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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

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Liebe Annette,

eine Taube gurrt, die Schwalben sind zurück, auf der Böschung der Gräfte beim Obstgarten brütet eine Gans. Alles will blühen und feiern, alles feiert und blüht, aber am Horizont wütet Krieg, wie er lang nicht gewütet hat. Niemand will das, dennoch geschieht es. Wie soll ein Mensch das verstehen? Erinnerst du dich, wie die napoleonischen Truppen geschlagen, verwundet und zutiefst vestört zu Hunderten durch Münster zogen. Hörst du noch das Weinen der westfälischen Mütter, die ihre Söhne hergeben mussten für diesen verwirrten französischen Kaiser, der sich in den Kopf gesetzt hatte, Moskau zu erobern. Die Welt ist ein Tollhaus, und manchmal fürchte ich, den Mut zu verlieren. Meine Arbeit findet nur mühsam Verleger, mein Beharren, mit Worten auf die Welt einwirken zu können, ist zerplatzt wie eine Seifenblase. Sei stark, sei nobel, rätst du, denk, der Ruhm ist leer. Ich weiß, Annette, ich habe geträumt und immer wieder neu begonnen, ich hab mich berauscht, aber die Zweifel haben mich nicht einen Tag verlassen. Was ich mir vorgenommen hatte? Ich kann mich kaum noch erinnern. Ich finde Worte, Sätze, Poeme, die mir fremd scheinen, obwohl ich selbst sie notiert habe. Du träumtest davon, dass man in hundert Jahren noch von dir spricht. Mir geht es ähnlich. Posthumer Ruhm scheint mir weniger eitel als der tagesaktuelle, dennoch strahlt die Eitelkeit über den Tod hinaus, wofür ich mich schäme. Diesem Frühjahr, das nach zwei Jahren der weltweiten Seuche, der Unsicherheit und Furcht belebend und neu hätte werden können, hat der Krieg einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich habe zwei Söhne und vier Enkel, jeder von ihnen hat ein Leben ohne Bedrohung verdient, aber wo man auch hinschaut, überall ist Gefahr, dräut Mißgunst und Neid. Die Welt ist schön, Annette. Sie ist ein unfassbares Wunder. Um so unverständlicher wird mir mit jedem Tag, was wir ihr antun. Du und ich, wir kämpfen um jedes Wort, und ist es erst einmal hinaus, darf jeder es nehmen, loben, verhöhnen oder uns dafür beneiden, aber niemand weiß, mit welchen Qualen wir unsere Schätze bezahlen. Ach, Nettchen, ich hör' auf mit der Klage. Letzte Woche wurde in der Scheune die Judenbuche aufgeführt. Sätze wurde gesprochen. Friedrichs Beil lag auf dem Tisch. Selbst du warst anwesend, hast mit den Augen gerollt und die Geister beschworen. Du würdest dich wundern, wie viele Menschen noch an dich denken, und mit wie viel Freude ich sie durch das Rüschhaus führe, um von dir zu erzählen.

Bis bald, Annette

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