstand, noch immer das Wetterleuchten. Zum Frühstück dann Sonne. Ein würdiges Finale eines mit viel Schrecken besprochenen Sommers, aber Westfalen blieb von gröbster Trockenheit verschont, wenngleich die Weizen- und Roggenernte, von zwischenzeitlichem Wind und Regen an vielen Stellen niedergedrückt, sicher geringer ausfiel, als sich die Landwirte gewünscht hatten, aber so etwas kenne ich aus meiner Jugend auch. Das Aufwachen war wie ein Aufwachen nach überstandenem Unheil, jetzt, so schien es, würde alles sofort besser werden, es war längst alles besser geworden, alles war bereinigt, der Kaffee schmeckte, dazu Schnittchen mit Schichtkäse, Tomaten und Basilkum. Dann schellte es, der Postbote brachte meinen neuen CD Player und erzählte mir von seinem Hund und den beiden Katzen, die die ganze Nacht über nicht gewusst hätten, wohin sie sollten. Ein gewaltiges Spektakel war das, und als ich da so im Sprühregen unterm Fenster lag, dachte ich, wenn man die Energie, die sich da leuchtend und krachend entlud, irgenwie nutzen könnte, hätte ein Land wie Deutschland wahrscheinlich für fünf Jahre Strom.


Fr 15.09.23 13:25 frisch am Morgen, jetzt sonnig und angenehm

du findest mich
du liest du denkst
ich sitz
bin gar nichts
und so viel


Mo 18.09.23 13:29

mein weg ist still
ich halte mich
das rasen dieser welt
ist mir zuwider

20:11

Ziellos auf dem Rad unterwegs. Kein Wunder, dass ich sie am gleichen Ort treffe, wo ich sie zu Anfang unseres schon 12jährigen Experiments getroffen habe. Wir tranken Kaffee, fuhren zu Stoffgeschäften, denn sie will sich ein Kleid schneidern, sagten meinen Enkeln guten Tag, von denen drei Trompete spielen, weil sie mitgekriegt haben, dass der, der mit dem Trompetespielen begonnen hatte, sich letzte Weihnachten enorme Mengen Kleingeld mit Weihnachtsliedern an der Straßenecke erspielt hatte. Der Vierte spielt Keyboards. Vielleicht wird's eine Band. Der Vater, mein Sohn würde Bass spielen, die Schwiegertochter Posaune, drei Trompeter und ich am Schlagzeug. Am See, auf dem die Optimisten kreuzten, teilten wir uns eine Pizza und sind jetzt, wo wir immer sind. Es regnet, ab und an grollt ein Donner. Ich sehe The National auf You Tube. Ich rauche mir 1n. Nachher lese ich den Stechlin. Und dann gehe ich ins Bett. Und dann schlafe hoffentlich tief, meist schlafe ich tief, nichts tue ich lieber als schlafen, und dann werde ich wach gegen acht und will einen Kaffee. Und dann beginnt wieder ein Tag, mit dem ich machen kann, was ich will. Hobbies habe ich keine. Es sei, dass das Ertragen des eigenen Lebens ein Hobbie ist. Aber alles Schleifen, Hämmern, Sägen, Planen, Machen, Tun ist mir fremd. Ich halte Hobbyisten für noch ärmere Schweine als mich.


Di 19.09.23 12:51 wechselnd bewölkt windig

wenn dann
nach jahrelangem schlachten
die russen
ukrainern demütig die füße küssen
wird god's own country
weltweit noch mehr banner hissen
und endlich ist's
wie sich's der große onkel ausgedacht
aus cash wird noch mehr cash gemacht


Do 21.09.23 18:48 gewittrig

Gestern haben wir uns den Mariendom in Neviges angeschaut. Es war ein wundervoller Tag. Heute sagt etwas in mir, schreibt nichts mehr auf, mach Pause, du hast genug geschrieben, niemand sieht, was du siehst, du kannst es ihnen nicht verübeln, aber werf keine Perlen mehr vor die Säue.


Fr 22.09.23 12:31 wechselnd bewölkt, könnte gleich regnen

1680, der dreißige Krieg war seit knapp 40 Jahren vorbei, hört Pater Antonius Schirley im Franziskanerkloster Dorsten während seines täglichen Gebetes vor einem unscheinbaren Bildchen der heiligen Maria eine Stimme, die ihn auffordert: bring mich nach dem Hardenberg, da will ich verehret sein. Sie versprach außerdem Wunderheilungen. Der Pater übersandte das Bild nach Neviges. Seitdem wird dieses kaum postkartengroße Bild verehrt. Es hat Zeiten gegeben, in denen bis zu 300000 Menschen im Jahr dorthin pilgerten. Kein Wunder, dass die Kirchen, in denen das Marienbild hing, bald zu klein wurden. Im Jahr 1960 wünschte sich Kardinal Frings für Neviges "einen plastischen Baukörper als Bild und Zeichen einer Wallfahrtskirche." Ein Wettbewerb wurde ausgeschrieben, Architekten fertigten Entwürfe, Gottfried Böhms neo-expressionistischer Entwurf bekam den Zuschlag.

Seit ich das 49 Euroticket zur Erkundung meiner Heimat nutze, halte ich die Augen auf, denn so eine Tagesreise braucht ja immer ein Ziel. Wie ich auf den Mariendom gestoßen bin, weiß ich nicht mehr, irgendeine Notiz irgendwo, nehme ich an, aber ich war sofort fasziniert, denn Architektur ist immer auch Skulptur im öffentlichen Raum. Der Brutalismus hat sich nicht sonderlich viele Freunde gemacht. In meiner Heimatstadt Gronau gibt es ein "brutalistisches" Rathaus, das von allen Bürgern leidenschaftlich gehasst wird.

Neviges ist ein hübsches Städtchen im Bergischen Land. Fachwerkhäuser und mit Schiefer verkleidete Häuser bilden einen spätmittelalterlichen Kern und die protestantische Kirche, denn eigentlich war man hier Protestantisch, der von Hardenberg hatte sich den Reformierten angeschlossen, was für die Bürger verbindlich für ihre Glaubenswahl war, später aber war er doch wieder katholisch geworden. Man braucht kaum zwei Stunden mit der Regional- und der S-Bahn, und schon vom Zug aus sehe ich eine der zeltähnlichen Domspitzen zwischen den Dächern. Sie wirkt nicht spektakulär, auch nicht fremd, sonder eher Teil dieses hügeligen Landstriches und seiner Häuser ringsum. Aber wir brauchen erst einmal einen Kaffee nach der Reise, den gibt es bei Hanis, ein Türke, der mir erzählt, dass es mit der Wirtschaft in Neviges nicht zum Besten stehe, den mittelständischen Industrien der Metallverarbeitung gehe es nicht gut, eine Firma habe tausend Mitarbeiter entlassen und verlagere die Produktion nach Ungarn. Man sieht das im Stadtbild. Viel Leerstand. Jetzt aber zum Dom. Beton ist ein Werkstoff, der auf vielfältigste Arbeit verarbeitet werden kann, weil man ihn gießt. Der Mariendom hat eine Leichtigkeit, die mich verblüfft. Und eine strenge Schönheit, die mich rührt. Wie die Neviger Bürger ihn finden, weiß ich nicht, aber ich kann mir schon verstellen, dass es da ein Murren gab. Wir umrunden ihn, alles ist Geometrie und zum Himmel strebend, und betreten ihn. Im Gegensatz zu den oft überladenden katholischen Gotteshäusern ist dieses karg, aber mit den Akzenten der leuchtenden Fenster gewinnt sie eine mit den Tageszeiten wechselnde Farbig- und Leichtigkeit. Dass man etwas so Schönes aus Beton machen kann. PS. Brutalismus kommt nicht von "brutal", sondern von beton-brute, Sichtbeton.

21:45

ich gehe um
mit einer ahnung
die ist nicht humbug
oder depression
sondern die allerletzte warnung
abschied von einer illusion
ein baum in panikblüte
ich brauche kraft
ich brauche etwas
das mich hält
überall nur waffen blut und dunkel
ich fürchte mich vor dieser welt
nachts höre ich das schlachtgetümmel
ich habe keine karte mehr die zählt
denn hat das töten erst begonnen
gibt es nicht eher ruhe bis die welt zerfällt


Mo 25.09.23 19:17 Spätsommer

zu sagen was möglich ist
verleiht dem abend
einen stummen glanz
sehnsucht nach meer
und liebe
eh gleich das dunkel anrückt
dunkler als die tiefsten täler der ozeane


Mi 27.09.23 13:52 Spätsommer

süße himbeeren
nachtfeuchtes gras
knorrige bäume
mit roten äpfeln
sich nach der sonne richtende blüten
kreisende krähen
dort (vor einer hütte im garten)
sitzt also das ICH
von dem niemand sagen kann
wie es dorthin gelangt ist
als ich selbst
aber dazu äußere ich mich nicht
weil jedes ICH eine erfindung sein könnte
gespeist aus quellen
erfüllter und unerfüllter erwartungen
ein traum-ICH
ein spekulations-ICH
ein
trau mich und darf ich
so alt wie die welt
wir
seine handlanger
sind schlecht bezahlte bedienstete
die tun was ICH sagt
ICH regiert ICH schießt
ICH ist ein verbrechen gegen die welt
die nur überleben wird
wenn ICH WIR wird
aber wer wechselt schon freiwillig
von der poleposition
in die vierte reihe plural


Do 28.09.23 12:26 sonnig

An der Kreuzung Studtstraße/Steinfurter warten Radfahrer auf Grün. Eine Frau links vor mir, blond, Anfang 20, trägt eine leichte, sandfarbene Jacke. Sie ist ihr vor der Schulter gerutscht, kann aber auch sein, dass das Absicht ist, modischer Gestaltungswille, es sieht jedenfalls gut aus. Darunter ein weißes, schulterfreies Top. Der rechte Träger ihres BH liegt auf ihrem Oberarm. Als die Ampel auf Grün springt und alle losstrampeln, hoffe ich, dass auch der Rest sich der Schwerkraft ergibt, aber das tut er nicht, schade. Zuhause erzähle ich meiner Frau von meiner Beobachtung. Sie hatte das gleiche gesehen und erwartet.

20:00

es solle
sagte Herr M.
sich nun reimen
jedoch müsse die muse nicht hetzen
sie solle stattdessen
eher wie durch zufall erscheinen
sie solle nichts sagen
er wolle nur schauen
um seinen säbel zu wetzen
sie solle ihn tragen
ihm in allem vertrauen
und bei germanisten
bloß nicht verpetzen
die muse tritt ein
und sagt wird es nun bald
ich will doch noch backen
und werde schon alt
aha sagt Herr M.
dann wird's nix mit dichten
ist vielleicht auch eine gute idee
denn kuchen ist kunst
und ein reim ist eh
nur das echo über einem bayerischen see
so kam es dass Herr M. töpfe ausleckte
sich dies und das in die mundhöhle steckte
und als der kuchen dann fertig war
roch es überall einfach ....
(was von reimen noch niemand behauptet hat)


Sa 30.09.23 17:41 wundervolles Wetter

Nach 5 Führungen durch's Rüschhaus, zwei 1ner-, einer Dreier-, einer Vierer und schließlich einer 16er Gruppe, bin ich platt wie eine Flunder, aber wer sagt denn, dass Flundern nicht glücklich sind. Flundern haben keinen Gott, Flundern stellen sich keine unbeantwortbaren Fragen, wissen nichts von Kriegen und Not, und sollten ihre Lebensräume zu warm werden, ziehen sie um. Ich habe auch keinen Gott, aber alles andere. Ich kotze, wenn ich die Zeitungen aufschlage, aber wegen der schon spürbaren und und noch zu erwartenden Klimaveränderungen werde ich meinen Lebensraum nicht verlagern. Wo immer ich hingeinge, hinge meine Sprache an mir. Ich halte auch nichts von extraterrestrischen Siedlungen für Besserverdienende. Ich halte überhaupt nicht viel von den Menschen, wenngleich ich sie liebe und glaube, dass sie eigentlich gut sind. Ich könnte König werden, ein guter König natürlich, ein weiser Mann, der die Mächtigen der Welt einzuschätzen weiß, der die Dummen kennt und die Niederträchtigen, die Gierigen und die maßlosen Egoisten, aber ich fürchte, selbst als guter König müsste ich Köpfe vom Rumpf trennen. Das will ich nicht. Ich habe schon genug unsichtbares Blut an den Händen, also verzichte ich lieber. Auf das Lebens als Dichter verzichte ich nicht. Das habe ich mir erkämpft, dafür habe ich mein Leben gegeben, dafür lass ich mich totschlagen. Ich lass mich totschlagen für Enttäuschungen, unbezahlte Träume und Zweifel, denn ohne die brächte kein Dichter ein Wort zu Papier. Dichter sind missfits, egal, ob berühmt oder verkannt. Hemmingway hat sich erschossen, weil ihn der Erfolg zermürbt hat und die Lektoren, die seinen berühmtesten Roman um ein Drittel kürzten, ihm den Rest gegeben haben. Er war ein missfit. Ich bin ein missfit. Missfits können klar sehen. Missfits sind tough. Wenn ich allerdings die Wahl hätte, wäre ich eine Flunder. Läge am Boden, hätte kein Problem mit dem Wasserdruck, um mich wäre alles in steter Bewegung, ich triebe mit der Tide hierhin und dorthin und sänge Lieder über meine Lieblingsflundern, denen ich in meinem Leben begegnet bin, Flundern die mich geliebt haben, die einen missfit wie mich wollten, der sich nach Liebe sehnt. Als Flunder ginge mir das alles am Arsch vorbei.