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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

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Liebe Annette,

in "Bei uns zu Lande auf dem Lande" erzählst du von den Umwälzungen deiner Zeit. Deine Amme, Anna Katharina Plettendorf, eine Weberstochter, fand nur noch schwer Arbeit, denn in den britischen Fabriken standen die ersten mechanischen Webstühle, die schneller und kostengünstiger arbeiteten. Auch die Landschaft veränderte sich. Eichenwälder wurden gerodet, Nadelholz wurde gepflanzt, weil es schneller wächst und leichteren Profit versprach.

Heute ist die Welt in großer Sorgen wegen des sich rapide verändernden Klimas. Stell dir vor, ein paar hundert Meter von hier, du gehst bei Hürländer vorbei Richtung Münster, durchzieht eine sechsspurige Straße das Land, eine Autobahn. Du weißt nicht, was Autos sind? Kein Wunder, denn der Ottomotor wurde erst gut zwanzig Jahre nach deiner Zeit erfunden. Stell dir eine Kutsche ohne Pferde vor. Darin ist ein Motor, der Benzin verbrennt. Das ist ein komplizierter Vorgang, der einen Kolben treibt. Dieser Kolben ist verbunden mit einer Pleuelstange, die Kolben und Kurbelwelle verbindet, die die Räder antreibt.

Ich weiß, du bist mit der Bahn gefahren. Damals glaubten die Menschen, die ungeheure Geschwindigkeit einer Dampflock, 30 Kilometer pro Stunde, wäre der Gesundheit der Menschen abträglich. Auf der Autobahn fahren keine Kutschen, wenngleich man sie im Volksmund hin und wieder noch so nennt, auf der Autobahn fahren Automobile oft sechs- bis sieben Mal so schnell, wie die Eisenbahn fuhr, mit der du unterwegs warst.

Aber das wollte ich eigentlich gar nicht erzählen, Annette. Ich wollte erzählen, dass ich es heute zum ersten Mal, seit ich Gäste durchs Rüschhaus führe, mit einer Gruppe von 25 Kindern zu tun hatte. Unangemeldet standen sie um elf vor der Tür, und ich war so müde, weil das Wetter mir den Schlaf geraubt hatte. Aber die Kinder haben mir die Müdigkeit schnell vertrieben. Ich habe ihnen erzählt, dass sie nichts anfassen dürfen, wenn sie aber in Kontakt mit dir treten wollen, nur die Türklinken des Hauses anfassen müssten. Du glaubst nicht, wie viele Kinder das getan haben. Ganz andächtig, als würden sie mit dir sprechen. Im Schneckenhäuschen haben wir übers Dichten gesprochen, und ich habe gefragt, ob jemand ein Gedicht aufsagen könne. Ein Mädchen meldete sich. Dann mal los, sagte ich, und sie begann: Denkt euch, ich habe das Christkind gesehen. Ich war gerührt.

Jetzt ist Mittag. Die nächste Führung ist um zwei. Ich habe Zeit. Ich genieße das Haus. Wenn nur die Autobahn still wäre. Morgen sehen wir uns wieder.

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