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Hermann Mensing: Zuversicht süße Lüge

1
Es war Abend. Ich war zum Fluß hinuntergegangen und hatte mich ans Ufer gesetzt. Die Steine waren noch warm. Das Wasser gurgelte.
Ich fühlte mich gut so allein, so weit fort von zu Hause.
Ich war endlich da, wo ich hingehörte.
Alles um mich war fremd: der Fluß, die Erde und der Wald. Der Bandipur Wald.
Die Zikaden lärmten, ein Orchester, das ohne ersichtlichen Einsatz begann, um ebenso plötzlich zu verstummen.
Ich konnte die Hand kaum vor Augen sehen.
Vor mir plumpste ein Stein ins Wasser.
Ich fuhr herum. Im Dunkeln war Ian.
Ich sah ihn nicht, aber ich konnte ihn riechen.
Mein Herz, das einen Sprung gemacht hatte, beruhigte sich.
Ian kam näher, setzte sich, zog an seiner Pfeife, inhalierte und gab sie mir.
"Boom Shankar!" sagte er.
"Boom Shankar!"
Ich nahm ein paar Züge und legte mich rücklings auf einen Fels. Die Tiefe des Alls und die Anzahl der Sterne machte mich schwindlig. Nichts als Vergangenheit! dachte ich. Der ganze Himmel - ein grandioser Prospekt der Vergangenheit, aus dem Sternschnuppen fielen, so viele, wie ich noch nie vorher gesehen hatte.
Ich kam beim Zählen mit Wünschen nicht nach.
Oder war's umgekehrt? - Ich weiß nicht. Mein Kopf war - seit ich meinen Doppelgänger gesehen hatte - so leer, daß mir nicht einmal mehr einfallen wollte, wieso ich eigentlich hier war.
"You Krauts think too much!" sagte Ian, als ich ihm von diesem Phänomen erzählte.
Für solche Sätze liebte ich ihn.
Meine keimende Unruhe besänftigte das jedoch nicht.
Ich schaute in meinem Tagebuch nach.
Leider stand auch dort nichts über die Gründe meiner Reise.

Ian und ich wohnten in einem Haus an der Biegung des Flusses. Ein Pfad führte durch lichten Wald zu einer sandigen Straße. Dort markierte ein Schlagbaum das Ende des Bandipur Waldes. In einer Hütte saßen zwei dicke Wachposten. Einer hatte goldene Schneidezähne.
Eine Brücke führte über den Fluß; diesseits waren vier Hütten, jenseits war Baba Singhs Tschai-Shop.
Jeden Tag ging ich dorthin, um die Ankunft der Busse zu beobachten. Ein Händler schob seinen Karren heran, Wildhüter und Waldarbeiter lungerten auf der Brücke herum, die Wachposten kamen aus ihrer Hütte.

So sieht der Ort meiner Geschichte aus.
Ein Fluß in einem Land, in dem es außer Sonne, Elefanten, heiligen Kühen, Bettlern, Tempel, von Menschen überquellende Städte und einer Atombombe nichts zu geben schien.
An diesem Fluß saß ich und zählte die Sterne.
Eine schöne Beschäftigung, wenn man vergessen hat, wieso man eigentlich da ist.
Sie beruhigt.
Wenn auch nur ein bißchen.

Angefangen hatte alles vor vierzehn Tagen. Ian und ich wohnten im Palace Hotel in Mysore. Wir zahlten 20 Rupien für ein herruntergekommenes Zimmer unter dem Dach.
Meist war es so warm, daß wir auf dem Dach schliefen.
Ich hatte mir am Morgen die Haare schneiden- und mich fotografieren lassen. Nun saß ich auf dem Dach und beobachtete das Gewirr in der Gasse: Männer, die Karren schoben und Säcke schleppten, Händler vor ihren Geschäften, Ochsenfuhrwerke und bunt bemalte Lastwagen.
Zwischen hoch mit Bohnensäcken beladenen Karren tauchte ein Europäer auf. Er war mittelgroß, hatte schwarzes Haar und ein schmales Gesicht. Vorm Hotel blieb er stehen, nahm seinen roten Rucksack ab, kramte ein Paket Tabak aus der Seitentasche und drehte sich eine Zigarette. Dann schaute er zu mir hoch.
Er glich mir aufs Haar!
"Ian!" schrie ich. "Ian, komm, sieh dir das an!"
Ian rührte sich nicht.
Er lag auf dem Bett, das Zimmer war abgedunkelt, er hatte ein Gummi zwischen Zeigefinger und Daumen der rechten Hand gespannt und schoß mit gefalztem Papier auf Gekkos.
Ich hastete hinunter auf die Straße.
Mein Doppelgänger stieg gerade in eine Rikscha und gab dem Fahrer ein Zeichen. Der Fahrer nickte und strampelte los. Ich pfiff auch eine Rikscha herbei, machte dem Fahrer mit Händen und Füßen klar, worum es ging, aber als er begriffen hatte, war mein Doppelgänger auf und davon.

 

Als ich wieder nach oben kam, saß Ian auf dem Bett und spielte Gitarre. Ich erzählte ihm alles.
Er fand Doppelgänger alltäglich, es gäbe mindestens zehn Menschen auf der Welt, die genauso aussähen wie ich, warum also die Aufregung.
Er spielte ein so seltsames Lied, daß mir Tränen in die Augen stiegen. Nicht, weil ich mich verloren fühlte, auch nicht wegen dieses Doppelgängers, nein, ich weiß selbst nicht, wieso, vielleicht nur, weil es ein so schönes Lied war.
Während er spielte und in dieser seltsamen Sprache sang, bestellte ich Tee und hoffte, daß er den Faden vielleicht wieder aufnahm.
Der Boy brachte Tee.
Ian trank einen Schluck, legte die Gitarre beiseite und sagte, er hätte mich nicht beunruhigen wollen - "disturb you" sagte er - aber diesen Doppelgänger hätte er vorgestern auch schon gesehen.
Dann spielte er weiter. Dieses Mal war ich mir sicher, daß sein Lied von der Liebe handelt.
Es war ein walisisches Lied.

Ich stand auf und ging zum Fotografen.
Das Foto, das ich nach dem Haareschneiden hatte machen lassen, sollte um diese Zeit fertig sein. Ich wollte es meiner Freundin schicken. Ich fand, daß ich gut aussah, so mit kurzgeschorenem Kopf.
Ian behauptete, ich hätte Ähnlichkeit mit einem toten Diktator.
Im Schaufenster stand eine gerahmte Fotografie - mein Doppelgänger, kitschig koloriert. Ich betrat das Geschäft.
"Wer ist der Mann auf dem Foto da draußen?" fragte ich.
Der Fotograf wackelte mit dem Kopf, als sei sein Hals eine Sprungfeder. "Ich nehme an, ihr Bruder."
Ich versuchte ihn aufzuklären, aber er hörte nicht zu.
Seinem Lächeln nach war ihm meine Frage ziemlich dumm vorgekommen. Jedenfalls fragte er, ob ich das kolorierte Foto auch mitnehmen wolle.
Ich nickte, warum nicht, dachte ich, er schob meines und seins in eine Tüte, ich nahm sie, zahlte und ging.
Ian spielte noch immer Gitarre.
Als ich ihm die Fotos zeigte, brach er in sein krächzendes Lachen aus und bot mir seine Pfeife an.
Diesmal lehnte ich ab.
Mir reichte, was ich heute gesehen hatte.
Die Fotos glichen sich wie ein Ei dem anderen. Jeder Zöllner wäre darauf reingefallen.
"Even a Kraut!" sagte Ian.
Schon waren wir wieder beim Thema.
Ian hatte als Kind Fernsehserien gesehen, in denen Nazisoldaten auftraten, die sich wie Idioten benahmen, fortwährend Jawoll schrien und die Hacken zusammenschlugen.
Das hatte sein Bild von uns Krauts geprägt.
Also hackte er auf den Krauts rum und ich auf den Engländern. Wenn es hart auf hart kam, ließ er den Walisen raushängen und ich meine holländische Oma.
Ein Schritt über eine eingebildete Grenze, schon war man ohne Schuld. Wenn das Leben doch immer so einfach wäre!
Zu Abend spazierten wir zum Palast, von dort die Prachtstraße hinunter zum Markt, in die Außerviertel und wieder zurück. Es war längst dunkel.
Auf dem Rückweg überraschte uns ein Gewitter. Wir hielten uns dicht an den Hauswänden. Ian war immer ein paar Schritt voraus. Auf halbem Weg fiel der Strom aus. Die Blitze tauchten die Stadt in kaltes Licht, dann wieder war es stockdunkel. Hier und da sah ich die Lichtpunkte der Garküchen am Weg. !!!
In meinem Kopf kreiste das Gesicht auf dem Foto, das ich mit einem Unbekannten teilte. Es ärgerte mich. Ich hatte noch nie gern geteilt. Als jüngster von vier Brüdern hatte ich immer nur das gekriegt, was die älteren großzügig herausrückten.
So in Gedanken stolperte ich fast über einen Krüppel, der am Markt plötzlich auf einem Rollbrett aus einer Einfahrt auftauchte. Er war in Lumpen gekleidet. Wasser spritzte zu beiden Seiten weg. Er rief irgendetwas. Ian griff in seine Tasche und gab ihm Geld. Im gleichen Augenblick stürzten vier oder fünf andere aus der Einfahrt.
Ich hatte mich an den Anblick von Krüppeln, Blinden, Aussätzigen und halb Verhungerten gewöhnt, ich konnte an ihnen vorbeigehen, ohne über ihr Elend nachzudenken, aber an diesem Abend machten sie mir Angst.
Ich drängte Ian, die Straßenseite zu wechseln.
Die Krüppel gestikulierten. Dann schlug keine fünf Meter von uns ein Blitz ein. Es krachte ohrenbetäubend, einen Augenblick schien es mir, als sei ich im luftleeren Raum, dann kam ein Sturm auf, als habe sich ein Spalt in der Erde geöffnet, der alle Luft fortsog.
"Komm weg hier!" sagte ich.
Im Wachhäuschen vor dem Palast schlief ein Posten auf seinen Karabiner gestützt.
Wir bogen um eine Ecke und kamen zum Fotogeschäft.
Im Schaufenster standen jetzt zwei silberne Rahmen.
In einem war ich, im anderen er.
Ich sah uns an und wußte nicht mehr, wer wer war.
"Who is who?" sagte ich halb staunend, halb beängstigt.
"Who cares", sagte Ian.

Wir wollten am nächsten Tag in den Bandipur Wald fahren, aber Ian erwachte mit hohem Fieber. Er hatte rote Flecken unter den Achseln, er fror und schwitzte abwechselnd und phantasierte manchmal.
Ich bestellte eine Rikscha und fuhr mit ihm zur Klinik.
Die Ärzte wußten gleich, was er hatte.
Ein Gekko war auf seinem Körper herumspaziert, Ian hatte wohl im Schlaf danach geschlagen, der Gekko hatte sein Sekret verspritzt, und das waren die Folgen.
Die Ärzte sagten, Ian müsse sich schonen und gaben mir Tabletten für ihn.
Als wir die Klinik verlassen wollten, rief mich jemand zur Rezeption und gab mir eine Brieftasche.
"Die haben Sie vorhin verloren."
Sie war schwarz mit goldenen Initialen.
H. K. stand darauf.
"Vielen Dank", sagte ich und steckte sie ein. !!!

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