März 2007                                        www.hermann-mensing.de      

mensing literatur
 

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Do 1.03.07  11:44

Wüsste nix. Höre wohl Schreien von Kindern, ansonsten wehen Märzwinde, die Amphibien wandern schon, Krähen hacken aufeinander ein, der Riese von Donnersmarck glaubt jetzt, er wäre tatsächlich der Größte, aber er irrt: ich bin's. Ich bin so groß, dass mir fast graut. Habe eine Stunde gebügelt und werde nun ruhen, wie es Katzenart ist, denn schließlich habe ich einen Lehrmeister, der nicht zu überbieten ist, eine zehn Kilo schwere Katze, die nichts tut als ruhen, ruhen, ruhen.

Und Sie? Waren zahlreich im Februar. Hoffentlich bleiben Sie mir treu, wenn es wieder heißt: I dance a bit while I commit my social suicide.

13:21

Wir nähmen alle Präsidenten
und füllten sie mit Alkohol,
zögen sie nackt aus und verhängten
Kontaksperre zu unser aller Wohl.

Wir sperrten sie in düst're Hütten,
beschallten sie mit Operütten
wir zwängen sie, sich selbst aus Ton zu kneten
und lehrten sie zu beten.

Sie müssten Nadeln in sich stechen,
von früh bis spät (wie wir) im Regen stehn,
dürften nicht eine Regel brechen
müssten in aller Augen sehn.

Das dauerte so ungefähr drei Wochen,
dann schickten wir sie heim, zu Fuß,
dort müssten sie für ihre Länder Suppen kochen,
sie löffeln und sich selbst zur Buß

pro Tag dreimal den kleinen Finger brechen,
mit dicken Hämmern vor die Stirne schlagen,
wir lehrten sie, in Demut mit sich abzurechnen
und übergössen sie mit allen uns bekannten Plagen.

Die Welt wäre danach nicht besser,
sie wär noch immer hoffnungslos,
wir registrierten das und liefen schnell ins Messer,
und wären uns und unsere Sorgen los.

 

Fr 2.03.07   9:01

Sollten Sie, sagen wir, 1970 oder später geboren sein, werden Sie wenig von dem wissen, was im Augenblick im Zusammenhang mit dem Gnadengesuch des RAF Terroristen Christian Klar diskutiert wird. Bis auf das, was Sie in den Zeitungen lesen.

Ich bin etwas älter und versuche kurz zu schildern, wie die Dinge in meiner Sicht lagen.

Als 1949 geborener hatte ich ein Problem. Mit Erwachen meines politischen Bewusstseins (wo bin gelandet, was ist das denn für ein Scheißland) gingen schwerste Vorwürfe gegen meinen Vater (respektive die ältere Generation) einher. Er war (stellvertretend) derjenige, der stillgehalten, weggesehen und schließlich gekämpft hatte.

Ich fand mich in einer Republik, deren Administration durchsetzt war von Altnazis. Das Kapital war noch immer in denselben Händen (bis auf das der enteigneten und von den Nazis getöteten Juden). Ich war fassungslos und wütend, ich war tief beschämt.

Als Teile der politische Bewegung, die heute als die 68er bekannt ist, Anfang der siebziger militant wurde, hatte ich nichts dagegen. Ich fand, die Republik hatte das verdient, ich fand vor allem, das Kapital solle büßen. Als die ersten "Kapitalisten" bei Anschlägen starben, empfand ich (wie viele damals) klammheimliche Freude.

Einmal zerrte man mich vor Gericht. Ich war ungefähr fünfundzwanzig und hatte an einem vor der Lamberti Kirche aufgebauten Infostand der Marxisten/Leninisten (vielleicht waren es auch die Maoisten) einen Aufruf zum politischen Kampf/Widerstand unterschrieben. Man warf mir Unterstützung einer kriminellen Vereinigung vor. Damals gab es linke Anwälte, es gab ein Netzwerk, dem ich mich anvertraute, es kam zu einer Gerichtsverhandlung, das Verfahren wurde eingestellt.

Das Morden ging weiter. Die Republik reagierte nervös.

Ich erinnere mich an zwei Begegnungen mit schwer bewaffneten Polizeikräften. Einmal, als ich (im deutschen Herbst, also Mitte der Siebziger) von Holland kommend die Grenze überquerte, die damals noch nicht offen war.
Da war unser Wagen plötzlich umkreist. Die Polizisten, natürlich nervös, waren recht ruppig.

Ein zweites Mal, C. und ich kamen spät aus der Krone, waren auf dem Weg nach Hause, hatten kaum den Ludgeri Platz umkreist und fuhren die Moltkestraße Richtung Weseler, wurden wir von einem Wagen überholt und rechts herangewunken. Polizisten, auf den ersten Blick nicht als solche zu erkennen, ebenfalls schwer bewaffnet, die uns überprüfen wollten. Da ich keine Papiere dabei hatte, fuhren sie mit uns bis zu unserer damaligen Wohnung in der Marienthaler Straße.

Meine Einwände gegen das Kapital haben sich bis heute nicht geändert. Im Gegenteil: der globale Kapitalismus ist menschenverachtender denn je. Eines aber hat sich geändert: heute weiß ich, dass auch hinter dem ärgsten Kapitalisten, der damals per Definition mein Feind war, ein Mensch steht. Und ich weiß auch, dass, wie immer ein politisches System gestaltet ist, der Mensch derjenige ist, der es gestaltet.

Will sagen, der Mensch muss sich ändern, aber das wird er nicht tun. Er ist, trotz aller Beteuerungen zur Humanität, nach wie vor nichts als ein Tier, das glaubt, mehr zu sein. Ich glaube nicht an das Überleben des Menschen. Ich glaube, dass die Spezies des Homo Sapiens vorübergeht wie andere Spezies, die heute ausgestorben sind.

Jede Form von Gewalt ist mir zuwider. Ich sehe keine Chance, dass Gesellschaften durch Gewalt verändert werden könnten. Ich sehe aber, dass Gewalt Alltag ist. Auch das hat sich seit Beginn der Menschheit nicht geändert. Die Dimensionen sind andere, das Phänomen ist das gleiche. Die Natur ist gewalttätig. Man überlebt, was mit den anderen ist, ist einem egal.

Dass mit dem Gnadengesuch von Christian Klar plötzlich Argumente ans Licht gezerrt werden, die mit demokratischer Rechtsprechung nach meinem Geschmack wenig zu tun haben, zeigt einmal mehr, in welchem Zustand wir uns befinden.

Ich hege keinerlei Sympathie mit Klar, er ist wegen mehrfachen Mordes verurteilt, er hat einen Großteil seiner Strafe abgesessen, und wie jeder andere hat auch er das Recht, solche Anträge zu stellen. Von ihm nun aber zu verlangen, er müsse abschwören, klingt wie das durch Folter herbeigezwungene Abschwören in den Prozessen der Inquisition.

15:47

Drei Stühle. Auf dem ersten sitzt eine alte Dame. Ich grüße und setze mich auf den letzten, sodass zwischen uns ein Stuhl frei bleibt. Dann kommt ein älterer Mann, also noch älter als ich. Er fragt die alte Dame, ob er wohl dazwischen passe. Sicher, sagt sie, so alt sind sie noch nicht. Och, sagt er, alt genug. Wie alt denn? Na, 74, sagt er, hätten sie gedacht, älter? Nein, sagt sie. Haben sich gut gehalten.

Aber ich, wie alt bin ich denn? Er zuckt die Achseln. 90, sagt sie. 16 geboren. Kommen Sie denn aus Münster? Nein, aus Soest, sagt er. Aber bin hergezogen. 45. Wo haben Sie denn gewohnt. 20 Jahre an der Steinfurter. Wo denn da? Na da wo an der Ecke die Wäscherei Soundso war. Ach, sagt sie, da. Ja. Ich komme aus der Marienthaler. Bin da geboren. Und wo wohnen Sie jetzt? Jetzt? In Albachten, sagt er. Als meine Frau gegangen ist, bin ich da hin.

Ach, sagt sie, ihre Frau hat sie verlassen? Ja. Hat sie gleich gesagt, wenn die Kinder aus dem Gröbsten raus sind, hat sie gesagt, haue ich ab. Und hat sie sitzen lassen, mit den Kindern? Nein, die Kinder hat sie mitgenommen. Ach so. Und Albachten. Ist doch am Arsch der Welt. Na ja, sagt er, hab mich jetzt eingelebt. Hab da ein Appartment. 36 Quadratmeter. Das' nicht viel, sagt sie. Nein, sagt er, aber es geht.

Und die Kinder? Drei, sagt er. Eine Tochter in Krefeld. Zwei Söhne in Hannover und bei Celle. Sehen Sie die? Ja, Weihnachten, sagt er. Und ihre ehemalige Frau? Weihnachten. Und, reden sie viel? Nein, sagt er. Ich rede nicht gern. Ist die denn wieder verheiratet? Zweimal schon, sagt er. Die war ja Krankenschwester. Ist aber jetzt dick geworden. Als ich die heiratete, war die so dünn, dass alle gesagt haben, nimm die nicht, die stirbt dir unter der Hand weg.

Krankenschwester? sagt sie. Ja. Wollte immer einen Arzt! Hatte mal einen Perser. Einen Perser auch noch? sagt sie. Ja, sagt er, aber der hat sie nicht geheiratet. Obwohl ... Ja? Die wollte ja immer einen Arzt. War sie ganz scharf drauf. Müsste ja blöd sein, so ein Arzt, eine Krankenschwester zu heiraten, sagt sie. Ja, weiß nicht, sagt er. Jetzt hat sie einen Fernfahrer. Acht Jahre jünger. Ach? sagt sie, und dann geht die Tür auf, ich werde ins Behandlungszimmer gerufen und kann leider nicht weiter hören.

Der Doktor kommt rein, rammt mir zwei Spritzen in die rechte Schulter, es schmerzt, aber nicht sehr, er fragt noch, ob ich denn für meine Geschichten einen Protagonisten etabliert hätte (wie ich das, wäre ich vernünftig und dächte in Verkaufszahlen und nicht in mich interessierenden Geschichten, getan hätte), nein, sage ich und dann fragt er noch, ob ich Besserung spüre. Ja, sage ich, es geht langsam vorwärts. Wann kommen sie zur nächsten Spritze? fragt er. Übernächste Woche, sage ich, jetzt haue aber erst mal ab nach Barcelona. Ach, sagt er, da war ich letzte Woche, war schön, schon fast zwanzig Grad.

 

Sa 3.03.07   11:01

Vorgestern war das, nachmittags. Das Telefon schellte, ich nahm ab, Charlie war dran, Charlie aus Hamburg. Ob ich schon wüsste? Was? Plüff ist tot! Wie bitte? Ja, abends ins Bett gegangen, morgens tot. Seitdem umkreist er mich. Seit dem Tod meiner Mutter hat mich nichts stärker getroffen. Auf ihren Tod allerdings war ich lange vorbereitet, ich hatte sie begleitet, schließlich war ihr Leben rund und sie ging.

Aber Plüff? Plüff war 56. Wir haben in zwei Bands zusammen gespielt. Damals in Nottuln mit KORN. Eine wüste Band, wenn man's von heute aus sieht. Undiszipliniert, trink- und rauchfest zunächst hauptsächlich Blues spielend, dann, als McLaughlin bekannt wurde, seltsame 13er Metren ausprobierend.

Plüff am Bass. Der kleine dicke Plüff, eigentlich Tischlergeselle, dann Abitur am Overberg und Studium der Sozialarbeit. Aber da wurde nichts draus. Plüff machte Musik und koberte, will sagen, wurde Wirt in Szenekneipen. Noch eine Band später, NEO DEO, mit Arni A, der Vibes und Trompete spielte, Detlef P. Gitarre, Plüff wieder am Bass und ich am Schlagzeug. Angeblich spielten wir Jazz. Vor Auftritten meditierten wir.

Nun ist es nicht so, dass ich den Tod nicht längst als Alltagsgenossen akzeptiert hätte. Er ist immer in meinen Gedanken und schreckt mich nicht. Er ist wohl auch nur für Hinterbliebene furchtbar, aber wenn er dann einen wie Plüff holt, schreckt er mich doch. Mit 56 stirbt man nicht, oder. Ich werde 58. Und ich will verdammt noch nicht sterben.

14:30

Frühstück bei M. Der Tisch gedeckt, Brot, Aufschnitt, Kaffee, und als hätten wir nicht mindestens 10 Aschenbecher, drücken wir unsere schmierigen Kippen auf Untertassen aus oder lassen sie in leergelöffelten Eierschalen verschwinden. Fies das. Aber gemütlich.

Seitdem sind schon wieder Stunden vergangen und langsam baut sich das Reisefieber auf. Erfuhr gestern, der Einwohner Barcelonas reagiere allergisch auf Spanisch. Werde also das Spanisch, das ich nicht spreche, einfach wie Katalonisch intonieren, dann wird er mich schon verstehen oder auch nicht.

 

So 4.03.07   16:34

Nach Diktat verreist.

 

Do 8.03.07   21:08

Die Musik, jetzt: Regina Spektor: begin to hope. Das Foto: heute früh in Barcelona.


Fr 9.03.07   10:45

Der Bewohner Barcelonas ist Katalane, er hat lange um seinen autonomen Status gekämpft, und wie es so geht in der Welt der eingebildeten oder ersehnten Identitäten, man beharrt darauf, man führt unter Umständen Kriege, man wirft Sprengsätze, man behauptet.

Mit einem Wort: Autonomie geht gern mit Idiotie einher, und so hat es mich nicht verwundert, dass man mir, bevor ich nach Barcelona fuhr, sagte, die Menschen dort könnten pikiert reagieren, spräche ich sie auf Spanisch an.

Das ist aber nicht geschehen. Alle, mit denen ich radebrechte, waren sehr freundlich, bis auf die eine, eine Stadtführerin im Touristenbus. Die war ein wenig ruppig, als ich nach einem Zwischenstopp einsteigen wollte, ohne darauf zu warten, dass sie die anderen, die im Gegensatz zu mir noch kein Ticket hatten, abgefertigt hatte.

Das konnte - nachdem meine Frau mich beschwichtigt und mir davon abgeraten hatte, die Dame körperlich zu züchtigen - selbst ich schließlich verstehen. Aber immerhin, hassen durfte ich sie. Nachdem der Bus dann weiterfuhr und sie übers Mikro verschiedene Sehenswürdigkeiten in Spanisch und Englisch ausrief, hörte ich in Verbindung mit dem in einem bestimmten Kulturzentrum Dargebotenen das Wort: Fuckalamenco.

Natürlich wusste ich, was gemeint war, aber da der Spanier (und offenbar auch der Katalane) mit dem Englischen mindenstens so viele Probleme hat wie ich mit meinem Spanisch, klang das sehr sehr lustig. Frau M. und ich rollten eine Weile auf dem offenen Deck des Touristenbusses hin und her und hofften insgeheim, dass die Autonomen, die in einem besetzten Haus unterhalb des Park Güell wohnen (siehe Foto) nicht doch schössen. Wir hätten hervorragende Ziele abgegeben.

Aber da der Mensch schlussendlich den materiellen Vorteil seinen eingebildeten oder tatsächlichen Überzeugungen vorzieht (meistens jedenfalls), kurvten wir weiter herum und erfreuen uns nach wie vor bester Gesundheit.

PS.: Was nun das spanische Englisch angeht, das versteht kein Mensch, während ich den Eindruck hatte, dass die nach zwei Tagen Barcelona langsam wieder an die Oberfläche steigenden Floskeln, die ich mir vor über dreißig Jahren in Südamerika angeeignet hatte, verstanden wurden.

Kurzes, vorgezogenes Fazit: Barcelona ist eine großartige Stadt. Ich weiß nicht wie es ist, wenn man dort wohnt. Beim Kaffeetrinken etwa erfuhr ich von jemand, der am Plaza de Espana im Südosten der Stadt lebt, dass er für eine 2,5 Zimmer-Wohnung 700 Euro zahlt, für den Besucher aber, der von all dem nichts weiß und vor allem Fassaden bestaunt, ist die Stadt atemberaubend. Großzügig. Voller Visionen. Mutig. Stolz. Usw.

13:33

Sie wollen mehr von Barcelona? Sie denken, warum einen Reiseführer kaufen, wenn ich den intimen Bericht des Schriftstellers M. umsonst kriege, sie geiziger Sack. Bitte, dann klicken Sie hier, dann kriegen Sie, wofür Sie nicht zahlen wollen, weil sie glauben, die Welt sei umsonst, vor allem für Sie, die Sie zudem gecrackte Software-Versionen auf ihrem Rechner installiert haben, glauben Sie bloß nicht, dass ich das nicht wüsste. Aber bitte, okay, ich sag es nicht weiter, Barcelona ist hier ...

 

Sa 10.03.07   10:59

Seit Mitte der sechziger sind sie in meinem Besitz. Zwei Leitz-Ordner voller Briefe, die ich geschrieben bzw. erhalten habe, als ich zwischen 14 und 20 war. Unerhörte Schätze jugendlicher Schwärmerei, seitenlange Auseinandersetzungen über die Hitparaden der Zeit, vor allem mit Linda, meiner Brieffreundin aus London, aber auch mit all den anderen Brieffreundinnen aus Singapur, Japan, Schweden, Holland, England. Alle ordentlich abgeheftet und durch die Zeit gebracht.

Als ich aber heute früh meinen Schreibtisch aufräumte, als mein Blick auf den Zettel fiel, auf dem steht, dass Plüff Freitag beerdigt wird, Freitag um 13 Uhr, wobei wir dachten, gestern wäre gemeint, hinfuhren und feststellten, dass wir eine Woche zu früh waren, als mein Blick also auf diesen Zettel fiel und ich an Plüff dachte, beschloss ich, auf der Stelle einiges wegzuwerfen, eh mich unter Umständen (wie ihn) der vorzeitige Tod hinrafft oder eben auch nicht, man weiß das ja nie.

Die Briefe mussten dran glauben. Muse C. schaute mich staunend an. Das kannst du? fragte sie. Ja. Das kann ich. Ich kann noch viel mehr. Ich habe gerade erst angefangen und noch immer sieht es aus, als sei nichts geschafft.

Weg mit dem ganzen Mist.
Weg mit allem, das nur herumliegt, Staub anzieht und in die Vergangenheit weist und sonst nirgendwohin.

(25.03.08: Schade, hätte die Briefe behalten sollen.)

 

So 11.03.07   11:20

Als ich vor einer halben Stunde Müll plus Windel unseres Vormittags-Babysit-Kindes Noah in die Container warf, fielen mir Lindas Briefe wieder ein. Sollte ich sie nicht doch besser aufbewahren? Ich warf einen Blick in die Papiertonne. Ich sah die Ordner, aber die Briefe waren schon von anderem Papiermüll überlagert. Vergiss es! sagte ich mir und ging hoch erhobenen Hauptes zurück ins Haus.

Noah hatte noch schnell bei der Mutter getrunken, jetzt lachte er uns an, eine Weile jedenfalls, bis ihm langsam aufging, dass irgendetwas nicht stimmen könne. Chris trug ihn herum, ich trug ihn herum, Chris versuchte ihn ins Bett zu bringen, aber das wollte nicht klappen.

Jetzt ist sie mit Noah im Kinderwagen unterwegs und mir geht auf, was ich über Jahre eigentlich geleistet habe als Hausmann. Nicht nur, dass ich es ertrug, täglich mit Müttern zusammen zu sein, nein, es gelang mir auch, nicht die Nerven zu verlieren, wenn unsere Kinder aus Gründen, die nicht immer einsehbar waren, in dieses erbärmliche Jammern ausbrachen, dieses weltverlorene Heulen, Schlucken und Schluchzen, dieses noch hilflose Zucken mit den Armen, dieses panische Nuckeln an allem, was in die Nähe ihres Mundes geriet, eh sie dann plötzlich doch einschliefen und paradiesische Ruhe eintrat.

Ja, ich beantrage einen Orden. Noch heute werde ich der Mutter der Nation, Frau von der Leyen, einen gepfefferten Brief schreiben, in dem steht, dass mir als Hausmann sogar Milch einschoss, jedenfalls fast, also nicht ganz, aber für einen Orden sollte es trotzdem reichen, ein Orden für das Umsorgen von zwei gesunden, mittlerweile erwachsenen Söhnen. Ich will dafür auch Rente haben. Und der Orden sollte nicht klein sein, nicht kleiner als meine Handfläche, weil, dann kann ich ihn an meine Jacken tackern und alle sehen, dass ich ein Held bin.

14:23

Die Sonne steht am eisblauem Himmel. Dennoch liegt eine gewisse Schärfe in der Luft, kaum, dass man im Schatten ist. Es ist eben erst März. Letztes Jahr um diese Jahreszeit war es rattenkalt und frostig.

Morgen lese ich in Barlo. In genau der Schule, in der ich vor dreißig Jahren mein Referendariat gemacht habe. Allerdings ist die Schule heute eine Grundschule. Damals war sie eine Hauptschule.

 

Mo 12.03.07   18:12

Alles was Reviergesänge singen muss, um sich fortzupflanzen, singt. Auf jedem Giebel, auf jeder exponierten Astspitze sitzen sie und betören einander und mich. Das ist es, was ich am meisten mag an dieser Weltgegend und dieser Jahreszeit. Wenn die Gesänge erst wieder verstummen, ist das Schönste vorbei.

Durchatmen. Drei Lesungen im fernen Barlo, das ich trotz zeitiger Abreise erst fünf Minuten vorm Auftritt erreichte. Aber immerhin. Aufmerksame Klassen, freundliche Lehrer, ein Shuttle-Service mit Essen zwischen zweiter und dritter Lesung, der Autor ist mit sich zufrieden und ein wenig erschöpft. Er ist schließlich kein Hüpfer mehr und Reviergesänge stimmt er auch schon lang nicht mehr an. Also, bitte.

Schönen Abend.
Goldenes Licht fließt herum, alles im Überfluss heute, Gott meint es gut.

 

Di 13.03.07   15:02

Sagen Sie,
ist Ihnen das nicht peinlich?
Nein.
Absolut nicht.
Nicht im Geringsten.
Nicht für 5 Pfennig.

Jemand schiebt ein
Kleinkind vorbei.
Es blickt zum Balkon und ruft:
Guck mal, ein Opa!

Ist das nicht peinlich?
Nein.

Tu es mir nicht Leid?
Nein.
Mein Ego Dein Ego.
Das muss es vertragen können.

19:30

Wer Glühbirnen kauft, Glühbirnen in Fassungen schraubt und zum Leuchten bringt, wird mit Gefängnis nicht unter drei Jahren bestraft. Nur so können wir den Klimawandel noch stoppen.

 

Mi 14.03.07   10:36

Vor eineinhalb Stunden versenkte der Doktor die letzten zwei Spritzen in mein Oberarm-Muskelfleisch, jetzt bin ich geheilt. Jetzt werde ich nie mehr die Wahrheit sagen, nie mehr, ich schwöre. Stattdessen verkrieche ich mich noch tiefer in mein Schneckenhaus, in dem ich mich schon immer am Wohlsten gefühlt habe. Und wenn da einer den Kopf reinsteckt, zack, beiße ich ihn einfach ab. Ich hasse euch.

12:15

Bis auf die, die ich nicht hasse, klar.
Zum Beispiel dich nicht, dich nicht und dich nicht. Aber fast alle andern.

 

Do 15.03.07   9:15

Attentat fehlgeschlagen !!!

In der Wohnung der mäßig erfolgreichen Gruselbegabung M. schlug heute Nacht ein Attentat fehl. Die potentiellen Opfer, Hermann M. und seine Muse C., entgingen dem gegen 00:30 ausgeführten, hinterhältigen Attentat durch glückliche Fügung, als ein durch Manipulation von Islamisten / orthodoxen Juden / amerikanischen Geheimdienst / Russen etc. pp. sich aus der Wand lösender Nagel eine daran hängende, signierte, gerahmte 75x54 cm große Skizze des Wrapped Reichstages von 1992 des Künstler Christo freigab.

Diese stürzte aus ca. 100 cm Höhe auf die Schlafenden, traf aber nicht, wie geplant, mit einer der vier Ecken die Schläfen der Schläfer, sie zesplitterte nicht einmal, sondern fiel flach zwischen die beiden, die hochschreckten und zunächst nicht wussten, was geschehen war. Aber dann hörten sie von fern das Hohnlachen der Islamisten / Juden / Russen / des CIA etc. pp., die ja noch glaubten, endlich einen ihrer härtesten Kritiker aus dem Weg geräumt zu haben.

Da habt ihr euch aber geschnitten, liebe etc. pp. Aber gewaltig.

11:07

Langsam steigt Ungeduld in mir auf. Im Januar habe ich einer Reihe deutscher Verlage das ein oder andere Manuskript angeboten. Ein Verlag hat bisher den Eingang meiner Post bestätigt, alle anderen verharren in Grabesruhe.

Das bedeutet nichts, das weiß ich, ich glaube sogar, dass es eine Art Test ist, denn wie früher bereits mehrfach geschehen, haben Verlage mir immer dann, wenn ich nachfragte und höflich darauf hinwies, wieviel Zeit schon seit Eingang meiner Post vergangen sei, innerhalb kürzester Zeit abgesagt. Also werde ich nicht nachfragen. Stattdessen werde ich meinen Kopf in regelmäßigen Abständen vor die Wand rammen, denn das Rauchen habe ich mir ja abgewöhnt.

14:34

Die Steuer erledigt.
Diesmal sogar Abschläge für große Egos und andere Eitelkeiten erwirkt.

 

Fr 16.03.07   9:58

Gestern abend war es in allen Nachrichten, heute ist es die Headline, Sie aber, meine treuen Leser, wussten es schon seit gestern morgen 9:15. Die Lage ist ernst. Wir müssen Maßnahmen ergreifen. Wir müssen Spitzel aussenden. Wir müssen aushorchen und auf der Lauer liegen. Darauf läuft es nämlich hinaus, Freunde der Demokratie. Unterm Mäntelchen der Sicherheit wird spioniert, was das Zeug hält. Na dann Glückwunsch, Friedensliebhaber und Ostermarschierer, auf verstärktes Engagement an den Fronten im Hindukush und wo sonst sie unsere Freiheit noch verteidigen werden.

Und damit die Spionierer unter Ihnen, also ich meine, die lieben Staatsschützer, auch wissen, wo sie suchen sollen, hier noch einmal die Stichworte für die Suchmaschinen:

Terror.
Islamistischer Terror.
Anschlag.
Jüdische Weltverschwörung.
Amerikanische Hegemonie.

Ähemm - jetzt fällt mir im Augenblick nichts mehr ein. Aber du wirst schon deine Schlüsse ziehen, nicht wahr, lieber Staatsschutz. Ich grüße dich und heiße dich herzlich willkommen, wenn es wieder heißt: heute schnüffeln wir hier, morgen dort, Hauptsache, wir schnüffeln überhaupt.

17:21

Kaum von Plüffs Beerdigung zurück, bestürmen mich Muse M. und Sohn M. Spiegel Online habe angerufen. Wann? frage ich, gegen vier, erwidert man, man wolle aber noch einmal anrufen. Ich wachse. Einen Moment bläht sich meine Eitelkeit, schließlich warte ich seit 58 Jahren auf einen Anruf aus Hollywood. Spiegel Online also, auch gut. Endlich hat man meine Fähigkeiten entdeckt und will mich fördern, will mir - wenn auch nur Online - sagen wir, hundert Seiten (HTML) widmen, Foto, Story, alles drum und dran.

Dann geht das Telefon, tatsächlich, Spiegel-Online, eine freundliche Dame: "Sie sind doch sicher der Schriftsteller M. ..." ich nicke, und dann weiß ich auch schon, was sie will: ABOs verbimmeln, diese Schlampe, Scheiße geschissen, diese Schweinepriester, die versuchen es mit allen Tricks. Wiedersehn, Miststück, dann warte ich eben weiter auf Hollywood.

 

Sa 17.03.07   11:10

Fuhr beim Staubsaugen des Wohnzimmers unserer Katze spaßeshalber mit der Düse sanft übern Rücken, da hätten Sie mal sehn sollen, wie dieses 10 Kilo schwere Tier, das außer fressen, schlafen und uns lieben nichts weiter tut, flott wurde. Entschuldigte mich höflich, soviel Schnelligkeit und Eleganz (trotz heftig hin und her schwankenden Bauchs, den viele für einen Schwangerschaftsbauch halten) hatte ich nicht erwartet.

Pläne? Keine Pläne.

Nachklingend: die Beerdigung. So viele Menschen. Man könnte neidisch werden.

Lauheide ist ein sehr schöner Friedhof, weitläufig, mitten im Sand- und Kieferngürtel der nahe vorbeifließenden Ems, mit hohen Bäumen und weiten Rasenflächen.

Versuchte mich in den Friedhofsdiener einzudenken, der mit Plüffs Urne den Trauerzug anführte, Freunde, Musiker, Künstler, Leute aus der Szene, eine Bluesband, und er, der das Gemurmel christlicher Gebete gewohnt ist, die elektrische Gitarre im Nacken, die Saxophone, die Tuba, das Schifferklavier, die mit Besen gespielte Snare.

Vor fünf, sechs Jahren wurde Roxie, ein ehemaliger Mitbewohner von Plüff in der Meppener Straße, hier beerdigt. Auch damals waren viele Leute gekommen, unter anderem Plüff. Und jetzt versenken sie ihn gegenüber. Alte Nachbarn an neuem Ort. Das gefiel mir.

Erschreckend fast die Ähnlichkeit von Plüffs Bruder mit Plüff.

Nächste Woche feiern die Musiker Plüff zu Ehren noch einmal mit einer Session. Auch Korn hätte gespielt, meine erste Band als Schlagzeuger, in der Plüff den Bass spielte, aber Wendelin, der Gitarrist, kann leider nicht, er ist Nachtarbeiter.

15:14

Nach nächtlicher Attacke durch den gemeinen Arschlochschmerz hier endlich eine medizinische Erklärung

So 18.03.07   18:31

Modernes Gedicht

Rücken.
Proctalgia Fugax.
Prothese.
Schleimbeutel-Entzündung.
Tattergreis Day (Torte und Tee tun ihm nicht weh)

 

Mo 19:03.07   10:30

Statt sich hinzusetzen und ein Hörspiel namens: Das dritte Haus links zu schreiben, hadert Herr M. (der die vor vier Wochen aufgegebene Erzählperspektive hiermit wieder aufnimmt) mit sich, mit dem Wetter, mit Proctalgia Fugax und allem Unsinn dieser Welt, zitiert Herrn Eugenides, der einen seiner Protagonisten sagen lässt: Der Kapitalismus hat zwar materiellen Wohlstand gebracht, dafür aber den geistigen Bankrott, hadert mit jedem Wort und integriert ein Gästebuch in seine Webseite, werbefrei. Man wird ihm aber Newsletter schicken. Er ist gespannt. Sobald der erste Newsletter kommt, wird er ihn als Spam klassifizieren. Basta.

Und nun bitte zum ersten geistreichen Eintrag...

17:49

Die Entscheidung ist gefallen. Das Nachdenken und Schreiben der letzten Monate war nutzlos. Ich vergesse das alles und beginne von vorn. Das ist ein gutes Gefühl.

 

Di 20.03.07   9:23

Betr.: Aufstellung von Abwehrraketen in Polen, Tschechien

Sehr geehrte Damen und Herren,

gern erinnere ich an die Demonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss, der seinerzeit eine Million Menschen auf die Beine brachte.
Ich würde mich freuen, auch Sie demnächst wieder auf bundesdeutschen Straßen und Plätzen zu sehen.
Es würde zwar nicht viel ändern, aber es wäre immerhin ein Signal.

Es grüßt der Veteran
(Torte und Tee tun ihm nicht weh)

10:09

Und auch daran erinnere ich gern.
Ein Demokrat erklärt, wer gut und wer nicht gut ist und wer deshalb auf der Stelle angegriffen werden muss.
Heute vor vier Jahren.

 

12:09

Vielleicht können Sie sich vorstellen, dass es unendlich viele denkbare Romananfänge gibt. Nachdem Muse M. gestern meine Befürchtungen im Hinblick auf die ersten 60 Seiten meines Projektes: Achtung, da kommt ein Karton bestätigte, blieb mir nichts weiter übrig, als sie zu verwerfen. Gute Prosa, aber zu kompliziert. Zu viele Nebengeschichten. Ich muss einfacher werden. Oder noch besser: einfach aufhören mit dieser Jagd nach Anerkennung, denn das, meine Damen und Herren, steckt dahinter, sonst nichts.

 

Mi 21.03.07   10:50

Tja, und das ist ja auch ganz einfach, zumal erst gestern wieder mehrstellige Beträge auf meinem Konto auftauchten, schließlich verkaufen sich meine Romane zu Hunderttausenden, da kann ich mich doch zurücklehnen und samt Hexenschuss friedlich dem Lebensabend entgegendämmern.

Außerdem will der Geist Ruhe. Er kann nicht ständig ausspucken und ausspucken. Und wenn dann auch noch in Artikeln über den Autor M. steht, er produziere "Humorvolles mit einer Prise Spannung", wird ihm gleich schlecht, eine Depression schleicht um die Ecke und innere Stimmen rufen Eindeutiges, was aber überhört wird, schon seit 58 Jahren.

Stattdessen also frohes Zelebrieren des Frühlingsanfangs unter warmer Decke, langsam sich aufbauende Freude auf die gemeinsame Reise mit Muse M. nach Siegburg, wo ich Montag lesen werde, stilles Verdämmern des Tages bei anregender Literatur, diesmal Ronald Reng: Fremdgänger, bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, ein Roman, der auf einer Seite mehr Wirklichkeit spiegelt als Peter Handke in all seinen Romanen zusammen.

Eh ich schließe, noch ein sentimentaler Rückblick nach Barcelona.
Da saßen am Tag unserer Abreise am 8. März um diese Zeit alte Männer in Shorts an der Strandpromenade und spielten Domino.

15:02

Herr Mensing, manchmal fürchte ich, Sie sind der typische Fall für posthumen Ruhm.

 

Do 22.03.07   9:58

Fünf Regentropfen (silbern), in denen sich die Welt spiegelt,
ein goldgelber Sonnenschirmständer (ohne Schirm),
eine grüne Gießkanne ohne Tülle,
eine Frau meines Alters mit Regenschirm (Stadtpanorama),
die Glocken von St. Pantaleon, (dünn)
zwei Blumenkästen, darin (violett/lila/gelb/tiefblau): Miefstütterchen.
Ansonsten: Bedrohung durch tieffliegende Wolken.
Und: Püüüüüt püüüüt püüüüt.
Nehme an: Paarungsruf, aber wohl nicht für mich, schade.

14:20

Erfolge über Erfolge.

Seit ich mich entschloss, unveröffentlichte Manuskripte als PDF online zu stellen, reißt die Serie des Erfolgs nicht mehr ab. Hier ein paar Zahlen: Einer bleibt gleicher liegt mit 598 downloads seit Februar an der Spitze, gefolgt von den Fundsachen mit 204 downloads, auf Platz Drei Mopsi mit 137 Downloads und schließlich Marathon mit 82 Downloads.

Macht 1021 Downloads.

Da wir vereinbart hatten, jeder Downloader überweist 10 Euro für's abgegriffene Manuskript, müssten jetzt 10.210 Euro auf meinem Konto sein. Sind sie aber nicht. Es hat niemand überwiesen.

 

Fr 23.03.07   11:46

Wir wollen heute nicht sprechen.

 

Sa 24.03.07   13:23

Heute schon gar nicht.

 

26.03.07   15:13

Das Schönste zuerst, damit die, die sowieso nach 20 Sekunden weiterzappen, informiert sind. Es geschah gestern nachmittag gegen 15:30. Wir saßen am Rhein, die Sonne schien, wir tranken Kaffee und schauten. Flüsse sind fast so schön wie das Meer. Den abwärts fahrenden Schiffen kann man zu Fuß kaum folgen, den aufwärts fahrenden nur, wenn man trabt.

Wir sitzen also und freuen uns, dass wir da sind, ein Schiff mit offener Laderaumabdeckung stampft stromauf, als hinter mir plötzlich ein Kind: "Poooo, da, mit Dreck!" ruft. Der Ruf bezieht sich auf das Schiff. Muse M. und ich brechen in wildes Gelächter aus. Genauer hätte man das Schiff und seine Ladung kaum beschreiben können, es sei denn, man hätte gewusst, dass besagter Dreck hochaufgehäufte Kohle war.

Das Unschönste als zweites, aber wahrscheinlich sind Sie eh schon nicht mehr auf dieser Seite, deshalb kann ich damit auch warten.

Der Grund meiner Reise: zwei Lesungen in der Stadtbücherei Siegburg. Heute morgen. Da Siegburg zwei Zugstunden von Münster entfernt ist, hätte ich heute sehr früh aufstehen müssen, um beizeiten (9 Uhr) vor Ort zu sein. Deshalb fragte ich Muse M., ob Sie nicht Lust hätte, schon am Sonntag mit mir nach Siegburg zu reisen, dort im Hotel zum Stern einzuchecken, um danach einen schönen Tag mit mir zu verbringen.

Sie müssen wissen, in nichts sind Muse M. und ich besser, als schöne Tage zu verbringen. Wir glauben auch nicht, dass es irgendjemand sonst gibt, der in der Lage ist, ähnlich schöne Tage zu verbringen, ehrlich gesagt sind wir der Ansicht, dass der Rest der Welt eigentlich dahin vegetiert, während es uns dann und wann vergönnt ist, schöne Tage zu erleben.

Verstanden? Also gut.

Muse M. war natürlich einverstanden. Das Hotel zum Stern liegt am Markt, die Stadtbücherei ist keine fünf Minuten Fußweg entfernt, hoch überm Markt liegt eine Abtei, von dort kann man über Land schauen, eine zersiedelte Gegend, in der man nie genau weiß, ist das noch Troisdorf oder schon St. Augustin, immer noch Siegburg oder etwa schon Bonn? Ein ziemliches Kuddelmuddel also, in diesem Flachland bis zum Rhein, aber im Hintergrund beidseits des Flusses lauern Mittelgebirge. Noch nicht grün, aber das wird nicht mehr lange dauern.

Wir haben ein Raucherzimmer gebucht, Muse M. raucht, ich nicht mehr. Raucherzimmer riechen schlecht, vor allem, wenn sie kaum gelüftet werden. Daher lüfteten wir, und ließen die Fenster auch über Nacht weit offen. Was, wie Sie gleich feststellen werden, ein Fehler war.

Das Unschönste an dieser Gegend (und an unserer Reise) ist nämlich die Flughafen Köln-Bonn, der als einer der wenigen Flughäfen Deutschlands eine Nachtfluggenehmigung besitzt. Abflug- u. Einflugschneise direkt über Siegburg. Kein Wunder also, dass ich keine gefühlten zehn Minuten geschlafen habe in der vergangenen Nacht, wenngleich Muse M. behauptet, sie habe mich schnarchen hören. Ich sie auch.

Gefühlte Nacht aber war das anschwellende Rauschen startender Flugzeuge. Frachtflugzeuge, wie ich heute morgen erfuhr, Frachtflugzeuge aus aller Welt: Rosen aus Nairobi, Tulpen aus Israel, etc. pp., die ganz Nacht über, alle halbe Stunde.

Entsprechend fühlte ich mich heute früh. Eh ich also weitererzähle, kurz zu den Lesungen. Man hatte sich besonders darüber gefreut, dass ich mich nicht scheue, auch vor ersten Schulklassen zu lesen. Viele meiner Kollegen tun das nicht. Aus gutem Grund.

Ich stand heute morgen zweimal vor 1. Schulklassen. Die Gruppe um 9 war lebendig, aber zur Kooperation bereit. Da hatte ich kein Problem. Die Gruppe um 10:30 jedoch bestand aus lern- und verhaltensgestörten Kindern plus Kindern aus einer Schule, die klassenübergreifend arbeitet, 1. und 2. Klassen also, eine sehr engagierte Schule. Die einen können, die andern eher nicht.

Es gab Momente der zweiten Lesung, wo ich gern den Klassiker "So kann ich nicht arbeiten!" gerufen und schnurstracks den Raum verlassen hätte. Ich habe das nicht getan, ich habe mich durchgekämpft, fühlte mich nachher als Versager und schuldig, traf Muse M. im Café vor unserem Hotel, trank noch einen Kaffee mit ihr, dann machten wir uns auf den Heimweg.

Jetzt aber nur noch Schönes. Angenehmes. Vielleicht zunächst das Paradies schöner Frauen. So nämlich könnte dieser Reisebericht heißen. Wir waren, das wissen Sie schon, gestern sofort nach dem Einchecken an den Rhein gefahren. Nach Königswinter, um genau zu sein. Ich wollte Muse M. auf den Drachenfels führen.

Als ich fünf oder sechs war, war der Drachenfels eines meiner allerersten Reiseerlebnisse. Meine Eltern und ich hatten meinen Onkel in Köln besucht, waren auf einem Dampfer flussaufwärts nach Königswinter gefahren, dort an Land gegangen und dann hatten meine Eltern einen Esel gemietet, um mit mir darauf den Drachenfels zu erklimmen. Ich weiß nicht mehr, ob wir je oben angekommen sind, aber ich weiß noch, dass der Esel ein sehr störrisches Tier war. Die Wahrscheinlichkeit, dass wir aufgesteckt haben, ist also groß.

Dieses Mal fuhren wir mit einer Zahnradbahn hinauf. Von dort oben kann man weit in die Eifel hinüber schauen, man folgt dem Fluss aufwärts und abwärts, man schaut den übrigen Touristen zu, die zwar da, aber noch nicht so zahlreich waren, wir trafen die vier coolen Japaner wieder, die uns schon am Fluss aufgefallen waren, und irgendwann machten wir uns zu Fuß auf den Weg nach unten.

Je weiter wir kamen, desto seltsamer verhielt sich die Zeit, bis der Weg plötzlich mit kleinen Buden gesäumt war, die direkt aus den Fünfzigern stammten. Darunter auch dieser Automat.

Ich hätte nie hineingeschaut, Muse M. aber war sofort hellauf begeistert. Sie warf 20 Cent ein und jubelte vor Vergnügen. Also schaute auch ich hinein und muss sagen, ich habe es nicht bereut. Sollten also auch Sie irgendwann zu Fuß den Drachenfels erklimmen oder von dort herunterstolpern, nehmen Sie sich einen Augenblick Zeit. Sie werden die schönsten Frauen in wundervollen Badeanzügen und entzückenden Dekorationen sehen, das alles in Drei-D und Technicolor.

Zurück in Königswinter verließen wir den Haupttrampelpfad der Touristen, kamen an Dennis russischem Restaurant vorbei, wurden von einer Dicken, die aufgestützt im Fenster lag, mit mißtrauischen Blicken verfolgt, bogen um eine weitere Ecke und waren plötzlich da, wo Einheimische wohnen.

Mein Magen hatte sich längst gemeldet, aber alles, was wir bis jetzt gesehen hatten, roch nach Touristennepp. Dann aber standen wir vor einem kleinen Restaurant des Weinguts Pieper, schauten uns die Speisekarte an und gingen hinein. Wurden freundlich begrüßt, aßen hervorragend, tranken leckerste Weinschorle, hätten gern richtigen Wein getrunken, aber ich musste ja fahren.

Muse M. probierte vom selbstgebrannten Trester der Familie, Hund Timo präsentierte uns sein Quietscheschwein in der Hoffnung, wir würden danach greifen, damit er es knurrend hin- und herschleudern konnte, wir fühlten uns pudelwohl, kauften eine Flasche Trester als Souvenier, hatten das Gefühl, eine Entdeckung gemacht zu haben, in die wir vielleicht noch einmal zurückkehren werden, wer weiß.

Ab hier beginnt wieder der unschöne Teil der Erzählung, die das Paradies schöner Frauen heißt, Sie wissen schon: Nachtflüge aus aller Herren Länder mit Waren, die niemand braucht.

 

Di 27.03.06 14:28

Eh ich Jubelchöre anstimme, nur kurz: dreimal gelesen, dreimal haushoch gewonnen, kein Vergleich zu der deprimierenden zweiten Lesung in S. gestern, bei der ich mit den Kindern nichts, aber auch gar nichts anstellen konnte. Stattdessen, doch: Jubelchöre. Hermann ist der Beste, Hermann ist ein Star, Hermann soll lang leben, Hermann Wunderbar.

Capito? Danke.

Nun werde ich eine Liege auf den Balkon stellen und in der Sonne ein wenig schlummern.
Jawohl. Und von meiner Großartigkeit träumen und von all den anderen Wahnideen, die mich täglich deprimieren.

 

Mi 28.03.07   14:32

Und dann, nur drei Stunden später: Tiefschlag. Tiefschlag übelster Sorte nach einer Diskussion über Terroristen im Allgemeinen, Althippies im Besonderen, über Amnestien und Lebenslänglich. Das alles auf Totschlagniveau. Mit wem wohl? - Natürlich, mit meinem jüngsten Sohn, der mich Idiot nennt, worauf ein Wort das andere gibt und wir uns gegenseitig Sachen sagen, die wir uns nicht sagen wollten.

So - tief deprimiert, nach unruhigem Schlaf, mache ich mich heute früh wieder auf den Weg nach Recke, genau dorthin, wo ich schon gestern gelesen habe. Die örtliche Buchhändlerin, ein Organisationstalent, hat es fertig gebracht, in einem Ort, der mit weit rundum liegenden Ortsteilen gerade mal 12000 Menschen zählt, innerhalb von zwei Tagen sechs Lesungen auf die Beine zu stellen, davon zwei in vierklassigen Grundschulen, von denen ich dachte, es gäbe so etwas längst nicht mehr.

Idylle auf dem Land an der Grenze zu Niedersachsen.

Und nicht nur das, nein, es ist ihr auch gelungen, Bücher zu verkaufen. Das, was sich für mich immer recht schwierig darstellt, war für sie offenbar Routine. Lange eingestielt, im Vorfeld Benachrichtigungen verschickt, und siehe, meine Romane gingen weg wie warme Semmeln. Hab gar nicht mitgezählt, so viele wurden es.

Aber heute früh, die Kränkung noch tief in den Knochen, sollte ich, so war das mit der Buchhändlerin abgesprochen, dasselbe Buch lesen wie gestern, den 10. Mond. Gestern war gestern. Sollte ich also heute wieder die gleichen Tricks anwenden? So etwas kann ich nicht, so etwas will ich nicht, so etwas langweilt mich, dazu noch die zertrümmerte Nacht und die Weigerung des Sohnes, sich mit mir zu versöhnen, obwohl doch er eigentlich derjenige hätte sein müssen, der mich um Verzeihung bittet.

Gut. Abgehakt.
Ich wäre am liebsten weggerannt, hätte mich in einer tiefen Höhle versteckt, aber ich musste ja.

Also, Mensing, Showtime.

Erst gegen Ende der ersten Lesung begann ich zu vergessen, was mich am Boden hielt. Man fand mich gut. Bei der zweiten war ich wieder in Form, bei der dritten wurde ich langsam müde, aber das waren die Schüler auch.

Zwischen erster und zweiter Lesung, ich wollte mir die Beine vertreten und auf dem Schulhof frische Luft schnappen, trat mir ein Mann in der Weg. Drahtig, siebzig, von der Ibbenbürener Zeitung, wie er mir gleich erklärte, mit Namensschild, starke Deodorant-Wolke. Und dann erzählte er, er sei aus Danzig geflohen (häää???), schrecklich, über die Ostsee, schrecklich, habe lange in Lübeck gelebt, sei dort Kaufmann gewesen, habe alles erlebt, schrecklich sei er gemobbt worden, das könne ich mir gar nicht vorstellen.

Und dann: Was schreiben Sie denn so???

Er mache das quasi als Altershobby. Seine Frau sei noch im Beruf. Und, weil auf die Dörfer schicken die ja nicht extra einen von der Redaktion. Aber er komme zur zweiten Lesung. Tatsächlich sehe ich ihn lachen und fleißig notieren, vielleicht hat er darüber ja sein Flüchtlingsschicksal vergessen und schreibt über einen Mann, der gerade 58 geworden ist, den das Kreuz zwickt, der sich Mühe gibt, jede Mühe, und dann doch hin und wieder Breitseiten kassiert.

Das Größte geschah vor der dritten Lesung in einer vierklassigen Grundschule.

Da meldet sich ein Mädchen, sagt, sie habe im Internet recherchiert, eines meiner Gedichte gefunden, und das wolle sie aufsagen. Bitte, gern, sage ich. Das rotblonde, neunjährige Mädchen mit Pferdeschwanz kommt nach vorn, und sagt dieses Gedicht auf. Alle 10 Strophen. Ich war gerührt. Ob sie denn gern auswendig lernt, fragte ich später. Sie nickte. Ich schenkte ihr ein Buch, was sie sehr freute, ihre Mutter fast zur Raserei trieb und in dem Wunsch gipfelte, ihre Tochter möge doch bitte mit mir fotografiert werden.

Naja, bitte gern, ich sehe immer griesgrämig aus auf Fotos, für die ich posieren soll. Wenn man mich allerdings bei der Arbeit fotografiert, sehe ich gut aus, finde ich.

Das wars.
Bis morgen, falls wir dann noch leben. Falls nicht, ist es sowieso egal.

 

Do 29.03.07   14:56

Bleierne Erdschwere und Fluchtphantasien.

 

Fr 30.03.07   9:44

Seien Sie vorsichtig. Grüßen Sie nicht, ich könnte Ihnen glauben, und wenn ich dann feststellen müsste, Sie hätten gelogen, wäre ich enttäuscht und noch einmal enttäuscht sein wäre zuviel. Also gehen Sie am Besten auf die andere Straßenseite, eh Sie Ihre Belanglosigkeiten über mich ergießen. Lassen Sie's, Sie lügen ja doch. Kommen Sie mir einfach nicht in die Quere, sagen wir, Quarantäne für die nächsten Tage. Es sei denn, Sie hätten wirklich etwas zu sagen, wovon ich jedoch nicht ausgehe.


Sa 31.03.07   12:28

Die Kinder der Overbergschule Paderborn hatten etwas zu sagen. Die nämlich schickten mir Bilder zu meiner als PDF im Netz angebotenen Geschichte: Mopsi . Schade, dass ich keinen Scanner besitze, sonst könnte ich Ihnen ein paar zeigen. Was allerdings alles Übrige angeht, noch immer ist nichts klar. Das Leben ist ein Aprilscherz.

18:07

Möglich, dass es Zeiten gab,
in denen Antworten billiger waren
als Fragen, die niemand wollte.

Auch möglich, dass ich mich nur deshalb
daran erinnere, weil ich damals weniger Geld
hatte.

Tatsache ist, dass trotz steigender Einkünfte
nur noch Fragen geblieben sind,
als hätte ich alle Antworten längst gekauft
und jetzt gäbe jetzt keine mehr.

Aber so genau weiß ich das nicht.
Nichts wüsste ich so genau,
dass ich es beschreiben könnte.

Höchstens, dass mir hin und wieder
etwas gefällt und ich weiß nicht wieso,
wenn ich es aber nicht festhalte,
kann ich schon morgen nichts mehr darüber sagen.

Je länger das geht,
desto weniger Lust habe ich,
überhaupt noch etwas zu sagen,
zu beschreiben, überhaupt noch ...

Dann lieber doch nichts, oder?

 

 




 

 

 

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