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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff


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Liebe Annette,

gestern hat der Heimatverein dir ein Fest gewidmet. Auf dem St. Pantaleon Platz standen Stühle und Tische, Bier und Wein wurde ausgeschenkt, eine Kapelle spielte, jemand, die sich als Freifräulein verkleidet hatte, las Texte von dir, aber den wenigsten Rezitatoren gelingt so etwas, sie legen oft unnötiges Pathos in ihre Stimme, so dass man die Schönheit deines Textes vor lauter Betroffenheit kaum noch mitbekommt. Und diese alberne Kostümierung mochte ich auch nicht. Es waren viele Menschen unterwegs, wenngleich der Abend recht frisch war, es gab eine Führung zur Grabstätte der Hülshoffs, und später wurde ein Film gezeigt.

Ich weiß, schon wieder so ein Wort, das du nicht kennst, aber du hast dich Anfang der 40er fotografieren lassen. Weißt du noch, wie deine Mutter gegrollt hat, weil sie das ganz und gar nicht standesgemäß fand? Na ja, stell dir vor, etwa dreißig Jahre nach deinem Tod hat jemand einen Apparat erfunden, der den Bilder die Bewegung beibrachte, und noch ein paar Jahre später war der Film erfunden. So einen Film also hat man gestern auf dem Pantaleonplatz gezeigt, er hieß Colette, eine junge Französin im ausgehenden 19 Jahrhundert, Schriftstellerin wie du, aber da war es mir schon zu frisch, es ging auf halb elf, als ich nach Hause ging.

Heute habe ich durchs Rüschhaus geführt. Um 11 war die erste Führung, danach ging es Schlag auf Schlag, jede Stunde bis zur letzten um 15:30. Du weißt, wie gern ich das tue, heute war es besonders schön, weil ich von meinen, oder besser gesagt, deinen Gäste häufig interessante Dinge erfahre. Einmal ging es um die Frage, wieso dein Bett so kurz sei. Meine Annahme, dass ihr Menschen damals kleiner wart als wir Gegenwärtigen, stimmte zwar, aber warum ihr in halbaufrechter Position schlieft, war mir nie klar. Jetzt weiß ich es. Ihr fürchtetet, in ausgestreckter Rückenlage die Kontrolle über das Leben zu verlieren, denn nur die Toten lagen rücklings und ausgestreckt. Ich war lange Zeit Bauchschläfer, aber seit einigen Jahren schlafe ich auf der Seite, mal rechts, weil ich so das schlagende Herz nicht höre, mal links.

Ich nehme mir viel Zeit für dich, wertes Freifräulein. Oft versammle ich meine Gäste um den großen Tisch in der Küche. Da sitzen wir und plaudern, denn den Menschen, die das Rüschhaus besuchen, liegt weniger an Jahreszahlen, sondern meist wollen sie Geschichten hören. Eine, die sie besonders interessiert, ist die Geschichte von dir und den Männern, die du geliebt hast. Arnswald, Straube und Levin Schücking. Vor allem Schücking steht im Verdacht, dir nah gewesen zu sein, aber den Dichter Straube hast du dein Lebtag nicht vergessen. Schade, dass die Konventionen deiner Zeit und die der Aristokratie dir so gar keine Freiheit gaben, Dinge selbst zu entscheiden. Bei den Aristokraten hat sich nicht viel verändert. Bei uns Bürgerlich ist das heute anders. Nicht, dass es nicht auch Diskussionen zwischen Eltern und heiratsfähigen Kindern gäbe, aber in den meisten Fällen entscheiden die Kinder, mit wem sie zusammen sein wollen. Meine Kinder jedenfalls haben mich nicht gefragt, und auch ich habe niemanden gefragt, als ich mich entschied, mit einer Frau zusammen zu leben. Wir waren anfangs nicht einmal verheiratet, auch das geht heutzutage, wenngleich ich mich erinnere, dass wir anfangs manchmal Probleme mit Vermietern hatten, die nur an Verheiratete vermieten wollten. Aber das ist Geschichte.

Eine Geschichte, die ich bislang nicht recherchieren konnte, ist die deiner Amme. Was ist aus ihrem Sohn geworden. Hat er mit euch auf Burg Hülshoff gelebt? Hat er profitieren können von euren Hauslehrern? Gestern erfuhr ich, du seist einmal auf einem Fest gewesen, das der Sohn der Amme gefeiert habe. Aber wie gesagt, nichts Genaues weiß ich nicht. Die Informationen für uns Gästeführer sind eher spärlich. Darin geht es meist um historische Dinge, die zwar als Hintergrund für deine Geschichte wichtig sind, aber nicht genug hergeben, um eine Geschichte lebendig zu machen. Deshalb lesen wir Gästeführer, was immer uns an Literatur zu dir und deinem Leben in die Finger kommt. Das linke Kavalliershäuschen beherbergt eine Bibliothek, in der es um nichts als um dich geht. Da greife ich mir ab und an einen Band heraus.

Auf den Feldern sind die Bauern mit der Ernte beschäftigt. Die Gerste ist vom Halm, jetzt kommt der Weizen. Du glaubst nicht, wie schnell das heute geht. Wir haben Schnittmaschinen, die ein großes Feld innerhalb weniger Stunde in einem Arbeitsgang schneiden und dreschen, du würdest staunen. Die Quitten im Garten sind voller Früchte. Die Gänse, von denen ich dir erzählte, haben die Gräfte verlassen. Wo sie jetzt leben, weiß ich nicht.

Nach den heißen Tagen der letzten Wochen ist es ein wenig kühler geworden. Es hat immer mal wieder geregnet, tagsüber und nachts, sodass die Trockenheit, unter der die Natur litt, nicht mehr ganz so schlimm ist, wenngleich immer noch schlimm genug, denn im Osten des Landes brannten die Wälder. Als Kind habe ich auch einmal so etwas erlebt. Nicht weit von meinem Geburtsort Gronau liegt das Gildehauser Venn. Ein Heidegebiet mit kleinen Tümpeln und Restmooren. Ich war acht, glaube ich, als die Heide brannte.


die haut war dünn
als die glocken vom stuhl fielen
die haaren leuchteten
als die heide brannte
in jenem sommer
es hatten sich alle versammelt
an straßen standen wurstbuden
männer erklärten die welt
und techniker taten
als hätten sie alles im griff
bardamen in erleuchteten türen
vergaßen die kundschaft
die rabatten vorm rathaus
wurden von mäusen durchwühlt
dass löcher hineinfielen
tiefer als tiefste vulkane
so waren alle ergriffen
und sprachen von flucht
aber niemand wusste wohin
und dann kam der rauch
und dann kam das feuer
und dann hörte die welt auf
mit armen um sich zu schlagen
niemand konnte etwas erklären
alle hatten etwas gesehen
nur der der genaues wusste
beschloss zu schweigen
und hing dann noch tage

Bis bald

Hermann

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