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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

Annette Brief 51


Liebe Annette,

gestern war ein grausliger Tag. Ich hatte Dienst im Rüschhaus. Ein Kollege und ich waren um halb zehn vor Ort, weil sich eine Gruppe von 35 Menschen angekündigt hatte, die aber nicht auftauchten. Keine Erklärung. Nichts. Um elf führte ich ein Paar durchs Haus, Ammerländer, einfache Menschen mit trockenem Humor, mit denen ich ein gutes Gespräch zustande brachte. Danach war niemand mehr so recht zu begeistern. Die beiden Holländer nicht, weil sie stocksteif und des Deutschen zwar mächtig, aber nicht so mächtig, dass sie meine Geschichten verstanden. Ein Bär mit nichts als Haar um den Kopf und im Gesicht, zusseliges Grauhaar, das in alle Richtungen wucherte, auf dem Kopf ein buntes Käppi, das wie eine verrutschte Krone jeden Augenblick wegzufliegen schien, ein gewaltiger Bauch unterm schmuddeligen Pullover, ein ständiges Zucken seines Kopfes zu rechten Schulter hin, dazu eine Covid Maske, die auf dem Bart lag wie eine seit Wochen nicht mehr gewechselte Decke. Sie gebeugt, in blauem, sich über Bauchwellen und tief hängenden breiten Brüsten spannenden Pullover, zerbeulten Jeans und nach wegzuckendem Blick. Schließlich der Mann, der seinen Hund draußen anband, ein sehr schöner, gut erzogener schwarzer Schäferhund, Herrchen mit einem Dreitagebart im mürrischen Gesicht, bisschen pummelig, rundes Gesicht, zurückgekämmtes Haar, schwarz gekleidet, vor der Brust eine Kamera mit dickstem Zoom, das er auf alles hielt. Gegen eine solche Wand anders gerichteter Interessen und mir fremder, nicht sympathischer Menschen anzuerzählen, ist nicht inspirierend. Wenn zu guter Letzt auch noch eine blonde Frau Anfang vierzig im Türrahmen steht und mich verächtlich mustert, bleiben mir die Worte im Halse stecken.

Die Frau hatte beim Einlass verlangt (nicht gebeten), ich müsse sie umsonst reinlassen, sie habe ein Kombiticket auf der Burg gekauft, aber nicht dabei, das habe ihre Freundin wohl eingesteckt. Sie zeigte mir ein Foto der Burg, um zu beweisen, dass sie gerade daher komme. Oder vertraue ich ihr etwa nicht? Nein sagte ich nicht, aber sie wusste die Antwort auch so, sie musste bezahlen und begann mich zu hassen. So stand sie in der Tür des Schneckenhäuschens, während sich in mir ein schwarzes Loch auftat, mir schwindlig wurde und ich mich setzen musste. Zu wenig getrunken, dachte ich, o Gott, gleich falle ich um, aber dann fand sich ein Wort nach dem anderen wieder ein. Ich hielt die Geschichte kurz, so wie ich sie immer kurz halte, wenn ich auf wenig Interesse stoße, und sie doppelt so lang erzähle, wenn sie auf fruchtbaren Boden fällt, ich erwartete weder Trinkgeld noch sonst etwas, sondern komplementierte die Gäste so schnell wie möglich aus dem Haus, ging in die Küche, trank einen Schluck Wasser, rauchte eine Zigarette und wartete darauf, bis es besser wurde. Zwei Führungen noch, aber angeschlagen, wie ich war, gelang mir nur ein müder Abklatsch dessen, was mir sonst gelingt.

Es gibt solche Tage. Und was dich angeht, Annette, ja, dann und wann verachte ich dich. Du bist Ober- , ich bin Unterschicht, Klassenneid, nennt man das wohl, aber ich kann es nicht ändern, er begleitet mich, und wenn du wüsstest, wie sich die Reichen der Gegenwart aufführen, würdest du mich mit meiner Verachtung vielleicht sogar verstehen, denn so hättest du dich nie aufgeführt. Weißt du noch, wie Jenny und du euch die Mäuler zerrissen habt über die aufgestiegenden Bürger Münsters, die alles versuchten, um es euch in Kleidung und Einrichtung gleichzutun. Es gibt Oben und Unten, Annette. Ich bin unten, aber nicht so weit wie viele andere Menschen. Ich bin nur materiell unten. Ansonsten bin ich unerhört oben. Aber du warst von Anfang an Oben. Du und deinesgleichen haben über Jahrunderte geherrscht, ein Clique miteinander sich verbündender oder bekriegender Fürstenhäuser, denen nichts weiter wichtig war, als ihr eigener Vorteil.

Damit musst du leben, Annette, ansonsten aber nichts für ungut. Ich kann mit dir leben, und letztlich profitiere ich von dir. Ich verdiene 1 Reichstaler pro Stunde. 6 Reichstaler pro Tag. Das kommt dir viel vor? Ist es nicht. Es ist zu wenig, Annette, wir Gästeführer leisten Schwerstarbeit, von uns hängt es ab, ob die Menschen mit den Geschichten über dich und das Haus etwas erleben, oder nur schulterzuckend nach Hause fahren und sagen, dass es sie nicht interessiert hat. Adieu. Morgen oder übermorgen ist der Mond voll. Ich werde die nächste Woche auf einer Insel in der Nordsee verbringen.

 

Bis bald

Hermann

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