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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

Annette Brief 49

Liebe Annete,

als ich letzten Donnerstag zum Rüschhaus kam, standen auf dem Hof vier große Automobile, motorisierte Kutschen zum Transport verschiedenster Lasten: Requisiten, Metallgestänge, Scheinwerfer, Kameras und technisches Gerät, das zu erklären nicht ganz leicht fällt. Ich hatte dir doch erzählt, dass kaum sechzig Jahre nach deiner Zeit die Bilder laufen lernten. Ganz ähnlich wie bei der Laterna Magica entstehen beim Filmen bewegte Bilder. Um aus Einzelbildern jedoch einen Film zu machen, braucht man 24 Bilder pro Sekunde. So schnell hätte das dein Fotograf mit seiner schweren Daguerre nicht bewerkstelligen können, aber wie gesagt, seither viel passiert. Heute haben wir Kameras, die kaum größer sind als eine Schminkdose und trotzdem tadellose Filme machen können. All die Automobile vorm Rüschhaus waren gekommen, weil ein Regisseur im Rüschhaus einen Film drehen wollte. Er wird Haus Kummerveldt heißen. Es geht um eine junge Adelige, die als Schriftstellerin weltberühmt werden möchte.

Schau mal, hier sind ein paar Bilder.
Erkennst du die Burg und das Rüschhaus?

Man hatte mir einen Tag vorher mitgeteilt, dass ein Filmteam käme, aber die Information war unvollständig, es hieß, es käme erst am späten Nachmittag, um für die Folgetag aufzubauen, aber nun waren im und ums Haus fast 30 Menschen, Kameras waren aufgebaut, Scheinwerfer, große Lampen, standen an verschiedenen Plätzen, kostümierte Schauspieler warteten auf ihren Einsatz. Im italienischen Zimmer hatte man umgeräumt und ein Bett unters Fenster gestellt. Mikrofone hingen an Galgen in der Luft, um das, was die Schauspieler sprachen, aufnehmen zu können. Die bewegten Bilder der Gegenwart können sprechen, Annette, sprechende Illusionen, bei denen alles mehr oder weniger Lüge ist. Es gibt in diesem Film eine Szene, in der Luise von Kummerveldt verzweifelt aus einem Fenster des Gartensaales springt. Dann hört man ein Platschen. Natürlich wissen wir, dass unter diesen Fenstern weder eine Gräfte noch ein Teich ist, aber die Zuschauer werden es glauben.

Immer, wenn der Regisseur "Aufnahme" rief, mussten alle still sein, selbst vorm Haus durfte nicht gesprochen werden, denn die Mikrofone haben feinste Ohren, sie können "die Flöhe husten hören". Hat man so etwas zu deiner Zeit auch schon gesagt. Ich "hör' die Flöhe husten"? Gemeint sind damit Menschen, die Dinge vermuten, die noch gar nicht gesagt, aber unausgesprochen im Raum stehen.

Das Filmteam arbeitete bis in den frühen Abend. Erst gegen 20:00 Uhr hatten sie das Haus geräumt, so dass ich abschließen und nach Hause fahren konnte. Es war interessant, ihnen bei der Arbeit zuzusehen. In einer Szene, die letzte des Tages, brauchte man Sonnenlicht auf den Kissen des Bettes im italienischen Zimmer. Weiß du, wie sie das gemacht haben? Sie haben vorm Fenster einen großen Reflektor aufgebaut und ihn mit einem Scheinwerfer angestrahlt, eine Lichtquelle, die Licht bündelt und auf den Reflektor werfen kann. Dieser Reflektor strahlt das Licht durchs Fenster, sodass es auf dem Bett dann so aussieht, als schiene die Sonne hinein. Ach, Annette, und das ist nur eine von vielen Illusionen, die der Film beherrscht. Du kämst aus dem Staunen gar nicht wieder heraus.

Die Geschichte der Luise von Kummerveldt ist übrigens deine Geschichte. Ich nehme an, dass es juristische Gründe gibt, sie nicht "Annette von Droste zu Hülshoff" zu nennen. Zudem hat man sie in die Zeit nach 1871 versetzt, als das Deutsche Reich gegründet worden war und es einen Kaiser gab. Er war Preuße und hieß Wilhelm I.

Innerhalb weniger Tage ist die brütende Sommerhitze in kaltes und regnerisches Wetter umgeschlagen. Die Saison im Rüschhaus neigt sich dem Ende zu. Ich habe noch vier Führungen bis Ende Oktorber, dann wird das Haus bis Ende März geschlossen. Alle erwarten einen schwierigen Winter, denn der Krieg zwischen Russland und der Ukraine tobt noch immer und bewirkt, dass viele Dinge knapp werden, vor allem Öl und Gas, mit dem wir unsere Wohnungen heizen. Aber auch das Holz ist knapp, alles ist irgendwie knapp und die Preise steigen, und ob die Corona-Pandemie, von der ich dir erzählte, nun vorbei ist oder nicht, kann auch niemand mit Sicherheit sagen.

Es bleibt kompliziert, Annette, aber wir verzagen nicht.


PS.

Eigentlich wollte ich nur ein Gedicht über Eichhörnchen schreiben.
Das ist draus geworden.

das eichhörnchen
muss zwei walnüsse tragen
es will sie im garten verstecken
windbräute rauschen im offenen wagen
durch pfützen und pfeifen um ecken
die gräfte grützgrün
der himmel mausgrau
im rüschhaus ein glüh'n
die adlige frau

PPS.

Für 17,50 Euro Stundenlohn als Gästeführer finde ich, dass du zu viel Platz in meinem Leben einnimmst. Ständig lese ich über dich, diskutiere über dich, schule mich. Du bist eine Adelige. Du gehörst zur Upper Class. Du hattest keine Ahnung vom Leben der anderen. Das einzige, was uns verbindet, ist die Sehnsucht nach Anerkennung. Du hattest Verbindungen. Ich hatte nie welche. Manchmal verachte ich dich.


Bis bald

Hermann

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