Juni 2010                                       www.hermann-mensing.de          

mensing literatur
 

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Di 1.06.10 19:23

Sagen Sie, sagte der Grünspecht, der heute morgen, als ich mich schwitzend dem Fuß der Baumberge näherte, wo meine Schule ist, nicht wegflog, hallo, sagen Sie mal, Sie, was treiben Sie eigentlich? Kommen doch jetzt jeden Tag hier vorbei. Habe Sie gestern zweimal gesehen, letzte Woche mehrfach, und ganz offensichtlich ist doch, dass Sie irgendein Ziel anstreben.

Ich stieg vom Rad. Er hing vertikal an einem Telegrafenmast. Ich schaute hoch und sagte, nun ja, ich habe jetzt einen Beruf, und um den auszuüben, fahre ich mit dem Rad, weil ich die Natur mag und das Radfahren sowieso. Das dachte ich, sagte der Grünspecht, Sie müssen wissen, ich sehe und höre einiges. Unter anderem wurde mir zugetragen, dass Sie versuchen, Kindern das Leben beizubringen, ist das richtig?

Ich gebe mir Mühe, antwortete ich, aber ich fürchte, beibringen können sie sich das nur selbst. Und wie ist das mit ihren Erlebnissen dort? Oh, sagte ich, darüber kann ich nicht sprechen. Ich unterliege der Schweigepflicht. Dienstgeheimnis sozusagen.

Wie? sagte der Grünspecht. Ich hatte aber doch gehört, dass Sie Schriftsteller wären und Schriftsteller sind doch der Wahrheit verpflichtet. Nichts als der Wahrheit, sagte ich, aber Dienst ist Dienst und Wahrheit ist Wahrheit, das hat man mir gestern deutlich gemacht, und da war ich erschrocken, denn darüber hatte ich noch nicht nachgedacht. Und da schweigen Sie? sagte der Grünspecht. Natürlich nicht, sagte ich, ich kann gar nicht schweigen. Ich dachte auch schon, sagte der Grünspecht. Wie ist es denn dort? Das sage ich ihnen gleich, antwortete ich und dann erzählte ich ihm alles.

Er war erschüttert. So hatte er sich das nicht vorgestellt.
Ich auch nicht, sagte ich und er, es wird wohl daran liegen, dass Sie Mensch sind, die haben doch all diese merkwürdigen Begriffe wie Identität, Emanzipation und wie das alles heißt, dieser menschliche Begriffswirrwarr. Ja, ja, sagte ich, noch schlimmer aber als die von Ihnen genannten sind die Begriffe: Pädagogik, Christentum, Kommunismus, Liberalismus, alles mit ismus am Ende. Wir sind verrückter, als die Polizei erlaubt. Das sehe ich ähnlich, sagte der Grünspecht.


Mi 2.06.10 8:24

Herr M. will eine Geschichte schreiben. Es soll eine Geschichte werden, die Kindern erklärt, wie die ostfriesischen Inseln entstanden. Bei Vulkanismus wäre das relativ einfach, Vulkane sind täglich aktiv und die letzte so entstandene Insel ist noch keine zwanzig Jahre alt, wenn ich das richtig erinnere. Die ost- und westfriesischen Inseln aber entstanden vor 10.000 Jahren, und sie entstanden nicht von heute auf morgen.

Wie also anfangen? Den simplen Trick einer Zeitmaschine nutzen? Dann hätte ich die Jungen auf meiner Seite. Und was wäre dann mit den Mädchen, die Einhörner malen und liebliche Landschaften und wohl noch immer von Prinzen träumen? Einen Prinzen in eine Zeitmaschine setzen? Einen verzauberten Frosch? Ich weiß nicht. Ich habe ja gerade erst angefangen, darüber nachzudenken.

Ich könnte meinen Grünspecht fragen, vielleicht weiß der was. Mein Grünspecht könnte einen Namen bekommen. Ich finde ihn sehr elegant, aber wie würde ein Grünspecht heißen. Es sollte ein Herr sein. Herr Rotkron vielleicht? Oder Herr Hack? Nein. Herr Grün?

Ich könnte die Kinder nach einem Namen fragen. Und wenn sie mir einen Namen genannt haben, ginge die Geschichte weiter. Herr ... hat sich nämlich entschlossen, die Geschichte aus seiner Perspektive zu erzählen. Das könnte funktionieren, schließlich geht es um eine Geschichte, die darf alles. Mal sehn. Wir arbeiten daran.

Jetzt gleich aber werde ich Schnitzel braten, denn mein jüngster Sohn bereitet sich auf Rock am Ring vor. Der Flur steht voll mit Dingen, die er mitnehmen will. Und da Fleisch sein Gemüse ist, will er sich von Schnitzeln ernähren. Von Schnitzeln und Bier.

Ich war einigermaßen erschüttert, als ich die gestapelten Bierdosen sah, die er vom Supermarkt mitbrachte. Unsereins fuhr, wenn er auf ein Festival fuhr, mit nichts als einem Schlafsack los. Er fuhr auch nicht mit einem Wohnmobil, sondern stand an irgendeiner Straße, hatte nichts ausgegoogelt, sondern nur einen groben Plan im Kopf. Unsereins hatte kein Mobiltelefon, mit dem noch letzte logistische Feinheiten abgesprochen wurden.

Unsereins entschied so etwas mitunter von einer auf die andere Stunde, und dann war man schon unterwegs. Fand sich Stunden später gestrandet an irgendeiner Autobahnauf- oder -abfahrt, orientierte sich neu, und dann war man irgendwann angekommen. Ob man eine Eintrittskarte besaß? Möglich. Vielleicht aber auch nicht. Wusste man, wer dort spielt? Vielleicht. Wahrscheinlicher aber war, dass man vom Hörensagen dies und das wusste.

Letztlich aber war es egal, wer spielte. Hauptsache, es spielte überhaupt jemand. Natürlich waren auch damals Drogen im Spiel. Aber ich habe nie Bier in derartigen Mengen getrunken, wie ich das heute bei jungen Erwachsenen beobachte. Ich hielt Bier immer für ein Getränk, dass auf Schützenfesten in Strömen floss und mit Schützenfesten verband mich nichts.

Aber es ist, wie es ist, die Zeiten haben sich geändert und ich (und meine Zeitgenossen) haben kläglich versagt, das spiegelt die Gegenwart jeden Tag. Ich und meine Zeitgenossen hatten alle Optionen, zumindest suggeriert das die Retrospektive.

Die Gegenwart aber hat kaum noch Optionen. Die Gegenwart ist hart und brutal. Ich möchte nicht jung sein jetzt. Unter keinen Umständen möchte ich jung sein. Der einzig aktzeptable Zustand der Gegenwart wäre: tot sein. Haben wir nicht, kriegen wir aber rein, irgendwann. Also bereiten wir uns vor. Und wenn mir noch einmal jemand mit einer Heilslehre kommt, mit Himmel und Hölle und dieser gottverfluchten Augenwischerei für Feiglinge, werde ich ihn aus dem Haus prügeln.


Do 3.06.10 11:07

Viele denken, Salsa wäre ein Sport. Sie denken, man müsse sich drehen und komplizierte Abläufe tanzen, dann wäre es gut. Ich hatte so eine, gestern. Ein leptosomes Wesen, das graziös die Hand des ausgestreckten Armes drehte nach jedem Guapeo.

Aha, denkt Herr M., ein Profi, bitte, das können wir auch, wollen wir aber nicht.
Sie liegt gut im Arm, man spürt ihre Spannung, aber auf eine Groovesau wie Herrn M. wirkt das gestelzt. Zickendraht, denkt er, strengt sich an, und schon ist der erste Liter Schweiß ausgetreten, dabei hat der Abend gerade erst angefangen.

Dann tanzt er mit einer Blonden, die weiß und rot gekleidet ist. Mit der macht es schon mehr Spaß. Als er dann die, mit der er auf der Bank vorm Club saß und über die Salsero Szene gesprochen hatte, die, die ihm von Cuban- und New York Style erzählte, die, von der er dachte, hmmm, attraktive Frau mit schmaler, leicht hakiger Nase und bemerkenswerten Brüsten, die, die gesagt hatte, sie tanze schon lange und beteuerte, sie sehe das Tanzen ähnlich wie er, aufforderte, war nach den ersten Schritten klar, dass sie nicht groovt. Ein Tanz, abgehakt. Das Leben ist hart.

Die irische Type, kräftig gebaut, nicht attraktiv im landläufigen Sinne, aber eine schöne Frau, tanzte, wie Herr M. sich das vorstellt. Auf dem Beat. Mit Hingabe. Der zweite Liter Schweiß ist weg und Stunden später, am Morgen danach, stellt Herr M. fest, dass er drei Kilo weniger wiegt, als am Vortag. Alles Wasser weg. Man muss aufpassen, dass man nicht dehydriert.

Die junge, zurückhaltende Frau, die Herr M. schon häufig im Club gesehen hat, von der er denkt, sie könne auch eine Lesbe sein, tanzt bezaubernd. Ganz leicht, ganz zart, zurückhaltend, aber auf den Punkt, da hat er gleich gedacht, wenn ich so alt wäre wie sie, wäre das jemand für mich, aber er ist ja nicht so alt wie sie, er ist mindestens dreißig Jahre älter, was die mit der hakigen Nase mit einem Kompliment kommentiert hatte, das Männer sonst abschießen: das sieht man dir aber nicht an. Nun gut, hatte Herr M. gedacht, danke.

Und dann ist da noch so eine Schlanke, die die Lippen aufeinander presst beim Tanzen, Studentin, hatte Herr M. gedacht, und so eine Brave, die sich Mühe gibt. Es wird voller und voller, schließlich ist heute Feiertag, und endlich ist es mal wieder so, wie es sein soll, man tanzt auf engstem Raum, und als es mit der irischen Type an einen Merengue geht, muss Herr M. passen, das geht ihm auf die Kniegelenke, das ist ihm zu anstrengend. Da mischt er sich unter die Band und spielt Bongos, sitzt neben dem cubanischen Conga-Spieler und kann mühelos mithalten. Noch mehr Schweiß.

Durch alle Lagen geschwitzt verlässt er den Klub eine Stunde nach Mitternacht und radelt heim. Die Stadt lärmt. Herr M. fühlt sich erst wieder wohl, als er unter Sternen durchs Aa-Tal fährt. Das von fern heranschleichende Licht von Autos illuminiert die Eichen am Weg und schneidet die verblühten Rapsfelder in silbrige Streifen. Betörend die Gerüche der Nacht, traurig die Heimkehr in die leere Wohnung. Herr M. spricht mit seiner Frau, als er eintritt, aber sie antwortet nicht.

Er reibt sich ihre Asche aufs Haupt, setzt sich auf den Balkon und beobachtet, wie eine Tochter der Nachbarin von einem Jungen nach Hause gebracht wird. Wie die beiden da stehen und Abschied nehmen. Wie der Junge drängt und sie nicht gehen lassen will. Noch einen Kuss, noch einmal will er sie an sich ziehen, und das junge Mädchen will sich los machen und sagt, ich will, dass du jetzt gehst. Sehen wir uns morgen, sagt der junge Mann, und sie sagt ja. Versprochen, sagt der junge Mann. Sie macht sich los, entfernt sich, der junge Mann folgt. Noch eine Umarmung. Noch ein Kuss, dann geht sie und er ruft "Ich liebe dich" in die Nacht und Herr M. weiß nicht, ob sie's gehört hat. Schön, denkt er. Das Leben in immer gleichen Bahnen mit immer gleichen Illusionen. Dann legt er sich schlafen. Die Katze kommt und schläft an seiner Seite.

Fr 4.06.10 10:03

Man soll nichts erwarten, dann ist die Freude um so größer, wenn etwas passiert. Ich war nach Gronau gefahren, das Rattenloch meiner Kindheit und frühen Jugend, an dem ich hänge wie der Junkie an der Nadel.

Den Nachmittag hatte ich mit V. verbracht, in die ich mit 12 verliebt war, und die ich seit einem halben Jahr hin und wieder treffe, damit wir uns unsere Geschichten erzählen können. Nicht nur Geschichten der Vergangenheit, sondern vornehmlich die der Gegenwart, und das sind Geschichten, die man nur mit jemandem teilen kann, dem man vertraut.

Gegen halb sieben fuhr ich ins Zentrum, aß im Café Extrablatt eine Kleinigkeit und beobachtete die Frühsommerparade der Gronauer, immer in der Hoffnung, ein bekanntes Gesicht zu sehen. Aber ich sah keines. Ich sah Türken. Die Bahnhofstraße ist in türkischer Hand. Türkischen Männer vor türkischen Cafés, türkische Jungen auch, hochgegelt, die türkischen Mädchen aber paradierten ausnahmslos ohne Kopftücher, zeigten her, was sie hatten und die kleinen türkischen Jungen liefen in Deutschlandtrikots herum. Das gefiel mir.

Als die Zeiger der Uhr am alten Rathaus gegen acht sprangen, machte ich mich auf den Weg zum Rockmuseum. Elmar, ein Nachbarjunge meiner Kindheit, später Leiter des Kulturamtes, hatte mir eine Karte für Blood, Sweat & Tears geschenkt. Natürlich kenne ich die Band, aber ich wäre nicht fünfzig Kilometer gefahren und hätte 30 Euro ausgegeben, um eine Band aus meiner Vergangenheit zu hören.

Vom ursprünglichen Line-Up war bis auf ein Gründungsmitglied niemand mehr dabei, aber das machte nichts. Die Band, Rhythmusgruppe, Gitarre, Keys, zwei Trompeter, ein Posaunist, ein Saxophonist, war ein Haufen ausgebuffter Profis. Sie spielten zwei Sets, gute zwei Stunden, ein paar Lieder kannte ich, spätestens, als sie Mayden Voyage von Herbie Hancock spielten, war ich auf ihrer Seite.

Die Gesichter, nach denen ich Ausschau gehalten hatte, tauchten dann auch noch auf. P.T. zum Beispiel, Billus, ein Nestflüchter, der damals ein Held war, und sich danach immer tiefer in komplizierteste Verhältnisse manövrierte, ein paar Jungs von der Rockinitiative Gronau, die eine legendäre Freundschaft mit Rockbands aus Ungarn pflegten und immer noch pflegen, alles Männer meines Alters.

Als ich heim fuhr, glomm der Tag am Horizont hinter mir nach.
Gleich werde ich die Geschichte der Entstehung der ostfriesischen Inseln schreiben, heute abend werde ich tanzen gehen.

19:56

Man könnte auch sagen, ich fliehe.
Aber es gibt keinen sicheren Ort mehr für mich.


Sa 5.06.10 11:09

Am Dingbänger Weg kamen hunderte Skater, tausende vielleicht, und ich musste warten, eh ich die Straße überqueren konnte. Als sich eine Lücke auftat, zog ich an und ein Ordner rief, das dürfe ich nicht, aber da war ich längst auf der anderen Seite und fuhr den Skatern entgegen, die langsam ausdünnten, bis schließlich nur noch die Abgeschlagenen sich mühten, und ganz zum Schluss saßen die Aufgeber am Wegrand und witzelten ihre Schmach fort und schoben ihr Versagen auf schlechtes Material.

Auf dem Zooparkplatz spielten drei Männer Luftkrieg mit selbgebauten Flugzeugen. Das ging hoch her, stieg, stürzte, taumelte, zog rasant über die Grasnarbe und wieder empor, und ich saß, rauchte eine Zigarette mit Geschmack, träumte ein wenig blassblauen Himmel und Fliegen und dachte, muss ja nicht sein.

Ich muss ja nicht tanzen, ich könnte, ja, aber ich muss nicht, dachte ich, ich fahre gleich einfach hinein in die brodelnde Sommerstadt, die zum Wochenende alles aufbietet, um den anderen Flüchtenden Zerstreuung zu bieten.

Bei den Oldenburg Kugeln am Aa-See hatte das Theater Titanick seine Bühne gebaut, sie wollen dort mit Feuer, Rauch und Getöse den Untergang inszenzieren. Ich war zu früh und dachte, ich spare mir das für den nächsten Abend, für heute, denn freie Tage sind Tage voller Leere und Erinnerungen, da muss der Witwer alles aufbieten, um nicht in Schwermut zu versinken, jetzt, wo er allein ist, wo in der Wohnung nicht eine Stimme widerhallt, wo nur die Katze ist und die will nur essen, sonst nichts.

Ich erreichte die Eisdiele, stellte mein Rad ab, und als ich die Straße schon halb überquert hatte, um mir ein Hörnchen zu kaufen, stürzten zwei Räder, die vor meinem standen, wie Steine eines Dominospieles einfach um. Alle schauten auf mich, ich hob die Hände.

Entschleunigen, dachte ich, Herr M., Sie müssen entschleunigen, sie haben noch einen Tag oder dreißig Jahre, da hilft keine Eile, da hilft nur, das Haus zu beziehen und anwesend zu sein, sonst hilft ihnen niemand, keine Söhne, keine Freunde, niemand kann irgendetwas für Sie tun, Sie müssen es selbst tun, schlecken Sie einfach ihr Eis und schauen, und dann fahren Sie weiter.

Ampeln sprangen herum, Radfahrer tobten in Horden hafenwärts, und vor dem hippen Friseur am Hansaring standen Menschentrauben. Als ich heran war, sah ich, wieso. Im Salon spielte eine Band, ich hörte zwei, drei Lieder, sie gefielen mir und ich dachte, siehste, Mensing, entschleunigen, dann kommt alles auf dich zu.

Ich schloss mein Rad an einen Laternenpfahl und traf zehn Schritt weiter den Gitarristen, der im Internet so erfolgreich Gitarre unterrichtet. Wir sprachen miteinander, aber er hörte nicht zu, obwohl sein Gesicht so nah an meinem war, dass ich dachte, er frisst mich auf, aber er hörte nicht zu, er redete nur. Mir fuhr der Schreck durch die Glieder, denn ich vermisste mein Schlüsselbund. Gerade hatte ich es noch gehabt, und dann fiel mir ein, dass es vielleicht am Fahrradschloss hing. Der Gitarrist und ich gingen zurück, und tatsächlich, es war noch da.

Am Hafen tauchte der Erlebnismillionär auf. Zum ersten Mal, seit seine Krankheit ihn fast umgebracht hätte, traf ich ihn wieder. Wir lagen uns in den Armen und ich war nicht neidisch, dass er überlebt hat und sie nicht. Es hätte ihn ebenso treffen können. Er sah gut aus, er sah nicht aus, wie sie ausgesehen hatte in ihren letzten Tagen, eine Gezeichnete.

Alles jährt sich in diesem Montat. Jedes Blatt, jede Blume am Weg, jede Wolke, jeder Atemzug erinnert an sie und ich sterbe mit ihr, denn jetzt, wo die Schockstarre langsam der Einsicht weicht, wird mein Verlust täglich größer und schwerer.

Ich tanzte dann doch, aber ich tanzte mit wenig Freude, und als ich heim fuhr so gegen halb zwei, zog ein Flugzeug fast lautlos über den Himmel, hing da wie ein illuminiertes Insekt und so war wieder ein Tag zuende, wieder eine Flucht nicht geglückt, die Geschichte der friesischen Inseln noch immer nicht geschrieben und heute nachmittag könnte ich mit einem Bolivianer, einem Argentinier und noch zwei, drei Südamerikanern an der Promenade in der Nähe des Zwingers Musik machen.

Ich denke, ich werde das tun. Ich tu das, ich tu das für dich, ich tu das, damit ich mich nicht verliere, ich tu das, weil mich die Trauer sonst frisst und das Alleinsein und die Aussicht auf einen weiteren Tag ohne dich oder auf dreißig Jahre.


So. 6.06.10 11:44

Verbrachte den Nachmittag an der Promenade. Musizierte mit Sergio und Eduardo, die ein Repertoire zeitgenössischer und folkloristischer südamerikanischer Lieder spielen. Saß auf einem Cajon, früher mal eine Kiste, auf der man trommeln kann, mittlerweile etwas aufgepeppt, so dass sie klingen kann, wie ein kleines Schlagzeug, schaute den Promenierenden zu, die uns beim Musizieren zuhörten, sah die große Schwester, sah den und den, und die Zeit ging in Frieden dahin.

Sergio ist Bolivianer, Eduardo ist Argentinier, später kam noch Eric hinzu, Bolivianer auch er. Er spielte Kontrabass. Das alles war nicht auf hohem Niveau, aber die Lieder unterschieden sich gewaltig von den Liedern der Indianer-Kapellen, die man bis vor ein paar Jahren in jeder Fußgängerzone hören konnte. Es machte Spaß, und wer weiß, vielleicht spiele ich auf dem internationalen Sommerfest ja wieder mit den Jungs.

Danach Essen mit dem großen Sohn, und dann doch - obwohl eine Stimme meinte, es wäre besser, nach Hause zu fahren - zum Aasee, um den Untergang der Titanic zu beobachten. Das ist Spektakel-Theater, es raucht, es speit Feuer, es kracht und es ist weltweit unterwegs, und ich dachte, okay, der Abend ist schön, ich legte mich auf die Wiese und schlummerte, kurz nach zehn begann die Inszenierung, und ich fand sie rundum gelungen.

Bilder wie aus frühen Fellini Filmen, keine Geschichte von Belang, aber das will diese Art Theater auch nicht leisten. Es krachte halt, es spie Feuer und zum Schluss gab es ein sehr schönes Feuerwerk. Danach zerstreute sich die Menge, für kurze Zeit herrschte auf der Himmelreich-Allee ein herrliches Radfahrer Chaos, dem alles weichen musste, alle mussten beiseite springen, und ich mittendrin, Höchstgeschwindigkeit radelnd und das Schicksal herausfordernd.

Zuhause dann noch etwas Boxen im Fernsehen und dann zack ins Bett.
Die Geschichte von der Entstehung der Nordsee ist geschrieben, jetzt könnte ich ins Freibad gehen.

16:01

Ich hätte können, aber dann sprang diese Faulheit mich an, eine tief sitzende, nichts und alles wollende Faulheit, zudem kam mir die Idee, ich könne auch einmal nein sagen, wenn man mich um etwas bittet, und so verband ich das eine mit dem anderen, legte mich hierhin und dorthin, landete schließlich vorm Fernseher, um einen dieser Fünfziger-Jahre-Filme zu sehen, in denen immer Gustav Knuth mitspielt und Hans Lothar und
sonst wer, aber da sie den Abspann nicht senden, weiß ich die übrigen Darsteller nicht. Ich teile meine Zuneigung zu solchen Filmen mit meinem jüngsten Sohn. Sie sind oft witzig.

Als das Telefon schellte, log ich mir eine Geschichte zurecht, schließlich bin ich Schriftsteller, denen liegt das Lügen zur Wahrheitsfindung im Blut, rollte mich und dachte, jetzt müsste noch jemand etwas zu Essen bringen, irgendetwas Leckeres, damit ich mich nie mehr bewegen muss, nicht einmal mehr zum Tanzkursus heute abend, die sollen mir den Buckel herunterrutschen, dachte ich, diese Küsschen-Geber, und so knurrte ich vor mich hin und wurde immer müder und müder, nicht einmal Suppe ist im Haus, dachte ich, höchstens Knäckebrot und Seranoschinken, das Leben ist öde und wundervoll, dachte ich, jetzt vollends verwirrt von meiner Faulheit, die mir so gar nicht liegt und doch tief im Blut, dann übermannte es mich und ich legte mich hin, und so liege ich da und gleich trifft mich die Hitze mit Wucht und ich will, dass es wieder kühl wird, ja, will ich das, nein.


Mo 7.06.10 13:58

Gestern ging es um Feinheiten der Haltung beim Tanz, um komplizierte Hand- und Körperdrehungen, und weil unser Lehrer zwar ein guter Tänzer aber ein verwirrter Didaktiker ist, lässt er nie genug Zeit, die Dinge auszuprobieren, bis man begriffen hat, sondern schiebt immer, wenn man gerade anfängt, zu begreifen, eine weitere Drehung hinterher, so dass man das, was man angefangen hatte zu begreifen, gleich wieder vergisst, um dann am Ende verwirrt dazustehen. Einsicht ist von ihm nicht zu erwarten, er nimmt Einwände eher persönlich.

20:08

dies könnte ein politischer text werden
aber da ist unser herz vor
ein bockiges herz
gegen alles und immer schon
es weiß nicht wieso
es gibt sich rammstein und hofft
dass das ironie ist
und dann sagt der gitarrist
wir machen nur
was uns spaß macht
wir denken nicht daran wie das wirkt
da nickt mein herz
genauso schlage ich auch sagt es
und geht online


Di 8.06.10 10:03

Mein Nachbar, der, den sie Badewannen-Jupp nennen, spielt wieder Gott. Allmächtig fühlt er sich, geht in seine Garage, die so akkurat aufgeräumt ist, dass einer wie ich nur mit den Ohren schlackern kann, geht da hinein, holt eine Gasflasche, die groß genug ist, um - fiele sie in die Hände eines bösen Taliban - eine mittelschwere Explosion mit vielen ungläubigen Opfern auszulösen, schließt einen Flammenwerfer an und macht sich über die Schöpfung her. Jeder Grashalm, und sei er noch so klein, wird niedergebrannt. Das muss so sein. Er erträgt es nicht, wenn sich zwischen den Plastersteinen vor seinem Haus, die er eigenhändig gelegt hat im Schweiße seines Angesichts, auch nur der Hauch unkontrollierten Lebens regt. Da muss Gift her, da muss Feuer her, schließlich ist er Gott. Und als es so faucht und das unkontrollierte Leben unter seinem Feuersturm wegstirbt, stelle ich mir vor, ich wäre Gott und was ich dann mit ihm täte, mit diesem Badewannen-Jupp, den keiner achtet und keiner liebt, weder seine Frau noch seine Kinder noch sonst irgendjemand.

18:59

Wären nicht die gewesen, die lieber Mist machen und stören, es hätte schön werden können heute mit unserer Einheit zur Entstehung der friesischen Inseln. Erst habe ich die Geschichte gelesen, dann haben D. und ich das Land, das heute die Nordsee ist und vor Urzeiten trocken lag, das Doggerland, als großes, sandfarbenes Tuch auf den Boden gelegt, haben es mit Menschen, Pflanzen und Tieren besiedelt, das Eis nördlich mit weißen Tüchern und die Flüsse mit blauen Seilen dargestellt, haben die Flut kommen lassen als blaues Tuch, das alles bedeckt, die Nordsee, und darauf haben wir mit einem Seil die Umrisse der Insel Ameland gelegt. Aber die, über die ich nicht sprechen darf, haben Unruhe verbreitet. Es reicht, wenn einer die Gruppe stört, zwei oder drei sind machen es anstrengend, sehr anstrengend. Dennoch, ein guter Tag für einen, der kein Lehrer sein kann und es dennoch ist.




Mi 9.06.10 9:34

Schon wieder ein gemeiner Anschlag. In Bielefeld, eine Stadt, die es, der Westfale weiß das, gar nicht gibt, ist eine Würstchenbude explodiert. Das erschreckt. Der Kandidat für den vakanten Posten des Bundespräsidenten findet das Sparpaket der "sogenannten" Regierung ausgewogen und gut. Endlich ein Ja-Sager, wird Mutti gedacht haben. Das erschreckt noch mehr. Der größte Schreck an diesem Morgen aber fuhr mir ins Gemächt, als ich las, dass es in Münster Nienberge noch Osterkerzen zu kaufen gibt. Heißt das, ich habe ein Jahr verschlafen und es ist schon wieder Ostern? Egal. Ach, noch etwas: Deutschlands Fußballmannschaft ist in Isreal unbeliebt wie kein anderer WM-Teilnehmer. Das wundert mich nicht, ich liebe Israel auch nicht. So. Vier Maschinen Wäsche wollen gewaschen werden, wir müssen bügeln und können die uns alle bewegende Frage "wer seid das ihr" noch immer nicht beantworten.


Do 10.06.10 9:05

Beunruhigend war das schon, aber ich konnte es nicht einordnen. Mir war nicht klar, was geschah, ich war nur in Eile, fand die Straße nicht, in der ich verabredet war und es schien, ich wäre schon eine Weile unterwegs gewesen, ohne Nachricht zu geben.

Die Stadt, in der Menschen auf mich warteten, war groß, sie sah aus wie Paris. Ich war auf dem Rad unterwegs. Die Wartenden saßen auf Stühlen vor einem Restaurant. Ich erkannte meine Mutter und ahnte, dass auch die anderen da wären. Ich grüßte beim Vorbeiradeln, alle grüßten zurück, lachten und der Tenor in ihren Gesichtern war, ach, da ist er ja.

Ich schob mein Rad durch ein Restaurant, stellte es auf dem Hof dahinter in einen der ersten Fahrradständer, damit ich es leichter wiederfände. Dann ging ich zu Wartenden. Meine Neffen tauchten auf, und nahtlos übergehend fand ich mich in einem großen Flugzeug.

Stewards richteten Plätze, auf zwei großen Leinwänden wurde ein Film eingespielt, ein Weltraumepos, und ich dachte, ob das für den Start einer so großen Maschine der richtige ist?

Gleich darauf ging ich in einer Stadt herum. Es war merkwürdig still in dieser Stadt, obwohl sie sehr geschäftig war, und je länger ich herum ging, desto mehr drängte sich mir der Verdacht auf, dass etwas geschehen sein musste.

Ich konnte das nicht benennen. Ob das Flugzeug abgestürzt ist, dachte ich ohne Panik, ohne große Verstörung. Als ich die mit schriller Stimme sprechende Bäckereifachverkäuferin des Bäckers an unserer Ecke traf, grüßte, ihren erschrockenen Blick registrierte und fragte, ob etwas nicht in Ordnung sei, wandte sie sich ab. Ich trat vor einen Spiegel. Ich glich dem Prototyp des wandelnden Untoten, leere Augenhöhlen, die linke Schädelseite phosphorizierend grün. Interessant, dachte ich, und erwachte.

19:58

Der Dschungel wiegt schwer. Herr M. transpiriert schon beim Gedanken an Bewegung. Heute nachmittag fuhr er durch fetten Regen in den äußersten Westen Westfalens, um den Nachmittag im Studio seines besten Freundes zu verbringen. Die Studiokatze war da, ließ sich betrillern, es gab Kaffee und Kuchen, Herr M. und Herr H. sprachen dies und das, saßen vorm Rechner und schnippselten Liedspuren. Irgendwann kam der Bauer, um Freunden das Studio zu zeigen. Er ist stolz auf Herrn H.

Noch einen Tag Schule, dann Wochenende, dann auf die Insel.

23:13

Mein Enkel Julius



Fr 11.06.10 19:48

Herr M. hat alle Arbeit getan, in zwei Tagen geht es auf die Insel, eine harte Woche wird das, aus vielerlei Gründen. Herr M. hat Fußball geschaut. Herr M. schaut, ob Mails im Postfach sind. Herr M. hat gegessen. Herr M. wird nicht ausschwärmen zu irgendeinem Vergnügen. Er wird nicht trinken, nicht kiffen, vielleicht legt Herr M. sich ins Bett und verschläft das Alleinsein. Wer weiß schon, was Herr M. tun wird. Herr M. hat einen Trauertag hinter sich, der heute früh in der Kirche begann. Herr M. wäre nicht Herr M., wenn er nicht aufschriebe, was Herr M. tut, sieht und fühlt. Für heute hat Herr M. einfach zuviel gefühlt.


Sa 12.06.10 11:45

Nun fragt sich Herr M., ob er sich treffen soll oder nicht. Falls, müsste er fröhlich sein, anmuffeln geht nicht, hat man ihm zu verstehen gegeben, und da er Vorgaben in Hinblick auf ein gefälligst einzuhaltendes Verhalten nicht lustig findet, pfeift er drauf.

Der Himmel hängt tief, das Finanzamt meint es sehr gut dieses Jahr, und wenn jetzt noch ein Theaterpädagoge gefunden wird, der Mumm genug hat, vier Tage im Juli mit Herrn M. einen Gruselabend zu improvisieren, könnte Herr M. eigentlich in den Flieger steigen und an ein Ziel seiner Wahl düsen, aber nicht einmal das will er.

Was soll er da? Er kennt da niemanden und hat auch nicht die geringste Lust, sich als Tourist zum Idioten zu machen. Jeder Tourist macht sich früher oder später zum Idioten, vor allem, wenn er sich einheimischen Sitten und Gebräuchen anbiedert, indem er deren Kleidungsgewohnheiten imitiert.

Also, denkt Herr M., der Sommer zieht langsam auf, und wir wissen nichts. Das geht nun schon über 61 Jahre so, und mit aller Vorsicht darf behauptet werden, dass sich an diesem Zustand nichts ändern wird. Schöne Aussichten, denkt Herr M., der ja Optimist ist, auch wenn das manche bezweifeln, aber das macht nichts. Herr M. weiß, dass er nichts weiß, aber mit Sicherheit kann er sagen, dass seine Frau ihm von früh bis spät fehlt fehlt fehlt.

15:37

Die Blume weiß, wann sie blühen muss, das Herz schlägt, aber es weiß nicht wieso, ein wenig Regen fällt, Herr M. muss einen Koffer packen und hat keine Lust, es ist still um ihn, ein guter Zustand, denn nächste Woche wird es sehr laut sein, auf dem Herd köchelt eine Gulaschsuppe, zwei der drei Akazien vor Badewannen-Jupps Anwesen schlagen nicht aus, irgendwo im Dorf poltert die Blaskapelle zum Schützenfest, es ist Samstag, Herr M. hat ein blind-date heute abend, die Kleiderfrage muss noch erörtert werden, und sein Glaube an Literatur ist erschüttert, oder wäre es besser, es andersherum zu sagen: seine Literatur erschüttert den Glauben? Nein. Auch falsch. Alles ist falsch, das ist richtig.


So 13.06.10 10:43


Hochmut Neid Wollust Trägheit Zorn Völlerei Geiz.

Mehr darf ich eigentlich nicht sagen, denn das blind-date des Borchert Theaters geht noch bis in den Juli und alle, die teilnehmen, schwören, dass sie nichts verraten. Verraten darf ich, dass Sie (falls überhaupt noch Karten zu haben sind) einen wundervollen Abend verbringen werden.

Sie werden hierhin und dorthin gehen/fahren/schwimmen, sie werden dies sehen und das, Sie werden Orte kennenlernen, die Sie, selbst, wenn Sie sie täglich sehen (bei Münsteranern ist die Wahrscheinlichkeit hoch) so nicht kannten.

Und wenn Sie am Schluss dann da stehen und die Musik schwebt heran, wäre es gut, Sie hätten ihre Liebste im Arm, falls Sie eine Liebste haben. Ich habe eine, die nicht mehr bei mir sein kann, und die fehlte so sehr, da, mit dieser Musik überm Wasser, dass es mich hart ankam, dass es mir die Kehle schnürte und ich wieder wusste, gleich ist es vorbei, gleich fahre ich nach Hause und sage guten Abend leere Wohnung.

Morgens sage ich, guten Morgen, leere Wohnung. Die Katze sagt, kannst du mir jetzt endlich zu Essen geben. Ich sage nichts, torkle zum Morgenschäft an die Börse, wobei ich beobachtet und ständig Vorwürfen ausgesetzt bin. Ich ignoriere das. Mit Katzen lasse ich mich auf nichts ein.

Ich verlasse das Haus. Ein Mann mit kanariengelb grundiertem Jackett, grauer Hose, silbergrauem Haar und einem weit um ihn wehenden Geruch signalisiert mir, dass Sonntag ist. Ich bin underdressed und denke, Hochmut kommt vor dem Fall.

Vor der Bäckereitheke steht einer, der sein an der rechten Schläfe wachsendes Resthaar mit atemberaubenden Schwung über den gesamten Kahlkopf verbreitet hat. Er sagt
"heute ist Sonntag, ach ja, den ganzen Tag Sonntag, und abends mit Beleuchtung."

Ich kaufe ein. Die Straße ist wieder leer gefegt, alle haben die Kirche erreicht. Sie geben sich dort Illusionen hin, die ich verstehe, aber nie teilen werden. Dafür bin ich entweder zu klug oder zu dumm.

Ich erreiche meine Küche. Ich bereite mein Frühstück und verzehre es auf dem Balkon. Das Leben in Wohnungen ohne Ansprechpartner ist nicht zu empfehlen. Die Welt an sich ist schön, sie hat nur den einen Fehler, aber wir konnten es uns ja nicht ausuchen.

Als das Frühstück beendet ist, gehe ich herum. Ich bin auf der Suche nach Nikotin. Es ist aber keines im Haus. Die Börse ruft schon wieder. Die Geschäfte gehen gut. Das muss an der Suppe liegen.


Mo 14.06.10 22.24

Es ist noch hell, die Sonne gerade gegangen, der Himmel hoch und Ruhe ringsum. Das Internet findet in einer kleinen Hütte abseits, von Kiefern umstanden, statt, unsere Herberge ist 50 Meter entfernt, hier also kein Dauertröten von Kindern, hier hängen Pferdehalfter an der Wand, das W-Lan kommt vom Vermieterhaus zehn Meter hinter mir, gerade habe ich mit einer Kollegin eine kleine Rundreise auf dem Rad gemacht, um eine Schnitzeljagd für morgen vorzubereiten. Ich bin erschöpft, aber nicht unglücklich. Es macht Spaß, aber die Kinder sind laut, sehr laut. Und das Gepäck, das sie mit sich führen, ist schwer, stammt von 100 Kindern, und das haben wir heute dreimal verladen. Das macht stark.


Di 15.06.10 14:48

Ich denke an dich.


Mi 16.06.10 21:30

Morgen gehe ich mit dir unsere Inselwege.


Do 17.06.10 10:20

Guten Morgen du Schöne. Irgendwann komme ich nach.


Fr 18.06.10 21:33

Verbrachte einen ruhigen Tag gestern. Lag abseits vom Dünenradweg auf halbem Weg zwischen Ballum und Hollum auf einer Bank. Hoher Himmel, windgeschützt, nichts als Stille und hin und wieder Radfahrer. Eine Weile konnte ich nicht orten, von welcher Seite sie kamen. Später wurde es einfacher. Die Räder knirschten und sangen seltsam im Muschel-Sandmix. Ein Alleinradler stöhnte, weil da eine Anhöhe ist.

Ich sprach mit dir. Ich hoffte, ich könnte dich sehen, aber du weißt, ich kann niemanden sehen, ich weiß wohl, wie er aussieht, aber sehen, so wie ich dich gern gesehen hätte, das kann ich nicht. Alles bleibt Schatten und Ahnung.

Sie hatten mir den Tag freigegeben. Ich habe viel geweint, und weißt du, auf dem Rückweg am Watt, da, wo die vollgeschissenen Steinbänke auf einer Landtunge stehen und der Wind immer geht, da saß ich gegen 15:30 und dachte daran, wie du Selbstmitleid gesagt hast, da im Tigersessel, als alles noch Rücken war oder irgendwas, aber nicht Krebs, und da habe ich mich geschämt. Weinen ist ein schöner Zustand, ich weine gern, aber da war ich mir nicht mehr sicher, weine ich, weil du gestorben bist und ich dich nicht mehr habe oder weine ich, weil ich mich bemitleide. Ich glaube, viel Weinen ist so, wie du gesagt hast.

Am späten Nachmittag habe ich mich meine Sonnebrille aufgelassen und mich wieder den Kindern genähert. Sie hatten einen MLT sucht den Superstar Abend geplant, den ich beängstigend aufschlussreich, rührend und grenzwertig fand.

Auf der Rückfahrt heute hatte ich bösen Streit mit einem.
Ich werde mich mit breiter Brust verteidigen, darauf kannst du Gift nehmen.


Sa 19.06.10 16:33

Alles voller Blumen für dich, als ich heim kam.

17:49

Es war richtig, dass der Mann damals den Beruf gewechselt hatte. In den Jahren danach stellte sich heraus, dass alles, was die anderen zu dieser Entscheidung gesagt hatten, stimmte. So ein Beruf bringt kein Gehalt. Er bringt Honorar, wenn man Glück hat. Aber der Mann liebte den Beruf sehr und gab nicht auf. Als er den Beruf, den er zugunsten seines Traums nicht angetreten hatte, Jahrzehnte später doch noch antreten musste, bekam er Gehalt. Und dann - drei Monate waren vergangen, der Mann begann zu begreifen, was er da eigentlich tat - wurde sein Gehalt um fast 90 Prozent erhöht. Er hatte den Job aufgrund eines über dreißig Jahren alten Examens bekommen. Und weil er Schriftsteller war. Hatte ihn nun die Entscheidung, im nächsten Schuljahr Jahr beim Aufbau des Sekundarbereichs mitzuarbeiten, in eine andere Gehaltsklasse katapultiert? Das war doch nur ein anderer Name für die gleiche Tätigkeit. Lächerlich, dachte der Mann. Unglaublich, welche Volten das Leben schlägt, dachte der Mann. Ganz und gar nicht zu begreifen, noch dazu kann er es mit niemandem teilen. Ein großes Glück im großen Unglück, dachte der Mann. Er hätte Grund, ein Fest zu feiern. Vielleicht tut er das auch. Ein Sommerfest könnte er feiern.


So 20.06.010 14:52

Der Mann lag auf dem Sofa, Australien spielte gegen Ghana, der Mann rauchte und ließ den Tag fliegen, als ihm einfiel, dass er eingeladen war. Ein großes Fest im Theatercafé. Ein Generationenfest, dass drei Jahrestage der Gastgeberfamilie bündelte.

Er sprang auf und schaute auf die Uhr. Ihm blieben vierzig Minuten. Wasser lassen, dachte er, Zähne putzen, umziehen. Wenig später fand er sich vorm Mülleimer in der Küche, hatte den Fußhebel schon getreten, der den Deckel hebt, hatte schon den Reißverschluss seiner Hose geöffnet und eingegriffen, als ihm sein Irrtum klar wurde. Er lachte. So in Gedanken war er lange nicht mehr gewesen.

Wenig später saß er Bus. Er hatte kein Geschenk.
Er hätte nicht einmal gewusst, was für eines er hätte besorgen können. Eine Flasche "guten Wein" etwa, sich in irgendeine Liste eintragen? Er betrat das Theatercafé. Die dort wartenden Musiker sagten, er sei zu früh, das Fest begänne erst in einer halben Stunde.

Der Mann ging vor die Tür und lief die Straße hinab. Der Gastgeber kam ihm entgegen. Der Mann bat ihn um eine Zigarette. Der Gastgeber sagte, er habe kaum noch welche. Der Mann sagte, dann schenke ich dir welche, wäre das etwas? Der Gastgeber nickte. Der Mann ging in einen Kiosk, kaufte Zigaretten, und bat den Verkäufer, ein Nordafrikaner, die Zigaretten als Geschenk zu verpacken. Der Verkäufer begriff langsam. Dann sagte er, er habe kein Geschenkpapier. Wir nehmen eine Zeitung, schlug der Mann vor. Der Verkäufer war verunsichert. Irgendeine, sagte der Mann und tippte auf die Hürriyet. Die könne er doch kaufen, dann nähmen sie die erste Seite und verpackten die Zigaretten. Damit war der Verkäufer schließlich einverstanden. Der Mann kaufte noch einen Lenin-Button, so wie man sie früher in London überall kaufen konnte, und ein Che Guevara Feuerzeug.

Damit ging er zurück zum Theatercafé. Der Gastgeber freute sich sehr. Jetzt kamen auch Gäste. Eine Stunde später war das Café voll mit Gespenstern der Vergangenheit. Viele schauten sich an und fragten sich, woher sie sich kannten, viele waren sicher, dass sie sich kannten, erinnerten sich aber weder an Namen noch an Zusammenhänge, vielleicht aber auch an Zusammenhängen und keine Namen oder umgekehrt. Das Fest nahm Fahrt auf. Eine Band spielte Soul. Der Mann tanzte viel. Der Mann trank ordentlich. Der Mann hatte viel Freude beim Tanzen. Auf die Frage, wie es ihm gehe, hatte er sich auf dem Hinweg eine Antwort überlegt: finanziell hervorragend. Herzmäßig mangelhaft. Das verstanden alle.

Gegen halb fünf überlegte der Mann, ob er nach Hause laufen oder ein Taxi nehmen sollen. Er entschied, nach Hause zu laufen, war aber, als er den Prinzipalmarkt erreichte, schon vom Gegenteil überzeugt und stieg in ein Taxi. Seit einiger Zeit bindet der Mann sich abends, wenn er ins Bett geht, einen Seidenschal um den Kopf, der die Augen verdeckt, um nicht vom frühen Licht geweckt zu werden, denn er schläft unter weit geöffnetem Fenster. Das wirkt. Er schlief heute bis 14:05.


Mo 21.06.10 14:30

In einem Raum einer ehemaligen Feuerwache findet ein kurzes Schauspiel statt. Ein alter Mann will eine Wohnung vermieten. Er ist pensioniert und hat ambitionierte Pläne. Er will das Haus und die dazugehörigen Wohnung mit der Energie menschlichen Zornes heizen. Er sagt, er habe da etwas erfunden. Der Mieter ist skeptisch.

19:05

Wusste doch, dass da was nicht stimmt.
Die 90% haben mit falsch abgeführten Sozialabgaben und Krankenkassenbeiträgen zu tun.


Di 22.06.10 8:51

Englisch vorbereiten. Ich bin grundfaul. Ich möchte Millionär sein.

23:09

Die Real Fullmooners machen Musik. Ansonsten herrscht Ruhe.
Die Kuh, die wir oft an Sommerabenden gehört haben, habe ich in diesem Jahr noch nicht gehört. Du hast immer gesagt, sie ruft mich. Unser Rosenstock treibt nicht mehr.

Max hat den Balkon begrünt.
Wir haben Tagetis, Hibiskus, eine Birke, wir haben eine Bananenstaude und auf dem Tisch stehen zehn, fünfzehn Töpfchen mit Ablegern dieser Pflanzen mit grünen, in der Mitte weiß gestreiften, schmalen, klingenähnlichen Blättern, die auf jeder Fensterbank stehen.

Wenn die Real Fullmooners ein bisschen besser spielen könnten, wäre das mehr als entspannte Musik. Wenn der Mann später mal ein sein Leben denkt, wird er nicht wissen, was geschehen ist. Es ist nicht zu begreifen. Das öffnet den Seelenfängern Tür und Tor.

Der Mann glaubt, dass er mit Menschen, die großen seelischen Schaden erlitten haben, Klartext sprechen muss, anderes verstehen sie nicht. Ihr Schaden geht so gemein mit ihnen um, dass viele sich sogar nach den Schlägen ihrer Kindheit sehnen, denn die waren normal.

Pädagogen sind nicht normal. Zumindest nicht in den Augen der Geschädigten. Sie reden von Dingen, die der Geschädigte in der Lebensphase seiner wichtigsten emotionalen Prägung nie erlebt hat. Er steht ihnen daher misstrauisch gegenüber. Deshalb bin ich für Klartext. Das kann brutal sein, aber auch Ärzte verletzen, um heilen zu können. Brutale Körperverletzung sei das bisweilen, hat mir ein Radiologe gesagt. Dich hat das umgebracht. Anderen gibt es manchmal noch ein paar Jahre.

Gestern war ich in einer Apotheke, um mir eine Schlafmaske zu besorgen. Es wird so früh hell augenblicklich und ich schlafe unter weit geöffnetem Fenster. Ich hatte vor vierzehn Tagen begonnen, mir einen Seidenschal um den Kopf zu winden. Das hat gut funktioniert, nur wenn ich abends im Lichtkegel auf meinem Bett saß und mir den Schal umwand, dachte ich oft, wenn mich jetzt einer sieht, fragt er sich bestimmt, was ist das für ein Perverser. Also war ich in der Apotheke und habe nachgefragt. Die Verkäuferin meinte, sie hätten keine mehr, wolle aber noch mal nachschauen, kramte sich durch zwei Schubladen, fand eine, gab sie mir und sagte, die können sie behalten. Die muss ich nicht bezahlen? fragte ich. Nein, sagte sie.

Mi 23.06.10 13:34

Nun ist wieder etwas passiert, würde der Brenner sagen. Die Koffer der Kinder waren Schuld. 110 Koffer. Der Mann hat sie ein- aus- ein- aus, hoch- runter, runter-hoch, runter-rein, rein- raus, aufs Boot, vom Boot runter und zum letzten Mal wieder eingeladen, und jetzt, drei Tage danach, sagt sein Rücken plötzlich, das war zu viel. Also muss der Mann sich ein wenig schonen, aber er hat morgen noch frei und am Freitag wird er schon wieder so weit hergestellt sein, dass er arbeiten kann. Bisschen Wärme im Kreuz wird das befördern.

18:40

gerät einmal hinein
hat immer den wunsch
und nie die erfüllung

ein rätsel und keiner
kann's lösen


Do 24.06.10 10:25

Schöner Fußballabend bei Freunden. Allerdings wurde für meinen Geschmack zuviel geredet, ich lasse mich gern in Bann schlagen von der Psychologie eines Spieles, werde dann stumm und äußere nur Gefühle, und davon gab es gestern reichlich.

Was die Deutsche Mannschaft angeht, finde ich, kann es besser nicht sein für den Zusammenhalt einer so jungen Mannschaft. Das erste Spiel mit Hurrah gewonnen, das zweite verloren, aber dennoch gut gespielt, das dritte nun hart erkämpft und gewonnen. Bravo.

Es hätten mehr Tore fallen können, auch Ghana hätte Tore schießen können, und es gab den Moment, als ich spürte, in den nächsten zehn Minuten fällt ein Tor, die Spannung war hoch und alles hätte geschehen können, das wusste ich, ich wusste, dass das Tor nicht unbedingt für uns hätte fallen müssen, aber dass eines fallen würde, lag in der Luft. Zum Glück fiel es für uns.

Nach dem Abpfiff hinaus auf die Straße. Da strömten alle in dem beglückenden Gefühl, gleich Teil einer Masse zu sein, dem Kreisel zu, um lautstark zu feiern. Lesen Sie dazu Elias Cannetti: Masse und Macht.


Fr 25.06.10 16:57

Will nicht kochen, will nichts, will nur, die ich will, und dann Schwamm drüber, aber die ist weg, scheiße.


Sa 26.06.10 10:44

Lang und länger wurde der Abend, die Sehnsucht hing mit tausend Kondensstreifen am Horizont, ein in die Nacht verblühender Himmel, dazu der Mann, der mal wieder nicht ein noch aus wusste, nicht wusste, wohin, wenn schon nicht bei sich selbst, was ja, bedenkt man seinen Zustand, der einzige Ort wäre, an dem er sich aufgehoben fühlt, aber nein, die Optionen für Glück waren zerstoben, überm Dorf flattert es blau-weiß als wäre hier Bayern, dabei betrifft das nur die Männer in Phantasieuniformen, die sich heute daran machen, einem Holzvogel mit schwarz-rot-golderner Krone den Garaus zu machen, um sich ganz nebenbei in aller Form zu betrinken.

Sie erwarten keinerlei soziale Sanktionen, auf dieses Wochende fiebern sie schon seit Monaten hin, ihre Frauen werden Hilfestellung leisten, werden sie heimbringen, werden ihre hochroten Köpfe kühlen und Aspirin bereitstellen, damit sie am Tag darauf weiter trinken können.

Der Mann, seit Kindesbeinen an diese Feste gewöhnt, hat es dennoch nie geschafft, sich bei diesen Einheimischen heimisch zu fühlen. Es gibt irgendetwas in ihm, das von früh bis spät revoltiert, eine irrationale Revolte ist das, eine Revolte gegen Sinn und Heimat, eine Revolte gegen alles, was recht und normal ist, und das schon seit immer und immer und Besserung ist nicht in Sicht.

Es hat Zeiten gegeben, in denen der Mann teilen durfte, er fühlte sich aufgehoben in seiner Revolte, denn sie revoltierte mit ihm, aber jetzt ist das Leben anders, jetzt hat er das Leben allein auf der Brust und es lastet und wenn er sich freut, ist niemand da, der mit ihm teilt. Selbstmitleid, hat sie gesagt, damals, im Tigersessel, wie schnell so ein Jahr geht, hat ihre beste Freundin gestern am Telefon gesagt, wie schnell so ein Jahr fliegt und da hat der Mann sich nichts mehr gewünscht, als in Armen zu liegen und ihren Atem zu hören und ihre Stimme, und dann hat er sich ausgestreckt, hat gelesen, hat gedacht, was weiß ich, nichts weiß ich, aber das wusste er längst und es war nicht mehr als eine unausweichliche Wiederholung, und heute, heute, denkt der Mann, an diesem sonnigen Heute, was wäre das schön, wie schön könnte das alles sein, wenn das Einzige, was je zu ihm stand, immer und immer, bei ihm wäre, aber es ist nicht bei ihm.

Also wird er weiter kämpfen mit sich und seiner Revolte, und am Ende wird es wie immer sein, er wird allein heimkehren, er wird allein ins Bett gehen, er wird sich seine Schlafmaske aufsetzen, die hervorragend funktioniert, immerhin, denkt er, eine gute Idee, diese Maske, wieso bin ich nicht schon viel früher darauf gekommen, jetzt erwacht er nicht mehr um fünf, um festzustellen, dass es erst fünf ist, jetzt erwacht er gegen acht, wenn er freie Tage hat, schiebt die Maske hoch, erledigt die Morgentoilette, vertröstet die Katze, legt sich wieder hin, schiebt die Maske herunter wie Zorro und ruht noch ein bisschen.

Er wird heute noch eine Geschichte schreiben, er weiß noch nicht, wie, aber er wird sie schon hinkriegen, er wird wieder den Grünsprecht zu Rate ziehen, Poka Tok wird der Grünspecht sagen, und so wird er sich langsam herant tasten an die Geschichte des Balls, der so viele Menschen fasziniert und wahrscheinlich schon vor der Erfindung des Rades die Menschen fasziniert hat. Aber so weit ist der Mann noch nicht, er hat gefrühstückt, er bereitet Pizzateig vor, er fährt in die Stadt und trifft niemand oder die Welt, wer kann das schon sagen.


So 27.06.10 00:06

Pok ta Pok oder die Geschichte des Balls

Es war Freitag, ich hatte Aufsicht draußen, danach hatte ich Feierabend. Und weil ich schon um halb acht begonnen hatte, war ich mit dem Auto gekommen, ich hatte gedacht, wenn ich das Auto nehme, kann ich eine halbe Stunde länger schlafen.

Ich stieg ein, startete den Motor, ich wollte losfahren, als ich diesen großen Klecks auf meiner Windschutzscheibe bemerkte. Vogelkacke. Ich fluchte. Ich dachte, blöder Vogel, kannst du nicht woanders hinkacken, aber dann fiel mir auf, dass da was stand. Da stand was, in Vogelkacke stand da was, und es war gar nicht so leicht zu entziffern.

Kunstgekackt, dachte ich, als ich mühsam rausgekriegt hatte, dass da „treffe dich bei der Gärtnerei“ stand. Klar, jetzt war klar, wer das gemacht hatte. Ich fuhr los und hielt kurz vor der Gärtnerei, fuhr das Auto an den Straßenrand und stieg aus.

Pok ta pok, rief jemand. Pok ta pok pok ta pok.

Ich schaute mich um. Aaaah, da oben, jetzt sah ich ihn. Herr Grünspecht also, ich hatte es ja geahnt. Ich überquerte die Straße. Herr Grünspecht ließ sich vom Telegrafenmast fallen, aber natürlich fiel er nicht, er hatte die Flügel leicht angewinkelt, so dass er mir fast vor die Füße schwebte.

Pok ta pok, sagte er und ich dachte, gut, vielleicht probiert er eine neue Sprache aus, und weil ich gerade daran gedacht hatte, dass ich mit ein paar Kindern Schland o Schland, wir sind von dir begeistert .... gesungen hatte, sang ich Schland o Schland.

Genau, sagte Herr Grünspecht. Deshalb wollte ich dich sprechen. Ach, sagte ich, das trifft sich gut, wir wollen nämlich über die Fußballweltmeisterschaft forschen. Ich weiß, sagte der Grünspecht, ich bin ja nicht blöd, ich kriege ja vieles mit. Und? fragte ich. Was weißt du über den Ball. Das will ich dir verraten, sagte Herr Grünspecht. Der Ball ist rund! Ach was, sagte ich, das wusste ich auch. Sag mir lieber, wer den Ball erfunden hat. Pok ta pok! rief Herr Grünspecht. Pok ta Pok! Pok ta was? sagte ich. Pok ta Pok!!! wiederholte Herr Grünspecht, flatterte auf und setzte sich auf meine rechte Schulter. Ich war ganz schön stolz. Ich dachte, Mannomann, wenn das jetzt die Kinder sähen. Da steht ein Mann mit Glatze und auf seiner Schulter hockt ein Grünspecht. Nicht ins Ohr hacken, bitte, sagte ich zu Herrn Grünspecht. I wo, sagte Herr Grünspecht. Kann ja sein, dass du einen Holzkopf hast, ich glaube sogar ziemlich sicher, dass du einen hast, aber das mache ich nicht. Hör zu, ich erzähle dir die Geschichte des Balles.

Und so erfuhr ich die Geschichte des Balls. Ich erfuhr, dass im alten Amerika, da, wo die Azteken und Maya wohnten, ein Spiel bekannt war, dass man Pok ta Pok nannte. Pok ta Pok, fragte ich, wieso Pok ta Pok. Weil dass das Geräusch ist, dass der Ball macht, wenn er auf der Erde aufschlägt. Klar, sagte ich. Natürlich. Klar. Ich erfuhr außerdem, dass sie den Ball durch einen Ring warfen, ich erfuhr, dass auch die Chinesen das Ballspiel kannten, ich erfuhr eine Menge, Herr Grünspecht hörte gar nicht auf, zu erzählen, und da dachte ich, okay, warum soll ich das alles aufschreiben, die Kinder können ja lesen, die können ja forschen, da gebe ich ihnen die Informationen, die sie brauchen, dann können sie uns gleich selbst davon berichten.


Mo 28.06.10 13:15

Herr Grünspecht, meine Kollegen und ich haben die Expertenarbeit zurückgestellt und die Geschichte um einen Auftrag erweitert. Wie, haben wir in Anlehnung an unsere Steinzeitepoche vor acht Wochen gefragt, könnten Menschen überhaupt auf die Idee gekommen sein, einen Ball zu erfinden. Welche Beobachtungen könnten der Idee auf die Sprünge geholfen haben.

Da kam einiges. Von Totenköpfen war die Rede, von Steinen, die einen Abhang hinab rollten, von Bison- und Mammutkot, der ja rund ist und trocknet und von beachtlicher Größe ist. Popel und ähnliches haben wir außen vor gelassen, und uns darauf konzentriert, wie wir so eine Idee verwirklichen könnten.

Und dann sind wir los und haben ums Haus Material gesammelt, vornehmlich trockenes Gras, und nun haben die Kinder den Auftrag, morgen Material mitzubringen, mit dem wir das Heu umwickeln können. Modernes fällt raus, wir sind ja frühe Menschen, die Kinder haben von Fellen gesprochen, über die frühe Menschen verfügten, aber da wir die auch nicht haben, lautete der Auftrag: Stoffreste als imaginiertes Fell. Wir werden also sehen.

Pok ta Pok, das lautmalerische Wort der alten Amerikaner (Azeteken) hat zu einigen Assoziationen geführt, die zunächst alle um Ballspiele kreisten, Basketball wurde genannt, Handball, Tischtennis, Tennis, es hat gedauert, bis jemand schließlich sagte, das ist das Geräusch eines Balles, und ab da waren wir auf der Spur.

Morgen also wird ein Ball gebaut. Ich denke, wir können auch ein Lied dazu basteln. Ein Lied zu einem einfachen, getrommelten Rhythmus, denn Saiteninstrumente gab es damals wohl auch noch nicht, also nehmen wir ein Cachon, das ist in der Schule.

Feine Sache, finde ich, verschriftlichen können wir auch, mal sehn, wie es mit den weiteren, zu vemittelnden Kenntnissen geht, Landkarte ist da, wir werden Südafrika verorten und die Spielorte der WM und was weiß ich, was uns noch über den Weg läuft.

18:28

Hübscher Verleser heute früh, beim Kaffee auf dem Balkon.
Titel der Süddeutschen: G 20 schonen die Banken.
Im Verlauf dann...

"Wir wollen nicht, dass die Steuerzahler für die Krise zahlen müssen", sagte Merkel.
In Berlin wird allerdings zugleich über einen "dritten Weltkrieg" nachgedacht, da die Transaktionssteuer auch Nachteile hat.

Endlich einmal eine Entscheidung, die den "deutschen Weg" auch in historischer Sicht konsequent fortführt.



Di 29.06.10
8:38

Wie verwirrend das ist. Herr M. verliert das einzige, woran er geglaubt hat, aber das Leben schert sich einen Dreck und geht weiter. Ein Jahr ist vergangen, und er weiß nicht einmal mehr, wie er das übestanden hat. Weiß nicht mehr, ob es je gewesen ist, fühlt nichts und dann wieder alles, doch der größte Schreck, der, dass es ihm gut geht, hängt ihm in den Gliedern und er weiß keine Erklärung.

Es geht ihm gut, so weit er die Dinge beurteilen kann, geht es ihm gut. Nicht nur, dass er seine Miete zahlen kann, sein Leben in der materiellen Welt behaupten, nein, auch auch "sonst" geht es ihm gut, er führt ein Leben danach, ein unvorstellbares Leben danach, und schaut mit großer Dankbarkeit auf das Leben zurück, dass er teilen durfte. Sogar das Alleinsein wird leichter, mehr noch, das Alleinsein bietet Chancen, über die er vorher nie nachdenken musste.

Ein heißer Tag schiebt sich langsam über Land, er wird nicht mit dem Rad zur Arbeit fahren heute, er wird das sich schon gelb färbende Wogen der Gerste nur als Dekoration links und rechts der Windschutzscheibe wahrnehmen, die Gerüche gemähter Weiden, den sich spannenden blass blauen Himmel, den Sommer, der letztes Jahr an ihm abprallte, als wäre er nicht gewesen, er hat Verabredungen, er spricht mit vielen Menschen, er steht mit beiden Beinen in einem Leben, das er vorher nicht kannte, er kann sich Dinge leisten, weil monatlich Geld kommt für eine Arbeit, die ihm zunehmend Spaß macht, es ist ein Taumel und er mittendrin, das soll ihm jemand erklären, damit er kein schlechtes Gewissen bekommt, denn das hat er manchmal, manchmal fragt er sich, wieso es ihm gut gehen kann, wo sie nicht mehr bei ihm ist, aber es ist, wie es ist.



Mi 30.06.10
10:22

Ganz langsam, Herr M., es gibt nichts mehr zu verlieren, der vorm Haus gesichtete PKW des Genitallabors war nur ein weiterer Verleser, mit so etwas haben wir nichts mehr zu tun, und wie die Dinge stehen, sind auch weit und breit keine Partner zur Kooperation bereit, nicht für 'ne Mark, wie Mutti sagen würde, und die sieht Bilder, Traumbilder wie aus dem Katalog der Psychotherapeutenklitschen, breiter Fluss über den sie blickt und am anderen Ufer natürlich sie.

Eindeutiger kann es kaum kommen, also fort mit dem Wagen des Dentallabors, wir lassen uns von diesen morgendlichen Verlesern nicht mehr ins Bockshorn jagen, wäre ja noch schöner nach dem Weltkrieg gestern oder vorgestern, wir haben einen sonnigen Tag vor uns, wir nehmen uns vor, uns so wenig wie möglich zu bewegen.

Geben Sie uns ruhig die Schuld, wir können damit leben, wir haben schon ganz andere Sachen ausgestanden, wir haben jetzt eine Theaterpädagogin gebucht, die uns bei unserem Abenteuer am See Mitte Juli zu Seite stehen wird, wenn wir an vier Abenden am Vechtesee Kindern vorlesen und Feuer machen und was wir sonst dort noch tun können, wir sind mit allen Wassern des Schicksals gewaschen, was nicht heißt, dass das Schicksal nicht noch etwas in der Hinterhand hielte, aber das trifft nicht nur auf uns zu, sondern auf jeden, was gut ist zu wissen.

Wir
lassen die Vögel für uns Lieder singen, wir freuen uns, wenn der Abendhimmel für uns betörend getüncht wird in Rosa mit davor liegenden schwarzen Riffelwolken, die in fünf, sechs fluffigen Linien übereinander schweben, wir haben das alles nicht bestellt, aber es ist nur für uns da und für die, die es sehen wollen, die anderen sollen doch dümpeln in ihren Ehen, in ihren Kleinkriegen, in ihren von Soll und Haben gebeutelten Lebensentwürfen, wir haben sparsam gelebt, wir leben sparsam und haben Haben, dass es uns nicht schwer fiele, eine Woche nach New York zu düsen, aber wir wollen das gar nicht, wir wollen nur unsere Ruhe, wir wollen, dass Worte zu uns kommen, die den täglichen Irrsinn ein wenig ordnen, damit wir ihn ertragen können, alles Übrige soll uns kreuzweise.

Wir wollen, dass der Beat weitergeht wie damals, als wir jung waren und vor Hoffnung verrückt, und so haben wir uns hinüber gerettet und sind immer noch verrückt, verrückter als damals, wenn wir uns nicht täuschen, aber selbst, wenn es so wäre, wir machen Pippi drauf, wir wissen, was wir hatten, wir haben den größten Schatz im Herzen, den kann uns niemand mehr nehmen, und falls jemand kommt, der da einen drauf setzen will, bitte, soll er kommen, wir buhlen nicht drum.

Wir tragen den Kopf aufrecht, wir wissen, dass wir etwas geleistet haben, worauf wir stolz sein können, wir haben all die Worte gereiht und reihen sie täglich neu, das ist unsere Aufgabe, davon sind wir so voll, dass uns das Herz überquillt, wir sind allein, wie man allein sein kann, aber wir hatten die große Freiheit der Gemeinsamkeit.

Wir haben geteilt, wir haben Kinder, auf die wir stolz sind, wir haben einen Enkel, der so große Augen hat, dass die Polarkappen schmelzen, wenn man sie sieht, wir müssen noch knapp zwei Wochen den Alltag erledigen und haben dann erst einmal frei, haben Ferien, wie man früher Ferien hatte, und da der Siebenschläfer gerade vorüber ist und der letzte Winter einer der strengsten seit Jahrzehnten war, dass er sogar unseren Rosenstock kaputt gefroren hat, wird es ein strahlender Sommer, den wir, das geben wir gern zu, nicht mehr so unbeschwert wegstecken wie damals.

Die Hitze setzt uns zu, aber wie gesagt, wir bewegen uns nicht, wir trinken kaum Alkohol, und wir lesen endlich mal wieder ein Buch, das über den Rand der Welt schaut, wie sonst nur wenige Bücher, fast keine, ehrlich gesagt.

Das Buch hat einen abschreckenden Untertitel, es heißt Alexanders neue Welten, Ein akademischer Kolportageroman aus Berlin, geschrieben hat es Fritz Rudolf Fries 1982 in der DDR, was schon seltsam genug ist, es ist im Aufbau Verlag erschienen und wir haben es für drei Euro bei Amazon erstanden, wir lesen und verstehen nichts und alles, und wenn jemand käme und fragte, worum geht es, wir wüssten die Antwort nicht, aber so soll ein Roman sein, er soll mehr Fragen aufwerfen als beantworten, er soll uns fesseln, weil es ihn gibt, nicht, weil sich da einer etwas ausgedacht hat.

So also beginnt dieser Mittwoch und wie er weitergeht, weiß kein Mensch.

17:15

Drei Stunden hat es um ihn geredet, geredet und noch mal geredet. Wenn Herr M. dann heim kommt, will er nichts mehr hören, denn nach so einer Mitarbeiterbesprechung schwirrt es in ihm, er ist das nicht gewohnt, er ist gewohnt, die Dinge, die ihn interessieren, allein und ohne Kompromiss zu entscheiden, und das geht natürlich in so einem Apparat wie Schule, noch dazu Modellschule, nicht, gar nicht geht das, da muss geredet und geredet und geredet werden, da stoßen Ist - und Sollzustand ständig aufeinander, und die avisierten Lösungen sind nie beschlossen, sind immer nur ins Auge gefasst bis zum nächsten Treffen, und da wird wieder geredet, und so ist es kein Wunder, dass Herr M., wenn er dann endlich das Gebäude verlassen darf, dazu neigt, die Landstraße mit 120 zu pflügen, weil er so voll ist von Ungeduld und Überflüssigem, dass es ein Ventil braucht, die Straße, die vorbeifliegende Landschaft, den Stallgeruch, um zu leben. Aber morgen ist frei und Freitag ist Wochenende. Hallelujah.

21:13

Die Rosen, die wir ihr schenken, sind alle gleich schlecht. Sie sehen gut aus für einen Tag, wahrscheinlich hat sie irgendein afrikanischer Großgärtner in niederländischem Besitz schön gespritzt, damit sie den Flug überstehen, aber kaum gekauft knicken ihre Köpfe weg und sind nicht mehr zu bewegen, aufzuschauen. Und trotzdem sind immer Rosen bei ihr. Die Straßenrandblumen, die er ihr im letzten Jahr gepflückt hat, scheinen dieses Jahr zu meiden wie die Pest. Nur vereinzelt steht hier und da Mädesüß, aber all das andere Kraut, dessen Namen er nicht kennt, glänzt durch Abwesenheit.

Herr M. ist müde. Eine so tiefe schwere Müdigkeit ist das, dass er glauben könnte, gleich falle er um, dabei ist es nur das Wetter und das Gerede, das er über sich hat ergehen lassen müssen, mehr ist das nicht, also rollt er sich ein in diese Schwere und weiß, dass er morgen nirgendwo sein muss.

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