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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

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Liebe Annette,

wir Museumsführer hatten beisammen gesessen und Dienstpläne geschmiedet, als von heute auf morgen alle Termine abgesagt wurden. Das Rüschhaus bleibt geschlossen. Ein Name, eine Brohung, eine Seuche war aufgetaucht, die schon seit Wochen in China grassierte. Weit weg, hatten wir da noch geglaubt, plötzlich aber, letzten Freitag, den 13ten wurde allen Menschen klar, dass etwas im Gange ist, das auch sie bedroht. Etwas, das sie nicht sehen, nicht hören, nicht riechen können.

Es hat drei, vier Tage gedauert, eh sie begriffen, dass sie außer Hamstern etwas gegen diese Bedrohung tun können. Noch haben sie die Chance, es freiwillig zu tun. Um das Virus in den Griff zu bekommen, rät man ihnen, daheim zu bleiben, Kontakte zu meiden, sich nicht die Hand zu geben. Schulen, Museen, Theater, Kinos, Clubs, selbst Geschäfte, die nicht der lebensnotwendigen Versorgung der Bevölkerung dienen, haben geschlossen. Das gesellschaftliche Leben wird auf Null gefahren. Vielleicht gibt es bald einen Erlass, der bestimmt, dass wir für die nächsten Wochen unser Haus nicht verlassen dürfen. Bürgerliche Rechte sind schon jetzt bis auf Weiteres dahin, was von den Betroffenen mit einem Schulterzucken akzeptiert wird.

Du, Annette, bist Hochrisikogruppe, denn das Virus greift die Lunge an.

Man hofft, das Rüschhaus
am 21. April wieder öffnen zu können, aber ich glaube nicht, dass das Problem bis dahin gelöst ist.
Du wirst mir fehlen, Annette. Aber wenn wir uns wiedersehen, ist vielleicht die Scheunentür renoviert. Im Augenblick ist sie zugenagelt, der hohe Bogen mit seinen Fenstern, durch die das Nachmittagslicht in Strahlen gebündelt auf den Basaltboden fällt, auch.

Ich sitze in einem Schrebergarten (war zu deiner Zeit noch nicht erfunden, erkläre ich dir vielleicht ein anderes Mal), während ich dir schreibe. Gerade war ein Eichhörnchen in meiner Nähe, in der Pflaume im Nachbargarten singt ein Rotkehlchen. Es wird Frühling, ein kalter Wind weht, alles scheint normal, aber das ist es nicht. Über der Welt hängt große Sorge. Insgeheim beten alle für ein Wunder. Aber sie müssen es allein tun, denn die Kirchen aller Religionen sind auch geschlossen.

Niemand soll sich versammeln.

Die Welt hält den Atem an. Ich hoffe, dass Menschen und Staaten solidarisch bleiben. Die Zeiten sind wirr, überall irrlichtern Demagogen, die Lüge ist Wahrheit, die Wahrheit ist Lüge, aber wie immer in Krisen sind die Chancen, eine andere Welt zu schaffen, zu keiner Zeit größer. Trotzdem, mir ist unheimlich, Annette. Bleib du auch im Haus.


Bis bald

Hermann


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