www.hermann-mensing.de

Hermann Mensing

Briefe an Annette von Droste Hülshoff

Brief 57

Liebe Annette,

fallende, aber kaum wirbelnde Blätter, keine herabgerissenen Äste, der Regen eher feuchte Luft als klatschend. Kaffee steht auf dem Tisch. Ich habe Klavier gespielt. Ich improvisiere über Lieder, die mir gefallen, das hilft, ich werde hörbar besser. In zwei Stunden ist es dunkel. Ich lese, dass alles noch schlimmer ist, als ich dachte, aber in meiner 92m2 Wohnung ist es ruhig. Sitzen mit Licht, Wein und Frau. Muße.

Mein Wohnzimmer. Die Bücherregale. Plattenspieler. Verstärker. - Ja, ich weiß. Plattenspieler: nach dir erfunden. Runde schwarze Scheiben aus Vinyl.... Ach was, ich sollte das nicht erklären, Annette. Stell dir einfach vor, dass wir jederzeit und überall Musik hören können. Sofa, Sessel, kleiner Couchtisch, roter Esstisch, ein Sideboard, in dem Fotoalben und meine Kunstbücher stehen, in die ich nur selten einen Blick werfe. Kunst muss gerahmt oder ungerahmt hängen. Meine Kunst hängt an der Wand. In allen Zimmer hängt Kunst. Die vier Stühle um den roten Tisch sind symmetrisch, aber das Gegenteil von Barock.

Auf meiner Höhe der Straße dominieren spitzgiebelige Einfamilienhäuser mit großen Hintergärten, nach Süden Eigenheime mit flachen Dächern auf der einen und vierstöckigen Wohnblocks auf der anderen Seite. Die Autos fahren zunehmend elektrisch. Von jedem Ort der Welt kann ich jederzeit mit jedem Menschen kommunizieren. Die kleinen Telefone verraten jedem, der über entsprechendes technisches Gerät verfügt, wo ich mich aufhalte. Ich bin überall sichtbar. Wenn in China ein Sack Reis umfällt, weiß ich es. Das tägliche Kriegsgeschrei und die Furcht vor der Klimakatastrophe steckt in allen Köpfen.

Die Seuche hingegen scheint abzuklingen. Was noch vor Monaten kaum denkbar war, ist wieder möglich. Man kann ohne Einschränkungen wieder in Restaurants, Theater und Konaber die Menschen sind zurückhaltend, sie müssen sich an die zurückkehrende Freiheit gewöhnen. Die Seuche hat so vieles verändert. Arbeitsplätze sind weggefallen oder gefährdet. Alles wird teurer, seit ich denken kann, wird alles teurer und die Menschen verarmen. Die Natur ist längst kein surrendes, schnurrendes, brummendes „Krimmeln und Wimmeln“ mehr, unser Raubbau schreitet in einem Maße voran, der jedem klar macht, dass es so nicht weitergehen kann. Politiker treffen sich auf Konferenzen, aber es geschieht nie genug. Immer gibt es Ausreden. Deshalb bewerfen junge Menschen, die sich "Die letzte Generation" nennen, Gemälde in Museen mit Suppe und Brei oder kleben sich auf Straßen fest. Öl, Gas und Kohle werden knapp. Wir müssen sparen, heißt es, also heize ich nur, wenn nötig. Sonst ziehe ich Wollsachen an und setze mir eine Mütze auf. Schlafrock, Kerze, Weihnachtsgebäck, Biedermeier.

Ich nehme einen Teller Karftoffelbrei, werfe ihn gegen mein Lieblingsgemälde und klebe mich an meinem Arbeitssessel fest.
Ich klebe hier, bis Polizisten mich forttragen und Richter mich befragen. Ich werde sagen: ja, Herr Richter, es mag sein, dass man Kunst nicht mit Suppe bewirft oder sich irgendwo festklebt, aber es muss getan werden. Wir brauchen Menschen, die sich nicht fürchten, ausgelacht und verspottet zu werden.

Ich arbeite ohne Federkiel und Papier. Ich sitze vor einem Computer, eine Maschine kaum so groß wie eine Aktenmappe mit Tastatur, über die ich meine Texte eintippe. Die Maschine merkt sich jedes Wort. Meine Arbeit macht einsam, aber ich arbeite gern.

High-Tech Biedermeier.

Dein Biedermeier dekorierte die Unruhen auf dem Weg zur Gründung des ersten Deutschen Reiches. Ich bin gespannt, wohin unseres führt.

Ich wohne in Mittelhaus eines dreiteiligen Wohnblocks, einstöckige Backsteinhäuser mit jeweils vier Wohnungen. Ich habe einen Balkon. Davor ist ein Bürgersteig. Wenn ich die Straße überquere, muss ich achtgeben. Die Autos fahren schneller, als du je gefahren bist. Gegen halb drei habe ich begonnen, dir zu schreiben. Jetzt geht es auf Mitternacht und ich freue mich auf mein Bett. Es steht unterm offenen Fenster. Von dort kann ich Jupiter sehen. Ich mag nicht mehr zählen, wieviel Menschen heute von Raketen (Geschosse, Annette, Kanonenkugeln, die über viele viele Kilometer einen Esel wegschießen können) getötet wurden. Ich zieh mir die Decke über den Kopf. Ich will nichts mehr hören. Ich kenne Gott. Er hat seine Prinzipien. Ich habe meine. Wir sind Freunde.

Gute Nacht, Annette.

Hermann

PS. Die Burg war leer und kalt heute.

nächster Brief