Skulptur Projekte Münster 2007 (mehr)                                     www.hermann-mensing.de      

Hermann Mensing

Subjektive Begegnungen

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1. Teil

Erster Tag, d.h. gestern wurde eröffnet, gestern und vorgestern wurden fast 600 Journalisten in Bussen herumgefahren, damit sie sehen und schreiben konnten. Nachmittags fiel die Eröffnungsfeier, zumindest die, die von innen nach außen auf die Wiesen zwischen Unibibliothek und Juridicum übertragen wurde, gehörig ins Wasser. Triefnass waren alle, die nicht mehr rechtzeitig Unterschlupf fanden.

Heute aber spielte das Wetter gnädige Dame und das, was ich schon vor 10 Jahren so wundervoll fand, findet wieder statt: Menschen fluten die Stadt, Menschen aus aller Welt.

Frau M. und ich sitzen in der Nähe der Installation 26 von Guillaume Bijl:
Archaelogical Site (A Sorry Installation) - was immer das heißen mag.
A Sorry installation? Sorry, weil Bijl eine Idee seines Professoren-Vorgängers an der Kunstakademie, Tim Ullrichs, gekupfert hat?

Oder sorry, weil diese in einem Loch stehende Kirchturmspitze nicht ausgegraben, sondern eher eingegraben scheint, mit Wällen ringsum, von denen das Publikum hinunter schaut.

Oder: weil alles an dieser Arbeit Fake ist und eher in einen Erlebnispark passt als in eine Skulpturenausstellung?

Wir haben einen Blick darauf geworfen, das reicht, danach sitzen wir im Schatten einer Birke und schauen den Schauenden zu. Eine ältere Dame liest das Schild zu Anfang des Weges zur Installation.

Darauf steht Intallation: etc. pp.

Sie sagt: Installation, das könnten Rohre sein.

Eine jüngere Frau, die von der Kirchturmspitze zurück kommt, trifft auf halben Weg ihren Mann, der gerade hingehen will und sagt: Das kannst du dir sparen, die haben gerade Messe.

Engländer, Amerikaner, Japaner, Franzosen. Digitalkameras. Männer und Frauen mit auffallenden Brillen. Kulturschwarz. Eine Frau mit Schuhen, die ihr Verletzungsrisiko auf ein Tausendfaches steigern.

Wir fahren fort und kommen zur Skulptur 31: Bruce Naumann.
Square Depression (Quadratische Senkung), die hinterm Kernphysikalischen Institut in die Erde gegraben ist, eine Art Pyramide verkehrt. 25 mal 25 Meter, ihr tiefster Punkt: 2,30 Meter, so dass der, der dort steht, die ihn umgebende Welt nicht mehr wahrnähme, reckte sie sich nicht überall in die Höhe.

Am Rande sitzen Menschen und fragen sich, was das zu bedeuten hat.

Weißer Beton. Sofort erinnere ich mich an die philosophische Plattform, die vor zehn Jahren hinterm Schloss stand und von Beginn der Skulptur Projekte 1997 zum Lieblingstreffpunkt der Promenierenden wurde.

So etwas könnte Bruce Naumann auch passieren.

Früher war hier ein Rasen, und da es sich um einen Rasen an einer kaum befahrenen Straße handelte, saßen auf diesem Rasen die Kaninchen in Gruppen und lebten ihr stilles Stadtkaninchenleben. Nun ist stattdessen die Pyramide da und stellt Fragen.

Busse kommen, spucken Menschen aus, Taxen ebenso, Menschen auf Mietfahrrädern, die Stadt hat angerichtet und alle profitieren davon.

Was allerdings Kunst ist und was nicht, wie und ob man Kunst überhaupt fassen kann, weiß ich auch nicht. Ich nehme an, jeder wird das für sich entscheiden.

Was zum Beispiel soll ich von Mike Kellys (Nr. 18) Streichelzoo halten?

Übrigens:

Informationen zu den Künstlern finden Sie zu Anfang dieses Berichts.
Dort ist ein Link zur Skulptur Projekte Münster 07, wenn Sie also offizielle Meinungen wollen, sind Sie hier falsch.

Als meine Kinder klein waren, war der Streichelzoo wichtig und ich war gern mit ihnen da. Ich mag Ziegen, ich kraule sie gern hinterm Ohr und staune jedes Mal, dass sie von all den Kindern nicht nervös werden.

Mike Kellys Streichelzoo stört mich.
Vielleicht verstört er mich auch, das weiß ich nicht.

Er ist an hässlichem Ort in einem Hinterhof an der Von Steuben Straße.
Man geht durch eine Garageneinfahrt. Gleich rechts ist ein Schaufenster, das von einem mehrfarbigen, rotierenden, kreisrunden Diskoscheinwerfer beleuchtet wird. Der Boden ist voller Stroh.
Im Hof gleich nebenan steht ein Imbisswagen, von dem ich nicht weiß, ob er zur Installation gehört. Möglich wäre das, jedenfalls wird reale Cola verkauft. Linkerhand ist der Streichelzoo, eine kreisrunder Holzbau mit umlaufender, etwa fünf Meter tiefer Fläche, auf der die Tiere leben.

Ich weiß nicht, ob das ein guter Platz für sie ist.
Eine sehr hübsche Kuh mit Kalb ist da, das Bild einer Kuh, eine blonde mit großen Hörnern, auf die ich nicht gern gespießt würde, ein Huhn (habe nicht mehr gesehen, möglich, dass mehr da sind), ein paar Ziegen.

Im Holzbau sind drei Projektionsflächen, auf denen man Dias sieht. Biblische Orte und Landschaften, u.a. das Tote Meer. In der Mitte steht die zur Salzsäure erstaarte Frau Lots. Ein Leckstein.

Und jetzt kommt es: Lots Frau schaut nicht zurück.
Sie ist nur ein bläulich schimmernder Körper. Und schaut nach vorn.

Mir wäre das nicht aufgefallen.
Ich war einmal um diesen Streichelzoo herumgelaufen und hatte das Gefühl, diese Kunst beträfe mich nicht. Und dann kommt Muse M. und verstärkt das Gefühl, indem sie sagt, Lots Frau schaut sich ja gar nicht um.

Zack.

Auf der Stelle ist auch der letzte Zweifel weg und ich habe entschieden: keine Kunst.
Keine Kunst für Herrn M. Für Frau M. auch nicht. Ebenso wie Guillaume Bijl für uns keine Kunst ist.

Aber: die Stadt ist voller Kunst und jeden Tag kann ich Neues entdecken.

Und das werde ich tun.
Ich freue mich.
So schön war Münster lange nicht mehr.

Heute Abend habe ich über eine Stunde in Bruce Naumanns Square Depression gesessen.
Wie das war, was dabei passierte, erfahren sie morgen.

 

2. Teil

Gleich beim ersten Besuch wusste ich, dass Bruce Naumanns Skulptur (Nr. 31) nicht mit einem Besuch erledigt wäre. Wenn Kunst Räume neu definiert und das Sehen herausfordert, muss man ihr Zeit lassen, sonst bleibt sie nichts weiter als unverständlich verbautes Material in städtischer oder halbstädtischer Umgebung.

Es ist kurz nach acht, ich parke meinen Wagen, gehe zur Pyramide und setze mich an den nördlichen Rand. Am südlichen sitzt eine Studentin und passt auf. Ich sitze kaum, als fünf Japaner auf Rädern kommen. Vier Frauen, ein Mann. Japaner scheinen nicht häufig Rad zu fahren. Sie wackeln viel und kichern. Sie steigen ab, kommen zu mir herüber und schauen in die Pyramide.

Schön, oder? sage ich. Nice? Zustimmendes Kopfnicken. How deep? fragt eine und ich sage 2,30 Meter. Ooo ooo oooo, machen sie. Sie sprechen kaum Englisch. Ich frage mich, wie sie überhaupt herumkommen, so ohne jede Fremdsprache, man sieht sie doch überall. Wahrscheinlich wird alles für sie organisiert.

Mittags habe ich eine Gruppe von zehn, fünfzehn sehr elegant gekleideten japanischen Frauen gesehen. Sie standen auf dem Spiekerhof, eine sich leicht neigende, mit Basaltsteinen gepflasterte Straße der Innenstadt, alle hatten Pläne der Ausstellung und schauten angestrengt darauf. Vor einem Haus rechterhand stand ein großer Container und aus einem Fenster im ersten Stock führte ein Fallrohr für Müll und Schutt hinein.

Die Frage in ihren Gesichtern war eindeutig:
Ist das jetzt auch Kunst? Und wenn ja, welche Nummer hat sie auf unserem Plan.

Jemand folgt rückwärts und barfuß der nordwestlichen Diagonale der Pyramide nach unten und gegenüber wieder hinauf.

Ein Skateboarder kommt, fährt gleich hinein, dreht seine Runde, wird aber von der Studentin heraus gewunken.

Ich setze mich an den tiefsten Punkt. Dort würde die Welt eigentlich verschwinden. Die Ränder der Pyramide wären die Ränder der Welt, aber da Bruce Naumann diesen Ort gewählt hat, verschwindet sie nicht. Das finden alle, mit denen ich an diesem Abend noch spreche, (und das sind eine ganze Menge Leute, was für die Qualität dieser Arbeit spricht, denn Kunst fordert auch zum Gespräch über sie) sehr schade und ich stelle mir vor, die Pyramide wäre in eine Ebene eingegraben, weit und breit wäre kein Haus, kein Baum und kein Strauch.

Ich sitze und sitze, Gruppen kommen und gehen. Männer schauen gern in die Spalts zwischen den Pyramiden-Seiten, fünf Zentimeter breit, Dehnungsfugen vielleicht, aber auch da, um das Wasser abzuleiten. Frauen gehen lieber hier und da herum, Mutige legen sich auf die Schrägen, schauen in den Himmel und sagen, das wäre schön.

Ich sitze, ich spreche mit unterschiedlichsten Menschen über dieses Kunstwerk und erkläre, warum ich hier säße, und dass ich noch viel länger hier sitzen würde.

Am östlichen Rand sitzt ein Paar. Beide Endzwanziger. Ich habe gesehen, dass sie mehrfach zur Mitte hin fotografierten, was bedeutet, dass ich eigentlich auf ihren Fotos sein müsste. So ein Foto hätte ich gern. Also stehe ich irgendwann auf, gehe zu ihnen und frage, ob ich auf ihren Fotos sei? Sie wirken etwas verschreckt. Und sie verstehen nicht. Ich spreche sie Englisch an und da begreifen sie. Ja, geben sie zögerlich zu, das könne schon sein. Ich bitte sie, mir das Foto doch zuzumailen, ja, sagen sie, aber das könne dauern. Das macht nichts, sage ich, gebe ihnen meine Karte und kehre zu meinem Ausgangspunkt zurück.

Wenig später nähert sich der Mann scheinbar ziellos, aber dann spricht er mich an. Gleich darauf kommt auch seine Frau. Die beiden sind aus New York. Sie waren schon in Venedig, in Basel, in Kassel, sind jetzt hier und wollen noch nach Berlin. Drei Wochen europäische Kunst. Ich erzähle ihnen von der Stadt und wie schön sie ist. Vom Land ringsherum und von der Vielfalt der kulturellen Angebote. Sie fragen nach der Skulptur Ein Schiff für Münster von Ludger Gerdes. Sie war Bestandteil der Skulptur Projekte 1997. Ich erkläre ihnen den Weg.

Und was sagt die Blume für Münster vom Marko Lehanka? (Nr.08)

Als ich vor ihr stand, sagte sie:

Diese Geschichte mit 143 Buchstaben ist frei erfunden und hat keinen Bezug zur Realität.

Kurze Pause.

Was geschah am 18.06.07 in Münster und welche Rolle spielte das Viech Muschi, eine Katze, weiß getigert, tragend dabei. Was für ein wie gemalter Montag. Die gefühlte Temperatur beträgt bestimmt 21 Grad. Darsteller: Muschi, die 3-beinige, 33,478 Zentimeter, stirbt an ihrer Lungenentzündung mit dem Bekenntnis: Miau, ich bin keine Katze. Ich bin ein Zeisig.

Ich wette, heute sagt sie etwas anderes. Aber vielleicht auch nicht. Ich mag diese Blume sehr. Sie ist fremd und doch fröhlich, sie kann sprechen, was fast einem Zauber gleichkommt, sie ist eine Zauberblume mit einem Bildschirm als Blütenstempel, darauf das gesprochene Wort als Fließtext.

 

3. Teil

Pawel Althamer: Pfad (Nr. 27) hält uns Deutsche für Konformisten. Er meint beobachtet zu haben, Radfahrer führen immer nur da, wo man ihnen vorschriebe, zu fahren, er glaubt, wir kürzten nicht ab, nähmen nie die elegante Diagonale, kurz: er hält uns für ein bisschen doof.

Das ist falsch beobachtet, lieber Pawel.

Davon aber mal abgesehen, ist das Vergnügen, den Pfad, den er, ausgehend vom Aasee quer durch die Wiesen, über die Sentruper Straße hinein in ein Gerstefeld hat trampeln lassen, höchst vergnüglich.

Ich habe mir den ersten Teil geschenkt, die Aa-See-Wiesen kenne ich zur Genüge, durch ein Gerstefeld aber bin ich seit meiner Kindheit nicht mehr gegangen.

Schon nach wenigen Schritten wogt es um mich und die Welt rückt in den Hintergrund. Die Luft ist von Vogelgesang erfüllt. Zwei Französinnen auf Fahrrädern kommen mir entgegen. Sie fluchen und schwitzen und müssen jeden Meter einmal in höchster Not abspringen.

Das ist also der falsche Weg, den Pfad zu erkunden.

Der Regen der letzten Tage hat Senken mit knöcheltiefem Matsch hinterlassen, ich wandere langsam und Schritt für Schritt tiefer und tiefer hinein in dieses erste Feld, dem, das weiß ich jetzt noch nicht, weitere folgen werden.

Erst aber nähere ich mich einem Pappelwald, durchquere eine feuchte, mit hohem Gras bewachsene Bach-Aue, überquere eine grob zusammengezimmerte Brücke über den Gievenbach, eine unter den Schritten vor Feuchtigkeit nachgebene, frisch gemähte Wiese, folge dem Pfad in ein Roggenfeld, sehe die Kastanienallee und bin wieder Kind. Es ist Sommer, ich habe es gewagt, aber ich habe nichts zu befürchten, denn dies ist Kunst, nirgendwo wird ein Bauer stehen und mich bedrohen.

Der Weg windet sich, ich erreiche die Allee, ich bin ein wenig enttäuscht, weil es so aussieht, als sei das Vergnügen vorbei, aber dann sehe ich, dass der Pfad weiter führt und ich, ein Eingeborener, glaube fast, dass es doch noch hinuntergeht bis zur Aa.

Der Pfad führt in ein Maisfeld.
Mit unvermuteten Richtungswechseln weit hinein. Mitten im Feld, bricht er ab.

Ich setze mich. Es summt und brummt um mich und über mir. Noch ist der Mais nicht mannshoch, aber das wird nicht mehr lang dauern und dann ist man verschwunden im Mais-Dschungel und hätte vielleicht sogar das Problem, wieder hinaus zu finden. Aber es gibt ja den Pfad.

Auf dem mir, ich bin auf dem Rückweg, ein junges Paar auf dem Rad entgegenkommt.
Auf der feuchten Wiese rast ein schwarz-weißer Terrier auf mich zu. Es ist Karin, der Hund des Galeristen S., der mit seiner Frau unterwegs ist.

Zwei Japaner tauchen auf. Long long way, sagt der eine. Wir nicken freundlich.
Die Frau des Galeristen findet G. Bijl gut. Der Galerist auch. Ich halte dagegen. Ich sage, Bijl sollte lieber für Disney arbeiten. Der Galerist findet Bijl jetzt auch nicht mehr gut.

Zwei Frauen und ein Schäferhund kommen mir entgegen.
Kaja, machste mal ein bisschen Platz, sagt eine der Frauen zum Hund, der den Pfad in voller Breite versperrt. Ich verlasse das Feld und bin wieder an meinem Ausgangspunkt. Dort steht mein Rad. Ich schließe es auf. Ein blonde Frau stürmt ins Feld, abgeschlagen folgt ihr schnauzbärtiger Mann. Er trägt einen akustischen Guide.

Ich nehme an, dass die Bauern, durch deren Felder der Pfad führt, jeden, der ihm folgt, für leicht bescheuert halten. So ganz falsch ist das nicht, aber bitte, lieber Bauer, bedenke, dass der Stadtmensch solche Erfahrungen sonst nicht machen kann.

Mark Wallinger (Nr. 01) hat eine Angelschnur im Kreis um das innere Zentrum Münsters gespannt. Mal verläuft sie in 4,5 Meter Höhe, mal etwas höher. Seit Eröffnung der Ausstellung bin ich schon mehrfach herumgefahren, habe Orte passiert, von denen ich wusste, dass hier ein Schnittpunkt sein musste, habe sie aber noch keinmal gesehen.

Mir gefiel die Idee einer solchen mehr oder weniger unsichtbaren Ein- bzw. Ausgrenzung, denn derlei Grenzen sind immer unsichtbar, obwohl jeder, der drinnen ist, die von draußen erkennt und umgekehrt.

Als ich anfing zu denken, dass es ja auch möglich sei, der Öffentlichkeit nur die Idee zu verkaufen, ohne tatsächlich eine Schnur zu spannen, als diese Einsicht in mir reifte und ich dachte, hm, das ist clever, habe ich sie heute tatsächlich gesehen.

Ich fuhr die Himmelreichallee hinab und da hing sie, gerissen, vom Stamm einer Platane.
Also gibt es sie doch.
Also ist Münster für 100 Tage Ort einer inneren und äußeren Zone.

Ich habe mir vorgenommen, ihrem Verlauf um die Stadt zu folgen, aber nicht heute.

Mit Isa Genzkens (05) Installation bleibe ich ratlos.
Ich bin daran vorbei gegangen, ich habe flüchtige Blicke geworfen, ich sah Puppen und Sonnenschirme und Campinghocker, ich hörte einen Guide sagen, es sei eine kritische Arbeit und dachte, ich habe nichts gegen Gesellschaftskritik in der Kunst.

„Es ist nicht so, dass die Kunst still sein muss,“ hat, erfahre ich später, Isa Genzken gesagt, „aber sie muss in sich eine Attraktion sein.“

Möglich. Ich finde sie nicht attraktiv.

Aber um zu Einsichten zu gelangen (egal, zu welcher), ist diese Ausstellung ja konzipiert.
Man geht herum, man wägt ab, man macht sich Gedanken, man findet, befindet seinen Standpunkt und definiert Kunst. Möglich, dass diese Definition nur einen Augenblick hält, möglich, dass sie an der nächsten Straßenecke vom Leben ad absurdum geführt wird, aber das macht nichts, man hatte ja den Augenblick, und wie jeder weiß, nichts (kein Glück, kein Unglück) dauert länger als einen Augenblick, danach ist alles nur noch die Erinnerung daran.

 

4. Teil

Der Abend war schön. Der Klimawandel produziert (seit wir wissen, dass es der Klimawandel ist) solche Abende neuerdings in Serie. Als wir das noch nicht wussten, war es so, dass wir, wenn wir Nachbarn zu einem Grillfest zusammenbringen wollten, hoffen mussten, dass es im Juli klappen könnte, von Juni war nie die Rede.

Seit wann kann man im Juni bis abends um zwölf draußen sitzen, ohne zu frieren?
Seitdem.
Gestern etwa.

Wunderbares Klima also und wir beschlossen, den Wein, den wir abends gern auf dem Balkon trinken, in eine Tasche zu packen, mit dem Rad zur Square Depression zu fahren, dort zu lagern, ihn zu trinken und zu schauen, wer kommt.

Es kamen wenige.

Zwei Japaner, zwei, drei Paare, und alle waren schnell wieder fort, als sei die Verunsicherung über so einen Ort nur schwer auszuhalten. Als wäre es vielleicht zu kompliziert, sich ein Bild zu machen.
Nur die geführte Gruppe blieb ein wenig länger, denn ihr Guide hatte das dringend geraten.

Ich schließe mich ihm an. Bleiben Sie länger.

Weiß ich, was Kunst ist?
Nein.

Ich weiß nur, was mir gefällt und was nicht.
Gefallen ist ein scharfes, zweischneidiges Schwert, denn viele der ausstellenden Künstler haben gesellschaftskritische Ansätze und wollen gar nicht gefallen, es ist ihnen wurscht.
Bei ihnen treten die ästhetischen Ansätze hinter konzeptionellen zurück, in deren Schatten Arbeiten entstehen, die man nur begreifen kann, wenn man vorher über sie liest.

Ich finde das schade und dumm. Mich soll Kunst berühren.

All die verschiedenen konzeptionellen Ansätze sind interessant, aber das reicht mir nicht.

Lesen Sie zum Beispiel die Projektbeschreibung zu Isa Genzkens Arbeit und Sie werden einsehen, dass sie natürlich recht hat. Schauen Sie sich ihre Arbeit an und prüfen Sie, ob es Brücken gibt, die Sie begehen können, Brücken, die es Ihnen ermöglichen, das Konzept als Kunst zu akzeptieren, ja oder nein.

Ich gehe gern über Brücken.

Etwa zu Andreas Siekmanns Arbeit (12) vorm Erbdrostenhof.

Der hat sich ein paar von den in den letzten Jahren in europäischen Städten stehenden Werbekühen zur Brust genommen, geschreddert und daraus eine mehr als mannshohe Kugel geformt. Dazu ziert die Mauer des Hofes ein Fries mit Piktogrammen.

Das gefällt mir.
Radikaler könnte kein Sprayer sein, ist er in den seltensten Fällen auch nicht, meist erschöpft sich deren Arbeit in selbstverliebter Hier-Schreierei.


Und so fahre ich also herum und mache mir ein Bild.
Wenn Sie genau lesen, werden Sie wissen, dass es schon Favoriten gibt.

Heute habe ich mir Tue Greenfort (22), Susan Philipsz (23), Rosemarie Trockel (24) und Annette Wehrmann (25) vorgenommen.


5. Teil

Liebe Frau Wehrmann (25),
während Großgruppen geleiteter Kunsttouristen vorm Zaun ihrer Baustelle flocken, Japaner sich im Mohn fotografieren und eine hübsche Dänin mit zuhause telefoniert, sitze ich auf der Wiese und versuche, mir einen Reim zu machen.

Malen (zeichnen) können Sie nicht, sonst sähe ihr Baustellenschild anders aus.
Ihrem fehlt die professionelle Perfektion (Kälte), die den Anleger und den Rest der Welt täuschen soll über die wahren Motive der Bauherren. Ihres riecht das nach Malkurs. Aber da ich es mit Kunst zu tun habe, räume ich ein, dass das gewollt sein könnte.

1. Reim: Tarnen / Enttarnen / Enttarnt???

2. Reim: Das Gewollte / Intendierte / ist immer eine gute Ausrede?

Gearbeitet wird auf dieser Baustelle nicht. Das ist schade, denn ich hatte mir vorgenommen, einen ihrer fiktiven Bauarbeiter zu fragen, wie man sich fühlt, wenn man für eine Fiktion arbeitet.

3. Reim: Tun wir das nicht alle, hätte ich gesagt???

Aber es ist gearbeitet worden.
Kreisrund ist Erde ausgehoben, Erde gehäuft, Baumaschinen stehen hier und da (eine teure Arbeit bei den Tagesmieten für Bagger etc.), die Firma Stratiebo hat werbewirksam überall Schilder platziert, trotzdem - das Wellnessprojekt AaSpA, das Sie, liebe Frau Wehrmann, hier eingezäunt haben, erschließt sich mir ... .

Nun ja.

In den 90ern haben Sie Blumen in öffentlichen Anlagen gesprengt.
Das finde ich lustig.
Lustig und gemein.

Das Wellnessbad finde ich ...
metaphorisch gesprochen...
finde ich es ... äh ... also ziemlich ... äh ...

Es gibt ästhetisch nichts her (falls jemand glaubt, Kunst müsse ästhetisch etwas hergeben), und die intendierte Gesellschaftskritik (Kosten/Nutzen-Relation) steht in keinem Verhältnis zu diesem raumgreifenden Projekt.

Der Guide einer Gruppe Amerikaner scheint das zu ahnen.
Er zeigt auf die Wiese und fragt, nun, wessen Arbeit ist das, worauf alle die Achseln zucken.
Jemand ruft: "Was für eine wundervolle Wiese."
Der Guide dreht sich abrupt um, weist auf den Bauzaun und sagt "Well, that's the work."

Glückwunsch, dass Sie die Kuratoren überreden konnten, Frau Wehrmann!

 

Kein Kommentar zur Eibenhecke (24).
Frau Trockel gilt international als eine der wichtigsten Künstlerinnen ihrer Generation.
Bitte. Ich kann es nicht ändern.
Tausend Menschen haben tausend Entwürfe, ich gehöre zu Tausendundeins.

Aber da Kunst dran steht, steigen Menschen von ihren Rädern, fotografieren, gehen herum.
Eine Frau sagt, der Guide hätte gesagt, Frau Trockel wäre ... (s.o.)
Sagt der Guide so etwas, um unbequemen Fragen aus dem Weg zu gehen?
Sagt er das, um Eindruck zu schinden?

Sagen wir, ich übergösse die Hecke mit Benzin und zündete sie an, was hätten wir dann?

Kunstfrevel?
Eine Schadensersatzklage am Hals?
Oder hätten wir erst jetzt das tatsächliche Werk?
Konstruktion. Dekonstruktion.

Vom rein Gärtnerischen jedenfalls lässt die Hecke zu wünschen übrig.

 

Die Torminbrücke ist eine sehr schöne Brücke. Zumindest von unten.
Und Susan Philipsz (23) ist eine naive Sängerin, wie wir alle naive Sänger und Sängerinnen sind, mit dem Unterschied, dass wir in der Wanne singen, beim Spülen oder beim Radfahren.

Frau Philipsz singt unter der Torminbrücke. Sie nutzt den Hall des weiten, hohen Raumes. Sie singt zweistimmig, die führende Stimme wechselt das Ufer. Natürlich steht sie nicht selbst da und singt den ganzen Tag. Das brächte der Arbeit einiges. Nein. Eine (nehme ich an) digitalisierte Aufnahme wird in regelmäßigen Abständen über zwei, auf beiden Seiten des Sees unter der Brücke angebrachten Lautsprechern übertragen.

Was muss noch geschehen, bis sich der Mensch als Mensch am jeweiligen Standort (HIER) wahrnimmt, statt ununterbrochen an DORT zu denken?

Wie viele der gezeigten Arbeiten Skulptur-Projekte-Münster lässt sich auch diese nur durch die rasant zunehmende Sinnentleerung & hemmungslose Reduzierung des Subjektes auf seine Funktion als Konsument erklären.

Insofern könnte sie Kunst sein.

Aber lassen Sie sich kein X für ein U vormachen?
Auch nicht von mir.

Gehen Sie selbst hin. Schauen Sie.

Doch Vorsicht!!!

Die Verschleierer sitzen überall.
Die Meinungsmacher.
Die Hüter von Herrschaftswissen.
Die Kulturmagnaten.

Von all dem abgesehen ist Susan Philipsz Beitrag zur Skulptur-Projekte 07 reizend naiv und wert, dass man kurz anhält und zuhört. Mehr aber auch nicht.


Auf dem unteren Treppenabsatz des Aa-Sees (in Sichtweite von Claes Oldenburgs Billardkugeln), steht ein silbern glänzender, nagelneuer Güllewagen der Firma Garant und versprüht mit Eisenchlorid versetztes Wasser in weiten Schwüngen in den See.

Tue Greenfort (22) hat den Wagen dort aufgestellt. Das ist sein kritischer Kommentar zu den diversen Versuchen, die Wasserqualität des Aa-Sees zu verbessern.

Der Güllewagen sprüht tagein, tagaus, nachts sogar beleuchtet.

Petra, der schwarze Schwan, der im letzten Jahr urplötzlich aufgetaucht war, sich in ein weißes Tretboot in Form eines Schwans verliebte, zu Weltruhm gelangte, blieb und seither uneingeschränkter Star des Aa-Sees ist, findet den Güllewagen beunruhigend. Er glänzt in der Sonne und macht stillen Radau.

Die nebenan ausharrende Studentin sagt, auf die Dauer wäre er schon ein wenig laut.
Als Aufsicht verdient sie 8 Euro die Stunde. Trotzdem tut sie mir ein wenig leid. Sie sich selbst auch. Sie sagt, sie habe schon beantragt, auch mal ein anderes Werk beaufsichtigen zu können.

Die Werke werden in zwei Schichten beaufsichtig.
Von morgens 10 bis 16 Uhr und von 16 bis 22 Uhr.
Nachts bleibt die Kunst allein.
Vielleicht ist das Werk nachts schön, ich sollte mal hinfahr'n und sehen.

Aber tagsüber? Nö.

Zwischen Billardkugeln und Güllewagen wickeln Dealer ihre Geschäfte ab, die aus dem Rahmen Gefallenen vertrödeln den Tag und die, die Zeit und Geld genug haben, Kunst anzuschauen, fotografieren.

Ich würde gern erfahren, was sie ihren Lieben daheim erzählen, wenn sie Fotos der verschiedenen Arbeiten zeigen. Sicher ließen sich daraus O-Töne kombinieren, die jedem Kurator Schamesröte ins Gesicht trieben.

In den Medien wird Münster gewogen und ernst genommen. Das freut mich.
Münster ist eine wunderschöne Stadt und die Skulpturen sind ein Ereignis, das ich nicht missen möchte. Ästhetisch komme ich bei vielen der Arbeiten, die ich bisher gesehen habe, nicht auf meine Kosten.

Große Ausnahme: Bruce Naumann.
Konzeptionell überzeugen mich auch nur wenige.
Große Ausnahme: Mark Wallinger. Aber das wussten Sie sicher längst.

Und die Arbeit von Martha Rosler (15).

Die sollte sich einige der teilnehmenden Artisten anschauen, damit ihnen klar wird, was es heißt, Kunst und Inhalt zusammen zu bringen. Sie könnten lernen.

Aufgefallen ist ein Teil dieser Arbeit natürlich wieder einmal Frau M. Sie hat den Adler zuerst gesehen, der auf einer Stange vorm Eingang der im letzten Jahr eröffneten Einkaufs-Arkaden steht, ein Reichsadler ohne Swastika, aber auf beunruhigende Art doch sehr verwandt mit der dahinter aufstrebenden Architektur.

Glückwunsch, Frau Rosler.

In ihrem Fall lese ich die konzeptionelle Überlegungen zu ihrer Arbeit gern, denn Sie sind nicht Alibi, sondern Bestandteil und führen weiter als das realisierte Projekt zeigen kann.

So. Das war's für heute.
Natürlich könnte ich noch eine Hitliste aufstellen, aber ich glaube, das überlasse ich besser Ihnen und bleibe bis dahin ihr guter alter Freund Heinrich Pumpernickel .... das ist jetzt für die Senioren unter Ihnen, also quasi für Leute meines Alters.

Nicht vergessen: Kunst ist Kunst ist Kunst ist Kunst?

 

6. Teil

Was aber, wenn Kunst von einem Tag auf den anderen vielleicht keine Kunst mehr ist?

Zu kompliziert?
Nun, dann will ich erklären.

Muse M. wollte endlich auch Pawel Althamers Pfad gehen, also setzten wir uns auf Rad und fuhren los. Der Himmel war wundervoll dramatisch, es war ein bisschen schwül, wir erreichten den Pfad, folgten ihm auf die schon beschriebene Art und Weise, kamen schließlich ans Maisfeld und fanden den Fortgang, dem ich vor Tagen noch gefolgt war, mit rotweißem Band abgesperrt.

Die Frage, die sofort im Raum stand:

Hockt Pawel Althamer, der mit dem Pfad ja darauf hinweisen will, dass der Deutsche im Verhältnis zum Polen eher konformistisch ist, ergo: keine roten Ampeln überfährt, keine Diagonalen trampelt, wenn es auch Umwege gibt, hockt dieser Herr vielleicht mit seinem Fotoapparat im Mais oder im Roggen, um seine These zu beweisen?

Rotweißes Absperrband,
der Deutsche schlägt die Hacken zusammen,
sagt jawoll ja
und geht wieder nach Hause?

Da hat er sich aber geschnitten.
Den Gefallen tun wir ihm nicht, wir übersteigen das Absperrband und verschwinden im Mais.
Wir erreichen den Endpunkt des Pfades.
Wir hatten gehofft, dort wegen unseres mutigen Vorgehens und Mißachtens des Absperrbandes vielleicht ein Getränk serviert zu bekommen, aber nichts da, der Ort hatte sich seit meinem letzten Besuch nicht verändert.

Plötzlich aber stürzten Polizisten aus dem Mais und verhafteten uns.
Eine Scheinverhaftung, wie sich später herausstellen sollte, Teil der Installation, dennoch, die posttraumatischen Erinnerungen rumoren in mir, nie wieder werde ich einem Polen auf den Leim gehen, nie mehr, nie .... (1)

Zum Glück dürfen unsere Alter-Egos bald weiter herumfahren, um Kunst zu sehen.
Das wird ihnen schon nach kurzem Verhör zugestanden, jemand, der Kunst schaut, kann kein schlechter Mensch sein, wird gesagt, also entlässt man sie.

Während also unsere dunkle, nonkonformistische Seite weiter verhört wird, fahren Herr M. und Frau M. den Aa-See entlang. Wir sehen, wie sich Muse M.'s Gesicht verdüstert, als sie Annete Wehrmanns Baustelle passiert. Nein, absteigen will sie erst garnicht.

Wir erleben, wie Muse M. (die Frau Trockels sonstige Arbeit gut findet) abwägt, ob dieser Eiben-Monolith nicht doch irgendetwas hat, das er vorgibt, zu haben.

Irgendeine künstlerische Qualität (sicher nicht die gärtnerische) die sich uns verbirgt, sieht man davon ab, dass er von unzähligen Touristen umringt, fotografiert und mit offiziellem Text in allen Weltsprachen beschworen wird.

Nein, hat er nicht.

Man sieht Herrn und Frau M. unter der Tormin Brücke, während Susan Philipsz singt, sie folgen den Aa-See in voller Länge, essen eine Curry Wurst und verschwinden schnell, denn mit all diesen flanierenden Menschen ist keine Kunst zu machen.

Letzte Station:

Hans Peter Feldmann (02) hat die öffentlichen Toiletten unterm Domplatz renoviert.
Wer dort seinem Bedürfnis nachgeht, ist Teil des Kunstwerks.
Die Toiletten sind hübsch. Mehr wüsste Herr M. nicht darüber zu sagen.
Irritiert war er, als auch Frauen die Herrentoiletten besuchten.
Also sah er von der Verrichtung seiner Notdurft ab und verschob sie auf später.

So kann's einem gehen, wenn man Kunst liebt.

 

7. Teil

Die Welt lebt von der Aufmerksamkeit. Die Katze, die im anderen Zimmer sitzt, wird erst lebendig, wenn jemand nachschaut – was sich nicht zeigt, ist nicht vorhanden. Und doch ist es da, behauptet Martin Boyce, und muss nur wahrgenommen werden.

Boyce ist einer der an der Skulptur-Projekte-Münster teilnehmenden Künstler (28).
Ich habe seine Arbeit gesehen. Sie korrespondiert mit ihrem Titel: We are still and reflective.
Ich bin einmal auf ihr herum gegangen. Sie ist schön. Mehr weiß ich noch nicht.

Weshalb ich Boyce hier zitiere, hat einen einfachen Grund: ich erwachte heute früh mit der Frage, ob das, was im Moment in der Stadt zu sehen ist, auch Kunst ist, wenn niemand es anschaut.

Die Antwort lautete: vieles nicht.

Ich habe das Gefühl, dass ich nicht mehr weiß (oder noch nie wusste) was Kunst ist.
Ich weiß nur, wenn es sich in mir sträubt. Bei billigen Ideen zum Beispiel.
Die Skulptur-Projekte-Münster 07 versucht eine ganze Menge billiger Ideen als Kunst zu verkaufen.

Nicht umsonst gibt es Kunstvermittler, Ansprechpartner, die dem ahnungslosen Betrachter erklären sollen, dass das, was er gerade sieht, Kunst ist. Man arbeitet also auch mit Worten.

Ein Metallrahmen, mit Stoff bespannt und mit Spiegelglas versehen, einem Paravent ähnlich, teilt den Platz in eleganter Leichtigkeit in zwei Räume, doch keiner wäre privat zu nennen, überall kann man gesehen werden. Die Arbeit übernimmt eine Funktion, wäre als Sichtschutz zu gebrauchen, doch löst sie ihr Versprechen nicht ein, nicht sofort jedenfalls – vielleicht reicht die Unterscheidung aus, die der Paravent macht, dass irgendwann auf der einen Seite etwas anderes passiert als auf der anderen. Entr’acte, der Titel der Arbeit, meint ein tänzerisches Intermezzo zwischen zwei Partnern und verweist zugleich auf die zeitliche Begrenztheit der aufgestellten Arbeit.

Ich habe die Arbeit, zu der dieser Text geschrieben wurde (11 - Nairy Baghramian) noch nicht gesehen. Aber er scheint mir typisch. Er beschreibt, was in Ordnung ist, aber er suggeriert auch, drängt mein Denken in eine Richtung.

Bin ich ein Idiot, wenn ich es anders sähe?

Oder lesen Sie dies:

Die Arbeit von Rosemarie Trockel entsteht am Aasee.
Im Umfang von je 7 Meter Länge, 3,5 Meter Breite und 4,5 Meter Höhe wurden zwei Eibenblöcke am Ufer des Sees gepflanzt. Die Pflanzung der sogenannten Eibenhecke ist der Ausgangspunkt in der Entwicklungsphase des Kunstwerks, das bis zur Eröffnung langsam weiter wächst und nochmals geschnitten wird.

Die spezifischen Eigenschaften der Eibe bestimmen das Wachstumstempo und die Veränderungen der Hecke. Gleich nach der Pflanzung, am 1. Dezember 2006 , wurde das Kunstwerk zum ersten Mal geschnitten. Seine Form wie auch das Ausmaß untergraben jeden Vergleich mit konventioneller Heckenpflanzung: Alle vier Seiten der beiden Blöcke haben einen asymmetrischen Zuschnitt, die beiden oberen Abschlüsse laufen vom äußeren zum inneren Rand v-förmig zusammen.

Kontinuierliches Wachstum und ein weiterer Schnitt werden in den Monaten bis zur Eröffnung von skulptur projekte münster 07 die Entwicklung der Skulptur bestimmen.

Besteht die Kunst der Hecke darin, dass Form und Ausmaß jeden Vergleich mit konventioneller Heckenpflanzung untergraben? Ist das schon alles? Oder liegt es an der Asymmetrie? Oder am Wachstumstempo der Eibe? Oder einfach nur daran, dass es Frau Trockel gelungen ist, diese Heckenanpflanzung als Kunst zu verkaufen, wie es Duchamp vor fast hundert Jahren gelang, ein Pissoir als solche zu etablieren, indem er es signierte?

 

8. Teil

Eh es sich heute um Gustav Metzger (04), Dora Garcia (06), Eva Meyer/Eran Shaerf (10), Nairy Baghramian (11), Manfred Pernice (16), Clemens von Wedemeyer (17) und Deimantas Narkevicius (33) dreht, darf nicht unerwähnt bleiben, dass Muse M. gestern abend die Eibenhecke von Rosemarie Trockel plötzlich und unerwartet zurück aufs Tapet brachte und, ich zitierte, sagte: "Ich glaube, ich finde die doch gut." Als ich fragte, warum, führte sie den Titel der Arbeit an.

Weniger wild als andere... (macht sich Französisch/Englisch natürlich noch besser: Less Sauvage than Others)

Meine Einwände prallten ab, sie habe, so Muse M., die Arbeiten von Rosemarie Trockel immer schon gut gefunden, und so bleibt nichts, als zu vermelden, dass sich seitdem ein Riss durch unser Sommervergnügen zieht.

Ein Graben.

Ich hier, Muse M. drüben, dazwischen diese mit Erklärungsprosa hochgejuchzte Eibenhecke: ... da aber fast alles an Eiben giftig für den Mensche und viele Tiere ist, wurde ihre Ausbreitung bekämpft. Heute wird aus Eibengift ein Krebsmedikament gewonnen.

Die Hecke wird bleiben. So viel steht schon fest.
Ob sie, wenn die Ausstellung erst einmal beendet ist, nach wie vor "weniger wild als andere" ist, werden wir ja sehen.

So.

Dann stand noch eine Frage im Raum.
Ob Kunst auch Kunst wäre, wenn es regnet.
Diese Frage kann ich beantworten:
Wenn es vorher Kunst war, ist es auch noch Kunst, wenn es regnet.

Also los. Es ist kurz vor 10 Uhr, es regnet, ich bin ein wenig verstrahlt, habe mir aber vorgenommen, den Tag mit Kunst zu verbringen, denn Kunst schafft Sinn, Kunst schafft Vergessen, Kunst schafft alles mögliche, man muss nur an sie glauben.

Ich warte auf den Gabelstapler, der jeden Morgen Steine im Stadtgebiet verteilt.
Eine Arbeit von Gustav Metzger, einem Großen der radikalen Künstler, ein Prophet der auto-destruktiven Kunst. Ich las einiges zu seinen Arbeiten.

Viele existieren wegen ihrer Radikalität nach wie vor nur als Idee, etwa die, in der er eine große Zahl Autos in eine riesige, mit Plastikplanen luftdicht verhüllte Garage stellen, die Autos starten und warten wollte, bis diese sich von selbst entzünden. Wäre das nicht innerhalb von 24 Stunden geschehen, hätte Metzger kleine Bomben hinein geworfen, um den Prozess voran zu treiben.

Das hatte mir sofort gefallen.
Da hatte ich gleich an 9/11 denken müssen, das, wenn es kein terroristischer Anschlag gewesen wäre, mit Sicherheit als eine der aufsehenerregendsten Kunstaktionen autodestruktiver Kunst in die Geschichte der Kunst eingegangen wäre.

Schade.

Die Shattered Stones (04) sind eine eigentümliche Arbeit. Metzger hat einen Computer so programmiert (oder programmieren lassen), dass der Gabelstaplerfahrer, der jeden Morgen zunächst ins Museum kommt (ich bin schon da und grüße ihn), das Programm öffnet und nach Eingabe eines Passwortes vom Zufallsgenerator erfährt, wie viele Steine welcher Art er an diesem Morgen an einen definierten Ort in der Stadt, an eine ganz bestimmte Stelle fahren soll.

Das geschieht jeden Tag, auch sonntags.
Der Fahrer bringt die Steine an besagten Ort, fotografiert sie, kehrt zurück und speist das Bild in den Rechner ein. Dort kann der Besucher sich alle bisher mit Steinen bemusterten Plätze/Orte/Ecken etc. anschauen.

Auf die allgegenwärtige Frage, ob das nun Kunst sei, wage ich nur zu sagen, dass Sie das selbst entscheiden müssen. Jedes Kunstwerk wird erst im Kopf seines Betrachters zu einem solchen. Sollten Sie mich aber fragen, ob ich irgendetwas verspürt hätte, ob diese Kunst mich berührt u. o. bewegt hätte, kann ich eindeutig: NEIN antworten.

Hat sie nicht, wird sie nicht, kommt mir nicht ins Haus.

Muse M. meint, diese Arbeit schreie geradezu danach, dass ihr Betrachter in den Prozess eingreife, die Steine beispielsweise zertrümmere (shattered stones - die Steine, die herumgefahren und abgelegt werden, sind nicht shattered) oder farblich verändere.

Ich glaube auch, dass einige Projekte, die Münster diesen Sommer bewegen, solche Eingriffe geradezu herausfordern.

Die Paravants von Nairy Bahramian (11) etwa.
Dort haben Sprayer längst eingegriffen. Ich weiß, ich weiß, viele von Ihnen halten Sprayer für Schmierfinken. Oft sind sie das auch, aber eines sind sie nicht: Angsthasen. Sie haben sich wohl gedacht: was soll das? Das machen wir schöner. Da geben wir unseren Senf dazu. Und BASTA.

Mehr kann ich zu dieser Arbeit wirklich nicht sagen.

Entr'acte, ihr Titel meint ein tänzerisches Intermezzo zwischen zwei Partnern und verweist zugleich auf die zeitliche Begrenztheit der aufgestellten Arbeit.

Nun bitte, wenn es denn sein soll. Französich ist cool. Aber ich, ich bin cooler. Viel cooler.

Sie werden bemerken, dass man, wenn man sich mit den Arbeiten dieser Skulptur Projekte 07 auseinandersetzen will, nicht darum herum kommt, die zur Verfügung stehenden Subtexte zu lesen.

Das kann, muss aber nicht erhellend sein.

Im Gegenteil, die meisten Texte zum Werk schienen mir eher Audruck eines latent vorhandenen Unwohlseins.
Ich hatte gedacht, Kunst spräche für sich.

Was also ist Kunst?

Das Werk? Der Text zum Werk?
Der Preis?
Ist Kunst autodestruktiv?
Eine Eibenhecke?
Eine Installation mit alten Sonnenschirmen und Puppen?
Ein Film?
Eine Performance?

Gut. Testen wir den Film.

Clemens von Wedemeyer (17) belegt ein seit Jahren leerstehendes Kino (Metropolis) und zeigt dort einen Film, der im angrenzenden Bahnhof spielt. Er filmt mit einer Handkamera (aha: Dogma), es wackelt und es wird nicht ausgeleuchtet, und immer, wenn jemand, der nicht authentisch, sondern als Schauspieler in die Pseudo-Dokumentation eingreift, weiß es der Zuschauer auf der Stelle. Aha. Fake. So ein Film könnte spätabends als Doku im Fernsehen laufen, da säße man dann bequem und würde unter Umständen einschlafen.

Ich saß allein in diesem Kino, saß auf einem Schaumstoffwürfel und schaute mir Von Gegenüber an. Von unten zog Popkorngeruch herauf. Ich dachte daran, dass ich auf dem Weg zum Metropolis den Faden der Zone von Mark Wallinger gesehen hatte. Und wie ich mich darüber gefreut hatte.

Ich hatte vorher zwei andere Filme gesehen.

Einen im Lichthof des LWL-Landeshauses, The Head (33) von Deimantas Narkevicius.
Dessen Idee war es, die in Chemnitz, ehemals Karl-Marx-Stadt, stehende Büste Karl Marx nach Münster zu transportieren und hier auszustellen. Eine schöne Idee, ja, eine Idee, die eine Menge logistischer Überlegungen erfordert hätte, denn diese Büste ist groß und schwer, aber die Stadt Chemnitz wollte ihren Karl nicht ausleihen. Also sichtete er Archive und stieß auf einen Film über die Herstellung der Büste. Den schaut man sich an, während man in diesem doch eher düsteren Lichthof sitzt und sich fragt, was hinter den Bürotüren, die man überall sieht, eigentlich vorgehen mag.

Früher hätte man solche Filme als Kulturfilm in der Aula seiner Schule gesehen.

Den anderen sah ich in einem mondän großstädtischen Hotel, das mit Abstand stilsicherste in Münster, das Hotel Mauritzhof. Eva Meyer & Eran Schaerf (10) haben den Versuch unternommen, aus drei Filmen, die in Münster spielen, einen neuen zu bauen. Einer davon ist authentisch, Privataufnahmen einer jüdischen Familie in den späten dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts.

Statt sich aber nun an das Material zu begeben und einen Zusammenschnitt zu wagen, der auf eigenen Beinen steht, oder das zumindest versucht, haben die Autoren/Künstler einen Erzähler geschaffen, eine Frau Mitte fünfzig, die in ständig wechselndem, leicht avantgardischen Kostüm (Raumschiff Enterprise) eher beziehungs- und orientierungslos herumgeht und steht, und möglichst intelligente Sätze spricht, die das Geflecht des zu Sehenden erklären und tiefdeuten sollen.

Nicht mein Vergnügen.

Auch nicht meines, wenngleich nur im Vorübergehen und bei strömendem Regen betrachtet:
Manfred Pernice (16), D&F.Anlage.Y.E.S.(Ü).

Deshalb: Schluss für heute.
Wie sagte Tim Ullrichs schon vor dreißig Jahren:
Ich kann keine Kunst mehr sehen.

Es bleiben noch ein paar Arbeiten, aber der Sommer ist noch lang, ich melde mich ...

 

9. Teil

Was Skulptur im öffentlichen Raum eigentlich ist, wird der, der mit offenen Augen diesen Raum durchstreift, nachher noch weniger wissen als zuvor. Das ist gut so, denn nichts bringt größeren Zugewinn menschlicher Erkenntnis als die unbeantwortete Frage.

Eine Skulptur (ein Projekt, glaube ich, ist es eher) ist Doria Garcia's (06) Bettleroper.
Da streift also jemand, der sich Filch nennt, Tag für Tag durch die Stadt. Streift herum als Figur einer Inszenierung im öffentlichen Raum, niemals privat, immer als Beggar Filch, die Skulptur Nummer 06 hin und wieder präsentierend, gerät in Kontakt oder nicht und schreibt jeden Tag über seine Erlebnisse.

Das ist interessant, es ist unterhaltsam (mal mehr mal weniger), es ist klug oder nicht, es ist genau wie mein Alltag, es ist eine der pfiffigsten Aktionen der SPM07. Klicken Sie also auf den oben eingefügten Link und lesen Sie, was der Bettler Filch zu sagen hat.

PS.: Ich habe ihn noch nicht gesehen, werde ihm aber früher oder später begegnen, da bin ich sicher.

 

10. Teil

Dear Filch,

I had heard you were ordered to be at Spiekerhof at least once a day, so today I went there, because I had been looking for you during the last the weeks. Well, it was getting close to 2pm and there you stood. I asked, whether you were Filch or not and you said, yes, you were.

I do not like the idea of you beeing at a predictable location, though in the end it helped.

Nevertheless I think that a beggar (though you are one of 3 Filches, the one from Belgium, who`s language I can speak, at least, some), more precise: a thought-up-beggar should not help to be found.

He should stroll the city.
It should stay a privilege to see and meet him.

But anyway, Filch, say, if you want, we meet for a coffee tomorrow an 2.15 pm at the same café, I sent you to today, as you had asked for a good location to meet people.
And who knows, maybe Constanze is also there.

Hermann

 

11. Teil

Es ist September. Noch drei Wochen, dann ist das Spektakel, das Münster auf wundervolle Weise aus seinem Schlaf geweckt hat, vorüber. Die Hotels sind nach wie vor ausgelastet, nach wie vor erkennt der Eingeborene den Kunsttourist, der Präsident war da, viele andere Wichtige auch, die Stadt hat Profil gewonnen, die Region profitiert, was aber ist mit der Kunst?

Kann ich die Frage, was Kunst ist, jetzt beantworten?

Nein.

Ich kann aber mit Sicherheit sagen, dass ich, falls ich die nächste Skulptur 2017 erlebe, 68 Jahre alt sein werde.

Immerhin, eine Antwort.

Der Übersättigung der ersten Wochen ist eine lange Phase der Nichtbeachtung gefolgt.
Dennoch ist manches im Stadtbild nicht zu übersehen. Manches ist ärgerlich geworden (Tue Greenforts Diffuse Einträge z.B.), anderes völlig aus dem Blickfeld geraten. Mike Kellys Streichelzoo etwa. Weiträumig umfahren wird Guillaum Bijls archäoligische Ausgrabung, ein Schmarrn, wie der Bayer sagt. Noch belangloser: die Arbeit von Annette Wehrmann.

Arbeiten, die ich nicht besprochen habe, sind Arbeiten, zu denen ich keinen Zugang gefunden habe oder die es mir nicht wert schienen, sie zu erkunden.

Nicht aus meiner Wahrnehmung gestrichen ist Mark Wallingers Zone, eine meiner Lieblinsarbeiten. Dora Garcias Projekt auch nicht. Bruce Naumann natürlich auch nicht.

Dennoch, Fazit (mein Fazit): die Wucht eines Serra, der vor zwanzig Jahren eine Skulptur vor dem Erbdrostenhof aufstellte, seine ästhetische Qualität, die für mich Kunst zur Kunst macht, wurde bei dieser Skulptur nicht erreicht.

Amen.

Natürlich sollten Sie nichts von dem glauben, was Sie hier lesen.
Sie haben noch bis zum 27. September Zeit, sich selbst ein Urteil zu bilden.

Zu guter Letzt noch zwei Arbeiten, die ich mir heute angeschaut habe.
Suchan Kinoshita (21) und Guy Ben Ner (19)

Frau Kinoshita führt ihre Kunden in den Hinterhof der Handwerkskammer, dort eine kurze Treppe hinauf in einen mit weißen Schallisolierplatten ausgestatteten Raum, ringsum an die Wand gebaute weiße Bänke, darauf senffarbene Sitzkissen, an den Wänder, knapp unter der Decke ringsum sechs Lautsprecher.

Vorm großen Fenster zur Straße hängt eine Lametten-Jalousie, die, das werde ich feststellen, in den Phasen zwischen Sätze den Blick nach draußen ermöglichen: eine Art Theater des Alltags. Die Akteure wissen nicht, dass wir sie beobachten.

Als ich eintrete, sitzen zwei Japaner im Raum. Einer scheint zu schlafen. Der andere nickt mir lächelnd zu. Sätze wandern von Lautsprecher zu Lautsprecher. Jemand sagt: Wenn ich aus meinem Fenster schaue, sehe ich den Himmel. Er ist blau. Manchmal auch grau. In letzter Zeit häufiger grau. Dafür so ein Aufwand, denke ich. Eine Veränderung der Sätze, wie es der Titel Chines Whispers (Stille Post) annehmen lässt, höre ich nicht. Erst nachdem die erste Satzsequenz vorüber ist, der Blick zu Straße sich öffnet und wieder schließt, folgte eine Sequenz kurzer Sätze, die sich schnell von Lautsprecher zu Lautsprecher verändern.

Na und?

Eine Schweigeraum mit dem Charme und Geruch einer Sauna.
Die Japaner gehen, drei Frauen meines Alters kommen, eine fragt auf Englisch "Is this all Nr. 21?" Ich nicke.

Guy Ben Ner hat einen Raum des Finanzamtes Münster Außenstadt mit drei fest installierten Rädern ausgestattet. An die Lenker hat er Bildschirme und je zwei Lautsprecher installiert. Über einen Mechanismus, der mit dem Tretlager verbunden ist, kann man durch Radfahren ein stehendes Bild in Bewegung bringen. Man sieht einen Film. Das ist lustig.

Auch hier: Japaner.
Auch lustig, vor allem, als ich ihnen bedeute, dass man den Film durch Rückwärtstreten auch rückwärts laufen lassen kann.

Und nun, good bye bis 2017 (falls Sie und ich dann noch leben).

Es war mir eine Ehre.




 

 

Fortsetzung folgt...

 

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zu 1: Die letzten zwei Sätze sind erfunden.

 

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