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Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

Annette Brief 56

Lieber Hermann

danke für deine Gedichte. Manchmal verstehe ich sie nicht, unsere Welten sind doch wohl zu weit voneinander entfernt, aber ihr Ton macht mir Freude. Dir geht es mit meinen ja ähnlich. Ich denke vor allem an das "Geistliche Jahr", das du den beiden Friesen vor ein paar Wochen im Schneckenhäuschen (ich saß auf der Fensterbank) als einen Gedichtzyklus beschrieben hast, den ich nur geschrieben hätte, um die Großmutter in Haxthausen zu beruhigen. Einerseits stimmt das. Ja, ich musste mich verteidigen, alle hatten Zweifel an meiner Arbeit. Vielen war sie peinlich und insgeheim wäre es allen lieber gewesen, ich hätte mich noch mehr um die Familie gekümmert, als ich es sowieso tat. Ja, ich wollte sie beruhigen. Ich wollte beweisen, dass die geistlichen Jahreszyklen noch Teil meines Jahres waren, wenngleich ich mit ihnen hart ins Gericht ging. Du aber hast sie katholische Alibidichtung genannt hast, das stimmt nicht, und es ärgert mich.

Hör zu:

Ja, selbst zu Nacht, wenn Alle schlafen
Und über mich die Angst sich legt,
In der Gedanken oeden Hafen
Der Zweifel seine Flagge trägt:
Wie eine Phosphorpflanze noch
Fühl ich es warm und leuchtend schwellen
Und über die verstörten Wellen.

Jetzt du mit deinem großen Maul. (smiley) Du und deine großmäulige Welt, in der jedes Wort in Jetztzeit (realtime hieße das, hast du gesagt) auf ein Widerwort prallt und das wieder auf ein weiteres und weiteres undsoweiter. Eure Welt plappert unaufhörlich, aber nichts davon hat festen Boden, nichts steht ihm Leben. Das kann nicht gut gehen. Versteh mich nicht falsch. Ich habe meine Welt beobachtet. Obwohl mich die Natur mehr inspiriert hat, als die sozialen Fragen, war ich dennoch Realist. Mein Wissen musste meinen Glauben töten.

Diese Zweifel beweisen meine Anwesenheit in der Gegenwart. Du kannst dir vorstellen, dass das nicht einfach war. Meine Jahre waren voll unlösbarer Konflikte. Es gab den großen napoleonischen Krieg und die Neuordnung danach. Kirche und Aristokratie mussten Federn lassen, aber die alten Interessen behaupteten sich dennoch. Damals war also gar nichts besser als heute. Aber eurer Welt fehlt der Glaube, selbst der angezweifelte Glaube. Wenn du das "Geistliche Jahr" liest, lass dich nicht von deiner Abneigung gegen die katholische Kirche blenden. Glaube gehört weder ihr noch sonst jemandem. Glaube ist bodenlos.
Er kann glücklich machen und Angst auslösen. Die Kirche hat das mit ihren billigen Versprechungen schamlos ausgenutzt. Du sagst, jetzt liefen ihr die Schafe davon. Das geschieht ihr recht. Ob die Welt ohne Kirche denkbar ist, kann ich nicht sagen, aber ohne Glaube kann sie nicht leben. Und was bliebe? Die Wissenschaft? Lies das geistliche Jahr. Es ist nämlich auch für jene thörichten Menschen, die in einer Stunde mehr fragen, als sieben Weise in sieben Jahren antworten könnten.

Wünsche dir einen schönen Herbst.


deine Annete

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