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Hermann Mensing

Die Wende

Dass sich sein Leben in ca. einer Stunde wenden würde, wusste K. nicht. Woher auch? Er lag auf dem Sofa und dämmerte. Feststellen kann man nur, dass Sonntag ist.
Ein paar Stunden Nichtstun blieben, dann wäre es wieder so weit. K. würde seine Aktentasche packen, sich ins Auto setzen und Kunden besuchen.

Zehn, wenn die Autobahnen frei wären, wenn er Glück hätte und sein Navigagtionssystem ihn nicht wieder so erbärmlich in die Irre führte wie letzte Woche mehrmals.

Aber mal angenommen, alles funktionierte, die Wahrscheinlichkeit, dass er an einem Montag tatsächlich zehn Kunden erreichte, war gering. Vielleicht schaffte er acht. Von denen würden vier unterschreiben, was seiner zu erwartenden Provision nicht gut täte.

Aber so weit war er noch nicht.
Das Sofa war gemütlich, die Decke, unter der er lag, war warm und die Katze an seinem Fußende schnurrte.

Als das Telefon klingelte, zögerte er. Sonntags klingelte das Telefon eigentlich nie. Es konnte nur Schlechtes bringen. Aber das Klingeln hörte nicht auf und so ging er doch an den Apparat.
Sein Freund T. begrüßte ihn überschwänglich und sagte, er, K., solle sofort kommen, weil er, T., gleich mit seinem Trio anlässlich der Eröffnung einer Ausstellung spielen würde.

Ausstellung? sagte K.
Vernissage! erwiderte T.
Ach du Scheiße! sagte K.
Ich spiele da! sagte T.
Ach so! sagte K.
Und? Kommst du? fragt T.

K. hatte sich die Decke um die Schultern gelegt und blinzelte in den Nachmittag. Die Wolken schleiften knapp über die umliegenden Dächer, es war feucht, wer wollte da schon draußen sein. Hmmm, knurrte er, T. sagte, also, wir sehn uns und legte auf.

K. schlich zurück zum Sofa. Er würde nicht fahren. Er würde vielleicht noch ein wenig fernsehn. Kaum hatte er sich hingelegt, kreisten seine Gedanken schon wieder um zu besiegelnde Verträge. Vier wären zu wenig, selbst wenn es wider Erwarten mehr würden, wäre es doch nicht das, was er in Wirklichkeit brauchte.

Er brauchte Ruhe. Er brauchte Abstand.

Stattdessen dieses ewige Herumreisen, dieses sich präsentieren müssen, das Schönreden (Lügen) auf hohem Niveau, das zermürbte. Er würde den Rest des Sonntags auf dem Sofa genießen, das er brauchte, wie ein Fisch Wasser braucht, er würde nicht fahren, auf keinen Fall würde er heute noch irgendwohin fahren, und dann fuhr er doch.

Die angegebene Adresse sprach nicht für Kunst. Aber vielleicht war der Galerist ein ausgefuchster Betriebswirtschaftler, der den Standort in einem Industriegebiet nutzte, statt Kunst in einer hochpreisigen Innenstadtimmobilie zu präsentieren. Links nebenan war ein Luxuspuff, rechts eine Stahlhandlung.

K. parkte seinen Wagen und staunte nicht schlecht, denn vorm Eingang der Galerie stauten sich Menschen. Männer und Frauen, jungen Leute mit Dreitagebärten, und dann, als er die weite Treppe hinaufging, die schwarzhaarige Galeristin mit feuerrotem Mund und strahlendem Lächeln.

Ein Nicken. Kennen wir uns? Nein.

Die Treppe mündete in einen Flur, von dort führte eine Tür in die Galerie, in der noch mehr Menschen warteten. Sie standen in Gruppen und sprachen miteinander. K. schaute sich um, es war niemand da, den er vorher schon einmal gesehen hätte. Er ging herum, unsicher, denn weder konnte er seinen Freund T. noch irgendwelche Kunst an den Wänden entdecken.

Er schlängelte sich durch bis zum letzten Raum und stieß auf einen mit schwarzem Samt verhüllten Pavillon, wie man sie in Gärten aufstellt, im Sommer. Daran hing ein Zettel, auf dem sinngemäß stand, dass das Leben schwer sei und der Mensch sich jeder Sekunde bewusst sein müsse.

Aha, dachte K. missmutig, schob den Samt beiseite, trat in den dunklen Innenraum, tastete sich zum Ausgang am anderen Ende und trat heraus. Sogleich kam ihm eine junge Frau entgegen und sagte, es sei noch nicht so weit, er möge bitte wieder gehen. Jemand spielte Schlagzeug. T. und sein sizialianisches Küchentrio, dachte K., immerhin.

Danach geschah erst einmal gar nichts.

Dreißig Minuten stand K. gegen eine Wand gelehnt und fühlte sich einsamer als je zuvor. Unablässig dachte er an die vor ihm liegende Woche, an Urlaubspläne und zu führende Gespräche mit seinem Vorgesetzten, an die Möglichkeit, den Job hinzuschmeißen und das zu beginnen, was er sich schon vor fünf Jahren nicht getraut hatte zu beginnen, dann setzte sich die Menge plötzlich in Bewegung. Aber immer nur vier, fünf Personen verschwanden hinterm samtenen Vorhang, alle zwei, drei Minuten wurden die nächsten eingelassen.

Warum? Was taten sie da drin?
Wieso schleuste man sie nicht zügig durch?

Als K. schließlich ins Dunkel des Pavillons trat, empfing ihn eine Stimme von der anderen Seite. Nun sei Zeit, den Alltag abzustreifen, man solle eine Weile im Dunkel verweilen, eins mit sich werden, um dann die zu erwartende Kunst mit allen Sinnen genießen zu können.

Ich warte schon seit einer halben Stunde, das reicht, erwiderte eine Frau neben K., schob beherzt den Samtvorhang beiseite und trat hinaus. Eine blonde Mittvierzigerin versuchte noch, sie, K. und die übrigen zurückzuhalten, aber das gelang nicht. Pikiert beschränkte sie sich auf den Hinweis, eh man weiter gehe, möge man zunächst die links und rechts (in billigen Wechselrahmen) hängende (auf DIN-A-3 ausgedruckte) Poesie goutieren, das sei unverzichtbar für den folgenden Kunstgenuss.

K. dachte nicht daran. K. fühlte sich genötigt. K. beschloss, aus Rache zunächst das Buffett zu plündern, um anschließend T. zu fragen, was er sich dabei gedacht habe, ihn herzulocken, aber dann blieb sein Blick doch an der Poesie haften.

Den letzten Gedichtband (er besaß vier oder fünf) hatte K. vor fünfzehn Jahren gekauft, Passim von Peter Waterhouse, das Werk eines österreichisch-englischen Dichters, von dem er zwar nicht eine Zeile verstanden hatte, das aber dennoch großen Eindruck bei ihm hinterlassen hatte.

Poesie, tatsächlich.

Das da war keine Poesie.
Das war Dummschwätzerei für Gutmenschen, kein ernstzunehmender Künstler würde so etwas in seiner Ausstellung dulden.

K. spürte ein aufsteigendes Unwohlsein, K. drehte sich um, K. wollte Land gewinnen, als seine Mageninnenwände wie die Resonanzfelle einer Trommel zu vibrieren begannen, K. sah T. auf sich zufliegen, winkte ab und rauschte Richtung Samtpavillon davon, stieß hier und da mit diskutierenden Menschen zusammen, ein, zwei Gläser gingen zu Bruch, aber K. kümmerte sich nicht darum, K. spürte, dass Panik ihn ergriff, als die schwarzhaarige Galeristin sich ihm in den Weg stellte.

Sie wollen schon gehen?
Ja, und Sie werden mich nicht daran hindern, zischte K. wie eine Natter.
Aber was ist denn? fragte sie und schaute K. so tief in die Augen, dass seine Mageninnenwände schrumpften und er fast in die Kie gegangen wäre.
Diese Scheiße ist unerträglich, flüsterte er, aber er als dann sah, dass alle Köpfe sich wendeten und Blicke ihm zuflogen, wusste er, dass er geschrieen hatte.
Scheiße? heulte jemand zurück.
Ja, Scheiße! Scheiße! Scheiße! schrie K., berauscht vom Adrenalin, das sich in ihm ausgebreitet hatte und weitere Taten forderte. Eher nebenher registrierte er in den Blicken Umstehender wohlige Zustimmung (endlich passiert etwas) und tiefen Hass (hoffentlich passiert noch mehr).
Scheiße sagen Sie?

Der Künstler: blau schimmerndes Jackett, die Haare gewagt zurückgekämmt, genau die Sorte, der K. niemals Kunst abkaufen würde, die Sorte, die mehr Wert auf Inszenierung legte als auf ihre Arbeit.

Ja! wiederholte K.
Ich bin Professor! rief der Künstler.
Und? sagte K., was beweist das?

Der Künstler zögerte einen Augenblick, den K. nutzte, sich umzudrehen und davon zu stürmen.

Am Ausgang hatte der Künstler ihn eingeholt und forderte Satisfaction, so nannte er das, Satisfaction, als befände man sich im 19 Jahrhundert und wäre Offizier irgendeiner Operettenarmee.

Bitte, bitte, sagte K., an mir soll es nicht liegen und rammte dem Künstler seine Faust in den Magen. K. hatte so etwas noch nie getan, seine letzte Schlägerei lag über drei Jahrzehnte zurück, da war er noch ein Junge. Der Künstler starrte K. einen Augenblick ungläubig an, sackte in die Knie, kippte zur Seite weg, stürzte die Treppe hinunter und blieb mit verrenkten Gliedern auf dem Absatz liegen.

Ringsum schrieen Menschen. K. jagte die Treppe hinunter, sprang mit einem Satz über den Verunglückten, registrierte seine glanzlosen Augen, war schon in der Tür, war im Auto und fand sich wenig später mit hoher Geschwindigkeit auf der Autobahn Richtung Süden fahrend wieder. Er würde nie wieder Kunden besuchen. Was er stattdessen tun würde, wusste er nicht. Aber das würde er schon noch rauskriegen. Dann fiel ihm seine Katze ein.

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