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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

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Liebe Annette,

gestern war der längste Tag des Jahres. Ich weiß nicht, wie es dir mit solchen Tagen ging. Für mich heißt Mittsommer, dass die Hälfte des Jahres schon wieder verstrichen ist, und dann wird mir schmerzlich klar, wie schnell die Zeit vergeht. Zeit ist ein merkwürdiges Phänomen. Stell dir vor, es gibt Physiker, die sagen, dass die Zeit dehnbar sei, dass man sie schrumpfen könne, sie sagen, dass deine Zeit, die doch längst vergangen ist, auf anderen Zeitebenen in den Weiten des Universums immer noch existiert.

Das ist verwirrend, und bis auf wenige verstehen wir Gegenwärtigen es nicht, aber wenn ich daran denke, dass Schriftsteller und Dichter auch mit Vergangenem und Zukünftigen korrespondieren, so wie ich jetzt mit dir, tröstet mich das über mein Unvermögen, es zu verstehen, hinweg. Ich weiß, dass man das Leben nicht verstehen kann. Alle vor uns wussten das, und alle springt dann und wann ein Entsetzen darüber an, dass nichts sicher ist und alles jederzeit geschehen kann.

Aber davon wollte ich dir eigentlich nicht erzählen, das habe ich mir notiert, als ich den Mittsommernachtshimmel sah, mit mildem, späten Licht angehaucht, das rosa, lila, grau, weiß und taubenblau die kürzeste Nacht des Jahres vorbereitete. Als ich jung war, war ich zur Mittsommersonnenwende im Hohen Norden, im Königreich Schweden. Dort wird es kaum richtig dunkel, die Nacht ist ein sommerliches Dämmern.
Hier ist es augenblicklich sehr warm, die Bauern und Gärtner klagen, die Böden sind zu trocken, in Wäldern herrscht Waldbrandgefahr.

Am Tag nach Mittsommer (jetzt bin ich endlich da, wovon ich dir erzählen wollte) musste ich morgens um neun, als es noch kühl war, eine Gruppe junger Menschen zwischen 10 und 15 Jahren über den Lyrikweg führen. Diese Menschen befanden sich in einer außergewöhnlichen Situation. Sie alle litten an psychosomatischen Krankheiten, Krankheiten also, die vom Zustand der Seele (du würdest vielleicht Gemüt sagen) auf den Körper übergreifen. Manche leiden an Magersucht, Anexorie nennt man das, ein noch weitgehend unerforschtes Phänomen, das vor allem junge Mädchen betrifft, die in der Phase der Pubertät plötzlich glauben, sie seien zu dick, und folgedessen dann kaum noch etwas essen. Oft sind sie nur Haut und Knochen.

Die jungen Menschen kamen von einer Schule, die zur Universitätsklinik gehört. Für die Zeit ihres Aufenthaltes in der Klinik können sie dort jeden Tag zur Schule gehen, damit sie nicht in Rückstand geraten. Einen Tag vorher hatte mir gesagt, ich solle mit ihnen möglichst wenig herumgehen, jede Bewegung verbrenne Kalorien, sie nähmen dann noch schneller ab. Eine Kalorie verbrennt Fett, ich glaube, so könnte ich dir das Wort erklären. Noch einfacher wäre wahrscheinlich, dich daran zu erinnern, wie ausgehungert du nach einem Tag in den Mergelgruben oder in einem Sandsteinbruch manchmal nach Hause kamst. Du hattest Kalorien verbrannt und wolltest essen. Die anorexen Menschen tun das nicht. Manche ekeln sich sogar vor dem Essen.

Also kein Lyrikweg. Ich suchte uns einen schattigen Platz unter einem Baum am östlichen Ufer der Gräfte. Von dort blickt man auf den prächtigen Park und die Burg. Wie aber brächte ich es nun fertig, Menschen, die auf die ein oder andere Art von tiefen, seelischen Verstimmungen geplagt sind, von dir zu erzählen, dich so lebendig zu machen, dass sie fasziniert wären von diesem Ort und den Geschichten, die sich darum ranken? -

Weißt du, was ich gemacht habe? Ich habe mich in dich verwandelt. Ich war das Freifräulein Annette von Droste-Hülshoff. Wisst ihr, begann ich, es war ein frostiger Tag, als meine Mutter, im siebten Monat mit mir schwanger, auf der zugefrorenen Gräft spazierte, ausrutschte und stürzte. Wenige später kam ich auf die Welt...

Danach überließ ich mich dem Augenblick,
dem Fluss des Erzählens. Irgendwann tauchte ein Buchfink auf, hüpfte zwischen den Zuhörern herum, näherte sich manchen bis auf Handbreite und flog schließlich davon. Ich erzählte fast eine Stunde von "meinem Leben, von meiner Melancholie, von meinem Glück und dem Unglück." Man hat applaudiert, was mir gefiel, denn eine Gästeführung ist wie ein Theaterstück, das zwar Anfang und Ende hat, ansonsten aber Raum bietet, jedem sich einstellenden Gedanken zu folgen. Ich mag die geraden Wege nicht, Annette, ich liebe Abkürzungen, Umwege, und nehme jede Gelegenheit wahr, mich zu verirren, damit ich mich neu erfinden kann.

Der erste Tag nach dem längsten des Jahres war wundervoll. Trotz aller Hilflosigkeit und des Ensetztens über die Gegenwart drängte sich mir das Gefühl auf, dass ich mit Sorgen beladene junge Menschen eine gewisse Zeit trösten kann mit einer, in diesem Fall, deiner Geschichte.

PS.

Heute habe ich meine Gedichte geordnet. Wir, die Gegenwärtigen, haben ein Medium erfunden, dass es uns erlaubt, unabhängig von Verlegern zu veröffentlichen. Es heißt Internet, und ist schwer zu erklären. Denk an dein "Spiegelbild" und stell dir den Spiegel vor. Auf diesem Spiegel erscheint eine Art Formular. Wenn du in dieses Formular www.hermann-mensing.de schreibst, erscheint ein Bild. Darauf stehen geordnet untereinander verschiedene Begriffe. Einer heißt "Gedichte". Wenn du mit dem Finger darauf tippst, zeigt dir der Spiegel eine Liste meiner Gedichte. Tippe auf: Wolke. Dann erscheint:

Fesselnd webt mir eine Wolke
Wünsche übers lichte Haar
fußblind, da es niemand wissen sollte
färbte sie mich wunderbar...



Bis bald

Hermann

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