www.hermann-mensing.de

Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff


46

Liebe Annette,

eigentlich ist alles gut, wäre mein Sprachzentrum nicht durch die Museumsführungen ein wenig ermüdet. Ich höre, dass jemand spricht, aha, denke ich, das bin ja ich, aber ich überzeuge mich nicht, ich stehe vor einer weißen Wand, auf der Text aufscheinen sollte, Text mit Hintersinn, mit Geschichten, Nunancen und intelligenten Wendungen, stattdessen sind da Lücken und ich weiß nicht, wie ich sie füllen soll. Eigentlich will ich es auch gar nicht, ich will niemanden sehen, noch weniger unterhalten, aber ich muss, und wenn man muss, wird es anstrengend.

Ich hatte die ersten Gäste durchs Haus gebracht, jetzt war Mittagspause. Ich saß vorm Kavaliershäuschen und träumte einem blendend weißen Jet hinterher, der sich von Münster Osnabrück kommend gerade in den weißen gezupften Wolken auflöste, während sich sein Gebrüll mit dem der Autobahn mischte, als vier Sachsen auftauchten. Ein großer, baumstarker Mann baut sich neben mir auf und fragt, ob ich der Führer sei. Ich sage, nein, der ist glücklicherweise seit 74 Jahren tot. Darüber haben wir sehr gelacht und uns gefreut, denn dass so einer tot ist, ist immer Grund zur Freude. Jetzt ist Feierabend, nicht jeder Tag muss glänzen, aber schöner sind glänzende Tage.

PS. Erklärungen für die tote Dichterin

Jet: (Flugzeug)

stell dir vor, der Mensch hat fliegen gelernt. Der Schneider von Ulm hatte es zu deinen Lebzeiten versucht und wurde verspottet, aber bald nach deinem Tod folgten weitere Versuche, wissenschaftlicher in der Vorbereitung, mit dem Ergebnis, dass im ersten Weltkrieg (1914-1918) schon kleine Flugzeuge den Himmel kreuzten und Bomben auf Dörfer und Städte warfen. Heute gibt es Flugzeuge, die so groß sind, dass sie die Hälfte der Bevölkerung Roxels deiner Zeit an jeden Ort der Welt transportieren könnten.

Münster-Osnabrück:

Ein riesiges, planiertes Feld, auf und von dem Flugzeuge starten (sich in die Luft erheben) und landen können.

Führer:

ein in Österreich geborener, erfolgloser Maler namens Adolf Hitler, der nach dem ersten großen Krieg (1. Weltkrieg) eine Partei gründete. H. - ähnlich wahnsinnig wie Napoleon - wollte die Welt erobern und führte sie in einen schrecklichen Krieg (2. Weltkrieg), in dem 60 Millionen Menschen starben. Zudem hatte er die menschenverachtende Vision, man müsse alle Juden töten, sonst könne kein Frieden herrschen. Auch das hat er befohlen und 6 Millionen Juden auf bestialische Art umgebracht. Deine Nachkommen und meine Vorfahren haben mehr oder weniger tatenlos zugeschaut.

PPS:

Der Krieg zwischen Russland und der Ukraine geht in den sechsten Monat.

PPPS:

Die Welt ist ein Tollhaus.

Bis bald

Hermann

nächster Brief