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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

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Liebe Annette,

ich kreise um den Turm von St. Pantaleon. Vorm Pfarrheim sitzen Menschen und hören mir zu. Wie kann das sein, denke ich, und spreche kurz mit den Falken im Turm, damit sie nicht nervös werden, wenn ich mich in ihre Nähe setze. Ich will rauskriegen, was da unten stattfindet. Und dann höre und seh ich's. Ich sitze in einem bequemen Stuhl, neben mir ein Glas Wein, vor mir vielleicht 30, 35 Menschen. Ich beginne, "Der Dichter" zu singen und dabei mit den Fingern zu schnippen. Die Minnesänger haben's uns vorgemacht, Annette, und ich habe mir Duke Ellington, einen amerikanischen Komponisten, Bandleader und Pianisten zu Herzen genommen. It don't mean a thing, if it ain't got that swing, hat er gesagt, es bedeutet nichts, wenn es nicht schwingt.

Weiß du noch, wie du den Schiller Vers korrigiert, ans Schwingen gebracht und ins Fenster geritzt hast? Ich lasse die Zuhörer nach "Meint ihr, das Wetter zünde nicht? und den nächsten drei Zeilen in die Hände klatschen, damit sie spüren, wie "leicht" auch ein ernstes Gedicht sein kann, wenn man es rhythmisiert, wodurch es sofort klarer und tiefer verständlich wird.

Die Falken verhalten sich ruhig, die haben kein Interesse an dem, was da unten stattfindet, aber je länger ich mir zuhöre, ahne ich, dass du da oben sitzt, natürlich, ich hätte auch früher drauf kommen können. Ich schaue hoch, du rufst diesen hohen Bussardschrei, und jetzt bin mir sicher. Du hebst ab, kreist um den Turm, ein Aufwind zirkelt dich höher, du spreizt die äußeren Feder deiner Flügel wie Finger und wirst immer kleiner. Ich lese fast vierzig Briefe, und die Zuhörer sind höchst zufrieden.

Dass ich auf einem öffentlichen Platz las, hat die Sache allerdings kompliziert gemacht, hier bellte ein Hund, da hupte ein Auto, Kinder spielten auf dem Pataleon Platz, und meine Stimme zerflog im Raum. In Zukunft werde ich so etwas nur noch mit akkustischer Verstärkung machen. Wir haben Mikrophone, Annette, so wie es früher Sprachrohre gab, nur dass unsere Mikrophone mit Membranen arbeiten, die schwingen und elektrisch verstärkt meine Stimme über Lautsprecher hörbar machen. Es gibt vieles, wovon du damals nicht einmal geträumt hättest, und ebenso vieles, das ich, als ich jung war, für Zukunftsmusik hielt. Wir sind Zukunftsmusik, Annette. Fronleichnam ist, und heute nachmittag beginnt im Rüschhaus "Stadt, Land im Fluss", eine dreitägige Veranstaltung zu deinen Ehren. Wir erkunden die Droste. Wir feiern sie. Das Wetter spielt mit. Frische Erdbeeren stehen auf dem Tisch. Ich fliege noch immer, Annette, ich muss aufpassen, dass ich nicht zum Ikarus werde, aber ich passe schon auf, keine Angst.

Bis bald, Annette.

PS. Ich habe gut verdient gestern, und es gibt schon zwei weitere Interessenten, die meine Briefe an dich hören und auch entsprechend bezahlen wollen.

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