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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

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Liebe Annette,

diesen Text wirst du kennen. Ich habe damit etwas getan, das zu deiner Zeit so noch undenkbar war, wenngleich du ihn natürlich hättest vertonen können. Ich habe mich eines Loops bedient, in diesem Falle eine sicher immer wiederholende Schleife eines Musikstückes. In deinen Briefen hast du davon fantasiert, wie schön es wäre, wenn man über große Distanzen miteinander kommunizieren könnte. Die Zukunft schien auf. Sicher hattest du in einer Zeitung gelesen, dass es erste Überlegungen zur Telekommunikation gab, wenngleich das Telefon erst zwanzig Jahre nach deinem Tode erfunden wurde. Dafür benötigt man Elektrizität, und die ist zu deiner Zeit Zukunft. Der von mir aufbereitete Knabe im Moor ist die Zukunft, wenngleich meine Gegenwart. Hör ihn dir einmal an, aber setze Kopfhörer auf. Ach - du weißt nicht, was Kopfhörer sind? Macht nichts. Du wirst schon hören können

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Der Knabe im Moor


O schaurig ist's übers Moor zu gehn,
Wenn es wimmelt vom Heiderauche,
Sich wie Phantome die Dünste drehn
Und die Ranke häkelt am Strauche,
Unter jedem Tritte ein Quellchen springt,
Wenn aus der Spalte es zischt und singt,
O schaurig ist's übers Moor zu gehn,
Wenn das Röhricht knistert im Hauche!

Fest hält die Fibel das zitternde Kind
Und rennt, als ob man es jage;
Hohl über die Fläche sauset der Wind -
Was raschelt drüben am Hage?
Das ist der gespenstische Gräberknecht,
Der dem Meister die besten Torfe verzecht;
Hu, hu, es bricht wie ein irres Rind!
Hinducket das Knäblein zage.

Vom Ufer starret Gestumpf hervor,
Unheimlich nicket die Föhre,
Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,
Durch Riesenhalme wie Speere;
Und wie es rieselt und knittert darin!
Das ist die unselige Spinnerin,
Das ist die gebannte Spinnlenor',
Die den Haspel dreht im Geröhre!

Voran, voran! nur immer im Lauf,
Voran, als woll' es ihn holen;
Vor seinem Fuße brodelt es auf,
Es pfeift ihm unter den Sohlen
Wie eine gespenstige Melodei;
Das ist der Geigemann ungetreu,
Das ist der diebische Fiedler Knauf,
Der den Hochzeitheller gestohlen!

Da birst das Moor, ein Seufzer geht
Hervor aus der klaffenden Höhle;
Weh, weh, da ruft die verdammte Margret:
»Ho, ho, meine arme Seele!«
Der Knabe springt wie ein wundes Reh;
Wär' nicht Schutzengel in seiner Näh',
Seine bleichenden Knöchelchen fände spät
Ein Gräber im Moorgeschwehle.

Da mählich gründet der Boden sich,
Und drüben, neben der Weide,
Die Lampe flimmert so heimatlich,
Der Knabe steht an der Scheide.
Tief atmet er auf, zum Moor zurück
Noch immer wirft er den scheuen Blick:
Ja, im Geröhre war's fürchterlich,
O schaurig war's in der Heide!

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