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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

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Liebe Annette,

Sonntag habe ich zum ersten Mal Gäste durch die Burg Hülshoff geführt. Ich begann unter einer großen Kastanie im Vorhof. Man hat von dort einen wundervollen Blick auf die Lindenallee, auf die ehemalige Zugbrücke und die Gräfte, auf der deine Mutter im Januar 1797, sie war im siebten Monat schwanger mit dir und die Gräfte war zugefroren, ausrutsche und fiel. Wenig später kam sie nieder. Du hattest Glück. Die hast überlebt. Zwar warst du lebenslang ein eher kränklicher Mensch, aber dein Wille war stark, dich gegen die Konventionen der adeligen katholischen Gesellschaft durchzusetzen. Du fingst schon als Kind an, Verse zu schmieden. Später wagtest du, ICH zu sagen, das literarische Ich war und ist immer ein Risiko, denn wer weiß schon, was ICH eigentlich ist. Du hast es dennoch getan. Wie mutig du warst, lässt sich ermessen, wenn man ins Große Esszimmer tritt, wo die Portraits deiner Vorfahren hängen. Gleich links hast du einen Schillervers ins Fensterglas geritzt. Deine Mutter hielt Schiller für einen unsittlichen Aufrührer, und verbot dir, ihn zu lesen, aber du hast es dennoch getan. Und du hattest die Chuzpe, eine Zeile seines 1801 erschienen Gedichtes, die rhythmisch nicht aufgeht, zu verbessern. Man könnte sagen, du hast eine Frühform des Graffti erfunden, die heute weltweit den urbanen Raum mit ihren Botschaften bevölkern, und nach allem, was ich mittlerweile von dir weiß, hättest du deine helle Freude daran.

Schiller

In des Herzens heilig stille Räume,
ruft du fliehen aus den Lebens Drang,
Freiheit ist nur im Reich der Träume,
und das Schöne blüht nur im Gesang.

Schiller revisited

In des Herzens heilig stille Räume,
rufst du fliehen aus des Lebens Drang,
Freiheit wohnet nur im Reich der Träume,
und das Schönste blüht nur im Gesang.

Das ist groß, Annette, das hast du gut gemacht. Wir verstehen uns immer besser.


Annettes Antwort: Brief 26

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