April 2005                                       www.hermann-mensing.de                                

mensing literatur


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Fr 1.04.05 16:55

Man ist weiblich. Man ist eher klein. Auch hässlich. Man hat nicht die Maße, die einen aus jedem Modefoto anspringen. Und man hat keinen Plan. Man weiß nicht, was man tun soll, nachdem man 13 Jahre die Schule besucht hat. Die Welt scheint fern und nicht sehr verlockend. Irgendwie glaubt man, dass man etwas Kreatives tun möchte. Was genau, weiß man nicht. Man lebt in einem protestantisch fundamentalistisch gefärbten Land, das als liberal gilt. Der Hochschulzugang wäre ein Klacks. Also beginnt man ein Studium an einer Kunsthochschule. Da man beim Zeichnen und Malen nie über Pferde mit seltsamen Knien und schelem Blick hinausgekommen ist, und sich die bildhauerischen Fähigkeiten auf tönerne Wale und Kerzenhalter beschränken, beschließt man, sich selbst zum Kunstwerk zu erklären. Wie, weiß man noch nicht. Dann denkt man, man könnte sich fotografieren. Bald merkt man, dass man mit dem Akt Aufmerksamkeit erreichen könnte. Also fotografiert man sich nackt und stellt das Foto an der Hochschule aus. Alle sehen es. Es ist natürlich Schwarz-Weiß. Manche sagen, was hat die für seltsame Brüste. Andere sagen, wie stachelig ihr Schamhaar absteht. Wieder andere finden ihre spitzen Schultern potthässlich. Sie aber sitzt da, abends, gestern, im Bollwerk, in Enschede, in Holland, in diesem von den meisten seiner Liberalität wegen völlig überschätzen Land, sitzt also da, strahlt die Freude einer jederzeit Suizidwilligen aus, und an den Nachbartischen wird über dieses Foto hergezogen. Manche lachen.


Sa 2.04.05   13:57

Er ist etwa 20, trägt ein graues Sweatshirt mit Kapuze und Jeans. Wir treffen ihn auf dem Heimweg. Es ist halb zwei nachts. Er bleibt stehen, wendet sich uns zu und sagt: I am from Germany. I wanted to telephone my parents, but - hier unterbrechen wir und sagen, er solle ruhig Deutsch sprechen. Er erschrickt, macht einen Schritt zurück, dann fängt er sich und erzählt seine Geschichte. Dass er auf Urlaub sei, dass er seine Eltern habe anrufen wollen, aber nicht mehr genügen Geld besäße. Er käme aus Uelzen. Ortsunkundigen sagt das nichts, Uelzen ist eine kleine Stadt in der Grafschaft Bentheim, nordwestlich von Nordhorn, fast schon in Friesland, nicht weit von der niederländischen Grenze. Von Enschede ca. 45 Kilometer entfernt. Nicht einmal tagsüber fahren von Enschede Busse- geschweige denn Züge in diese gottverlassene Gegend. Ich biete ihm mein Handy an. Da ich es nur für Notfälle mit mir trage, muss ich es erst anstellen, und da wir in Holland sind, braucht es eine Weile, eh es sich beim holländischen Netz angemeldet hat. Der Junge wählt, obwohl ich ihm sage, dass es so noch nicht geht und bekommt natürlich keine Verbindung. Ich gebe ihm schließlich zwei Euro, wünsche ihm Glück und sage, dass er, falls er mich gerade getäuscht haben sollte, in der Hölle schmoren werde. Als ich wenig später im Bett liege, stelle ich mir das Gesicht seiner Eltern vor, als er anruft und ums Abholen bittet.


So 3.04.05 16:25

Der Papst ist tot, man hatte gefeiert, hatte die Organe mit diesem und jenem über Gebühr geschädigt, man hatte in fremden Betten geschlafen, war früh erwacht, hatte sich dem allgegenwärtigen Nikotin- und Alkoholdunst schnell entzogen, war ins wundervolle Städtchen W. gefahren, das den zweiten Weltkrieg so gut wie unbeschadet überstanden hat und heute in seiner ganzen kleinen bürgerlichen Pracht strahlt, hatte hier und da geschaut, ob nicht ein vernünftiges Frühstück zu haben sei, war gescheitert, war nach Hause gefahren, hatte auf dem Balkon gefrühstückt, und war dann, so gegen 12:45, zum Mittagsschlaf verschwunden.

Um 12:46 entschloss sich die kräftige Lesbe H., unsere Nachbarin, eine nette Mittdreißigerin, ihre Moto Guzzi aus der Garage zu holen. Wie jeder Motorradfahrer hatte auch sie dem Lockruf der Sonne nicht widerstehen können. Die Guzzi stotterte nach verschlafenem Winter noch ein wenig unbeholfen, die Nachbarschaftskinder hatten sich zusammengerottet, die Frau neben mir, die, als ich der Party längst den Rücken gekehrt hatte, noch geholfen hatte, den Tequilla zu killen, war bereits eingeschlafen. Die Lesbe H. spielte mit den Kindern Fussball, während ihre Guzzi langsam in Takt kam. Alle fanden das toll. Der Neffe F. begann einen Spielteppich zu klopfen. R., die Lebensgefährtin der Lesbe H., zündete ihrerseits eine Guzzi. Der Motor stotterte nach verschlafenem Winter noch ein wenig unbeholfen. Die Kinder spielten lautstark unter unserem Fenster, meine Frau schnarchte, und so wurde es 16:25, eh ich verschwitzt, gerädert und gefährlich gereizt endlich wieder das Bett verließ.

Es war ein fröhlicher Abend, es war eine schöne Nacht, es ist noch ein herrlicher Tag, aber manchmal möchte man schnarchende Frauen mit Kissen zum Schweigen bringen, Lesben mit Motorrädern wünscht man einen schnellen Motorradfahrertod, lärmenden Kindern Hals- und Beinbruch, kurzum, es ist ein herrlicher Tag, was Füße hat, tritt in die Pedale, was gefeiert hat gestern, versucht Schlaf nachzuholen, und wie ich es sehe, gelingt das den meisten, nur mir nicht.

Wie gesagt, der Papst ist tot, man hat lange gesessen und seinen letzten Auftritt diskutiert, man hat sich gefragt, hat man ihn auf eigenen Wunsch ans Fenster gekarrt, war er noch Herr seiner Sinne, als er versuchte, einen Segen zu krächzen, und was war das für eine Sauerei, als dieser Kardinal ihm das Mikrofon vor der Nase weg drehte, so etwas tut man doch nicht. Im Großen und Ganzen aber geht einem der Papst am Arsch vorbei, auch wenn alle Welt behauptet, alle Welt trauere. Mag sie, soll sie, unsereins freut sich für einen Menschen, der endlich unbehelligt das sein darf, was wir alle einmal sein werden, das übrige Gerede lässt uns kalt.

 

Mo 4.04.05 11:55

Babelfish übersetzt:

1.

Ich bin weiblich. Ich bin eher klein. Auch hässlich. Ich habe hat nicht die Maße, die einen aus jedem Modefoto anspringen. Und ich habe keinen Plan. Ich weiß nicht, was ich tun soll, nachdem ich 13 Jahre die Schule besucht habe. Die Welt scheint fern und nicht sehr verlockend. Irgendwie glaube ich, dass ich etwas Kreatives tun möchte. Was genau, weiß ich nicht. Ich lebe in einem protestantisch fundamentalistisch gefärbten Land, das als liberal gilt. Der Hochschulzugang wäre ein Klacks. Also beginne ich ein Studium an einer Kunsthochschule. Da ich beim Zeichnen und Malen nie über Pferde mit seltsamen Knien und schelem Blick hinausgekommen bin, und meine bildhauerischen Fähigkeiten sich auf tönerne Wale und Kerzenhalter beschränken, beschließe ich, mich selbst zum Kunstwerk zu erklären. Wie, weiß ich noch nicht. Dann denke ich, ich könnte mich fotografieren. Bald bemerke ich, dass ich mit einem Akt Aufmerksamkeit erreichen könnte. Also fotografiere ich mich nackt und stelle das Foto an der Hochschule aus. Alle sehen es. Es ist natürlich Schwarz-Weiß. Manche sagen, was hat die für seltsame Brüste. Andere sagen, wie stachelig ihr Schamhaar absteht. Wieder andere finden meine spitzen Schultern potthässlich. Ich aber sitze da, abends, gestern, im Bollwerk, in Enschede, in Holland, in diesem von den meisten seiner Liberalität wegen völlig überschätzen Land, sitze also da, strahle die Freude einer jederzeit Suizidwilligen aus, und an den Nachbartischen wird über dieses Foto hergezogen. Manche lachen.

13:41

Unglaublich, aber er funktioniert noch immer: der strahlende Tag.
Derweil sitzt Meister M. vor seinem neuen Roman (nichts Ungewöhnliches also), starrt auf Seite74 und fragt sich, wie es weiter geht. Alles ist so normal, wie es nur sein kann. In wenigen Augenblicken wird M. aufstehen, sich eine leichte Jacke überwerfen und spazieren gehen.

 

Di 5.04.05   8:32

Der Brite hätte eine Beschreibung für meinen Zustand. Er würde sagen, "he is shit-scared". Seit einer Woche schaltet der Verlag, bei dem ich Mein Prinz veröffentlicht habe, große Anzeigen in der verlagseigenen Tageszeitung, die auf meine Lesung am 6.04. hinweisen.

Ich habe die Lesung selbst organisiert. Der Verlag meinte, er könne so etwas nicht stemmen, was seltsam ist, wenn man bedenkt, dass man doch am Markt ist, um Bücher zu verkaufen. Ich habe also einen Raum angemietet - den Zeitungslesesaal der Stadtbücherei. Beste Location. Ich habe mir einen Block Eintrittskarten gekauft. Siegel Nummernblock GN 110 - 100 Abrisse Nr. 1-100. Meine Frau wird die Kasse machen. Wir haben darüber gesprochen, wer umsonst rein darf und wer nicht. Eigentlich müssen alle bezahlen, nur die Familie nicht.

Ich werde morgen ab 19 Uhr anwesend sein, um den Raum zusammen mit dem Hausmeister herzurichten. Ich werde also die letzte Stunde vorm Auftritt mit Stühleschleppen etc. verbringen. Nicht, dass ich das unfein fände, im Gegenteil, ich schätze, es bringt mich auf die entspanntere Seite, aber natürlich ist das nicht die feine Art des örtlichen Literaturvereins, der seine Autoren vor der Lesung mit Riesling in Stimmung zu bringen versucht.

Shit scared bin ich. Gespannt, ob die massive Werbung sich in Zuhörerzahlen niederschlägt. Schön wäre das. Andernfalls werde ich zusetzen, denn Miete plus Hausmeister kosten 110 Euro. Gespannt bin ich auch, wer da sitzen wird.
Grauwacke, wie Rühmkorf seine Zuhörer nach einer Lesung einmal nannte?

Es ist also spannend und ich liebe Spannung.
Ich werde versuchen, so zu lesen, wie ich vor Kindern lese.
Ich werde mich reinhängen, auch auf die Gefahr, dass mir die Prothese verrutscht.
Also Freunde, Neider, Besserwisser, nicht vergessen:

Mittwoch 6. April 20 Uhr Eintritt 5 Euro.
Lesung aus Mein Prinz

Zeitungslesesaal der Stadtbücherei Münster

14:39

Versöhnende Idee meines ältesten Sohnes.

Bild schreibt, die Polen wollen das Herz des Papstes haben, um es in Krakau zu beerdigen.
Mein Vorschlag: Der Papst wird total zerhackt, und jedes Land auf der Welt, in dem es Katholiken gibt, darf ein Stück haben. Wahrscheinlich läuft es eh darauf hinaus, wenn die geschätzten zwei bis drei Millionen Pilger in den nächsten Tagen am Papst vorbeigehen und sich alle ein kleines Stück abbrechen. Als Souvenir.

17:35

Kleiner E-Mail-Verkehr unter Freunden:

Dear Friend,

My name is SALIM IBRAHIM a merchant in Dubai, in the U.A.E.I have been diagnosed with Esophageal cancer. It has defiled all forms of medical treatment, and right now I have only about a few months to live, according to medical experts.
I have not particularly lived my life so well, as I never really cared for anyone (not even myself) but my business. Though I am very rich, I was never generous, I was always hostile to people and only focused on my business as that was the only thing I cared for. But now I regret all this as I now know that there is more to life than just wanting to have or make all the money in the world.
I believe when God gives me a second chance to come to this world I would live my life a different way from how I have lived it. Now that God has called me, I have willed and given most of my property and assets to my immediate and extended family members as well as a few close friends.
I want God to be merciful to me and accept my soul so, I have decided to give also to charity organizations, as I want this to be one of the last good deeds I do on earth. So far, I have distributed money to some charity organizations in the U.A.E, Algeria and Malaysia. Now that my health has deteriorated so badly, I cannot do this myself anymore.
I once asked members of my family to close one of my accounts and distribute the money which I have there to charity organization in Bulgaria and Pakistan, they refused and kept the money to themselves. Hence, I do not trust them anymore, as they seem not to be contended with what I have left for them.
The last of my money which no one knows of is the huge cash deposit of (Twenty million five hundred thousand u.sdollars) that I have with a finance/Security Company abroad. I will want you to help me collect this consignment and dispatched it to charity organizations.
I have set aside 15% for you.

God be with you SALIM IBRAHIM

Dear Mr. Ibrahim,

I am so sorry to hear, that you suffer from cancer and have always been a bad man, not caring for your family and others but only for your business. You must know that I am a German Writer who writes Books for Children, which is - business-wise - not a very profitable occupation. I can understand your problem and would advise, you take a gun and shoot. Maybe you start with your balls, that would hurt much, but keep you alive for a while. Then start shooting slowly upwards.
As far as your money goes - stuff it up your ass, if you can.

Your's sincerly

H.M.

Mi 6.04.05 12:51

Saß noch spät gestern, probte für meinen Auftritt, hatte mir "langsam Hermann" alle fünf Seiten in Mein Prinz diktiert, saß also in der Sofaecke, hatte ein Glas Wein, hatte etwas zu rauchen und las. Versuchte jedes Wort abzuschmecken und merkte, dass ich im Vergleich zum Mittag, als ich schon einmal Probe gelesen hatte, viel besser war. Ich wusste, woran es lag, also schrieb ich "noch langsamer" in mein Leseexemplar, das später einmal, wenn ich - na, Sie wissen schon - viel Geld wert sein wird.

Irgendwann nach Mitternacht kam mein jüngster Sohn ins Zimmer. Ich dachte, vielleicht will er fernsehn, mir hätte es nichts ausgemacht, in der Küche zu proben, also fragte ich, aber er wollte nicht. Ich las weiter. Er hörte zu. Stand mit dem Rücken zu mir in der geöffneten Balkontür und hörte zu. Ging irgendwann fort, und ich dachte, nun gut, es reicht ihm, und las weiter, aber dann kam er zurück. Er hatte sich nur einen Pullover geholt. Ich strengte mich an. Ich glaube, wenn ich heute Abend nur halb so gut bin, wie ich letzte Nacht war, bin ich auf der sicheren Seite. Sollte es also gut gehen, nachher, werde ich mich belohnen, nach Enschede fahren und die Djembe kaufen, die ich letzte Woche dort sah.

 

Do 7.04.05   9:52

Hoch Freunde, pappt die Prothesen fest, es sollte gelesen werden und es wurde gelesen. Dem Vertragenden standen nach wenigen Sätzen Flocken trockenen Schaums vorm Mund, aber er sah jeden seiner 31 Zuhörer, den einen wie den anderen, er las und las, beobachtet, beneidet, von allen Seiten beäugt, nur keine Blöße zeigen, ein Lächeln höchsten und nachher vielleicht noch Fragen? Bleib ich doch lieber der Kapser für Kinder?
Alle Bücher (20) wurden verkauft.
Heute fühlt man sich matt, als wäre man weite Wege gegangen.

15:11

Frühlingswind jagt übers Land. Der jüngste Sohn hat die erhoffte Lehrstelle nicht bekommen. Nichts geht ohne Beziehungen. Wir brauchen Mut jetzt.

20:44

Fotos von gestern.

Fotos © 2005 Jan M. Mensing

 

Fr 8.04.05 9:22

Eh ich gleich zur Beerdigung gehe (ich sitze in der zweiten Reihe neben Brasiliens Präsident da Silva, neben Finnlands Matti Vanhannen, vor mir Chirac, ein wenig weiter rechts George W. Bush) möchte ich noch kurz berichten, wie interessant es manchmal ist, dem Leben vom Fenster aus zuzuschauen.

Ich tat das vorhin, es war früh und ich war noch nicht recht bei mir. Auf dem Gehsteig stand ein Mann meines Alters. Er zog ein großes Stofftaschentuch aus der Hosentasche, spannte es zwischen beiden Händen und starrte hinein. Wendete es, starrte wieder hinein, schien eine geeignete Stelle gefunden zu haben und putzte sich die Nase. Dann lief er - das Taschentuch betrachtend - zögernd weiter. Unter der japanischen Kirsche vor unserer Küche war er derart überwältigt, dass er stehenbleiben musste, um nach weiteren Beweisen seiner Reinigungsaktion zu schauen.

Ich nehme er, er kommt nicht zur Beerdigung. Ich jedoch muss mich beeilen. Die Sicherheitsvorkehrungen sind strikt, wer zu spät kommt, darf nicht mehr hinein, zum Glück bin ich akkreditiert und werde erwartet. Ich wünsche also allen Fernsehzuschauern eine bewegende Zeremonie und werde Ihnen, wenn möglich, verstohlen zuwinken. Sie sehen mich dann schon.

13:18

Prächtige Farben, edle Materialien, Seide, bestickter Brokat, Hüte und Mützen in allen denkbaren Formen, eckig, spitz, rund, Kappen, die Ohren bedecken, Kappen, die Ohren freilassen, Kapuzen, protzige Ringe an Männerfingern, gestutzte und wild wuchernde Bärte, Potentaten, Kriminelle, Scheichs, Kanzler und Präsidenten aus aller Herren Länder, sie alle waren gekommen, um dem Papst die letzte Ehre zu erweisen. Ich war beeindruckt vom Volk. Offenbar hat es ihn wirklich geliebt. Ich liebe ihn nicht. Mir hat er nur einmal imponiert: als er sich gegen den Irak-Krieg wendete, als er sagte, jeder Krieg sei ein Scheitern der Menschheit.

14:11

Eine der beiden Frauen ist unsere Nachbarin, hochschwanger, bis zum Stehkragen voller Neurosen, die u.a. dazu geführt haben, dass ihr Mann sich eine eigene Wohnung nehmen musste, weil sie es nicht ertrug, wenn er in der Nähe war. Auch Freunde durfte er nicht einladen. Niemand sollte die Wohnung betreten. Die andere, eine Frau etwa gleichen Alters und sie, stehen auf dem Bürgersteig vor unserem Balkon und sprechen miteinander, während ihre gleichaltrigen Söhne (ca. 5-6 Jahre) unsere Katze jagen. Die flüchtet auf den Balkon. Einer der beiden folgt ihr ins Blumenbeet unterm Balkon und verhöhnt das Tier. Ich bin im Wohnzimmer, als das geschieht. Ich öffne die Balkontür und maßregele ihn. Er steht da und macht mir lange Nasen. Seine Mutter greift zu keiner Zeit ein, sie versucht einfach, wegzuschauen. Ich möchte nicht in der Nähe sein, wenn Kinder, auf die so reagiert bzw. eben nicht reagiert wird, in die Pubertät kommen. Erwarten Sie also nichts.

17:48

Wir sind stumme Zeugen böser Taten (...), wir sind mit vielen Wassern gewaschen, wir haben die Kunst der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wir sind durch Erfahrung misstrauisch gegen die Menschen geworden und mussten ihnen die Wahrheit und das freie Wort oft schuldig bleiben, wir sind durch unerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch geworden - sind wir noch brauchbar? (1)

 

Sa 9.04.05 11:55

Man spricht gern über Effizienz.
Geschäftsabläufe sollen geplant sein.
Professionelle Mitarbeiter werden gefordert.
Hier nun ein leuchtendes Beispiel für Professionalität und Effizienz.

Der Verlag, der Mein Prinz verlegt hat, ist Teil eines Medienkonzerns, der eine große regionale Tageszeitung herausbringt. In dieser Tageszeitung wurden im Vorlauf zu meiner Lesung am 6.04. an vier Tagen 19x26 cm große Anzeigen geschaltet. Headline: Autorenlesung. Bild. Kurze Inhaltsangabe und dann etwas reißerisch: H. Mensing liest aus seinem Erfolgsroman. Letzteres fand ich peinlich, denn da klaffen Realität und Wunsch auseinander. Im Übrigen aber war ich beeindruckt. Ich dachte: mein lieber Mann. Dann dachte ich an mein Honorar und rechnete mir aus, dass es besser gewesen wäre, man hätte den Gegenwert der Kosten für die Anzeigenserie gezahlt, als das Honorar, das ich erhielt. Ich wäre damit weitaus besser gefahren. (siehe Anzeigenliste).

Als ich aber nun las, war von eben jener Zeitung bis auf Frau. H., die die Anzeigen entworfen hatte, niemand da, der über die Lesung hätte berichten können. Auch von der anderen Tageszeitung war niemand gekommen. Frau H., die wohl Fotos machen sollte, konnte mit ihrer Digitalkamera nicht umgehen, was dazu führte, dass ein Foto meines Sohnes in der Zeitung abgedruckt wurde.

Ich habe schon oft erlebt, dass Lesungen von unerfahrenen, naiven Praktikanten besprochen wurden, man stellte mir Fragen, die jeder Beschreibung spotteten (Kategorie: ist das ihr erster Roman), das alles lässt sich mit enger Personaldecke und Kostendruck notdürftig erklären, aber ich verstehe nicht, wie man einen Roman verlegen, eine aufwändige Anzeigenserie schalten, dann aber nicht inhaltlich über das Ereignis berichtet. Ich kapiere das nicht. Ich finde, das grenzt an Dummheit.

 

So 10.04.05 16:41

Wir parken vorm Super-Biomarkt, die Lücke ist klein, ich stelle den Motor ab, zwänge mich, weil nicht viel Spiel bleibt, die Tür zu öffnen, hinaus, und sehe eine alte Frau auf dem Bürgersteig. Sie trägt einen Trainingsanzug aus Ballonseide, taubenblau ist er, sie ist zierlich, hat schulterlanges, schwarz gefärbtes Haar, links und rechts ihres Mittelscheitels wächst es zentimeterlang grau. Auf den ersten Blick wirkt sie heruntergekommen, ein wenig verrückt vielleicht. Sie hat einen schwarzen, dackelgroßen Hund an der Leine, eine Mischung zwischen Schnauzer und Rauhaardackel. Er wedelt uns an, als wir an ihm vorbei gehen, um die Straße zu überqueren. Ich beuge mich zu ihm und kraule ihn unterm Kinn. Die Frau sagt, ach, er mag sie. Sonst habe ich immer Kinder, die einen Moment auf ihn aufpassen, wenn ich einkaufen gehe. Heute nicht. Wenn Sie wollen, passe ich auf ihn auf, sage ich. Wie lang wird es denn dauern? Wir wollen in der Eisdiele einen Kaffee trinken. Ich bin gleich wieder da, sagt sie, wenn Sie so nett wären? Ich nicke und schon haben wir für die nächsten fünfzehn Minuten einen Hund, Axel. Als seine Besitzerin geht, will er hinterher, bellt. Wir sagen, komm Axel, Frauchen kommt gleich wieder, bleib mal bei uns. Wir überqueren die Straße, Axel folgt. Wir setzten uns an einen Tisch auf der Terrasse der Eisdiele und bestellen Cappucino. Axel schaut ein wenig verloren in die Richtung, in der sein Frauchen verschwand. Als wir ihm aber ein Stück Waffel anbieten, scheint sie vergessen. Er sitzt ruhig neben uns, hat diese bernsteinfarbenen Augen und drahtiges Fell, wenn wir Sitz sagen, setzt er sich. Sein Glück, als Frauchen wiederkehrt, ist offensichtlich, aber nicht überschwänglich.

 

Mo 11.04.05 11:34

Heute nur dies.

 

Di 12.04.05   14:00

Ich sehe einen langen, engen Tweedrock. Er ist hellgrau. Unterm Rock schaute eine blonde Rute hervor, wedelnd. Die Person (eine Frau, groß, denke ich) sehe ich oberhalb ihres Rockes nicht. Da verwischt das Bild. Typisch für Trugbilder. Ich liebe diese Alltagshalluzinationen. Sie sind überall, sie gaukeln merkwürdigste Dinge vor und lösen sich immer banal. In diesem Fall verschmolz das Grau eines Telekom-Verteilerkasten mit der Rute eines Münsterländers, der wohl allein unterwegs war.

 

Mi 13.04.05   11:26

Als wir vorletzte Woche bei den Nasenbären im Zoo standen und zuschauten, wie sie die schwarze Erde mit ihren spitzen langen Nasen nach Essbarem durchpflügten, sagte ein Mann neben mir: "Da bin ich aber froh, dass wir die Schaufel erfunden haben."

16:18

Täglich wird im Augenblick an das Ende des zweites Weltkrieges erinnert. Zeitzeugen kommen zu Wort und man fragt in diesem Zusammenhang auch, ob Deutsche trauern dürfen, wo sie doch Verursacher waren. Auf die Spitze getrieben hieß es heute, dass man sich frage, ob die eigene Trauer über erlittene Verluste im Hinblick auf den Holocaust nicht zurückstehen müsse.
Ich leide, seit ich denken kann, an der Hinterlassenschaft des faschistischen Grauens und habe die Nase davon längst voll. Der Mensch muss vergessen. Verwehrt man ihm das, arbeitet die Verdrängung kontraproduktiv. Die Nazis der Jetztzeit profitieren davon. Sie profilieren sich als Opfer. Sie nutzen die Diskussion, an die (wie der französischer Komiker Dieudonné es nennt) "jüdische Erinnerungspornographie" für ihre Propaganda. Um dem begegnen zu können, muss Aufklärung sein. Aufklärung und Vergessen.
Vergessen ist Bestandteil menschlicher Kultur.
Täter sind überall. Seit es Menschen gibt, gibt es Täter.
Täter sind nicht nur deutsch, Opfer nicht nur jüdisch.

 

Do 14.04.05   10:26

Setzte mich gestern Abend aufs Rad, fuhr durch den Brock, ein für diese Gegend recht großes, zusammenhängendes Waldgebiet, das den Hülshoffs gehört und besuchte B., der Spezialist für Trommeln aller Art ist. Er arbeitet als Goldschmied. Ich wollte seinen Rat wegen der Djembe, die ich in Enschede gesehen hatte. Ich wollte ihn bitten, mit mir dorthin zu fahren und sich die Trommeln anzuschauen.

Als ich ihm davon erzählte, sagte er, dass die Spannseile, mit denen man das Fell der Djembe stimmt, sehr lästig seien. Eh man die aufgeknüpft und neu verspannt habe, vergingen Stunden. Zudem müsse ich wissen, dass die Djembe sich in diesen Breiten sehr leicht verstimme. Ihr Fell, ein Ziegenfell, sei äußerst dünn und anfällig. In Afrika lagere die Djembe abends in der Nähe des Feuers, tagsüber sei es warm, dort habe man dieses Problem nicht. Zudem seien Djembes oft schlecht verarbeitet. Die oberen Ränder seien nicht gerade geschliffen, oft fänden sich Grate, was dazu führe, dass das Fell reiße.
Er besitzt eine Djembe, die er umgebaut und mit Spannreifen und Schrauben versehen hat, so dass er sie wie eine Conga stimmen kann. Ich spielte sie und war hellauf begeistert. Knochig am Rand, mit den Finger zu spielen, tief und nachhaltig im Bass, mit den Handballen in der Mitte des Fells gespielt. Wunderbar.
B. sagte, es gäbe mittlerweile gute Djembes aus westlicher Produktion. Nicht aus Holz, nicht mit der Hand gearbeitet, mit Spannreifen- und Schrauben, dennoch mit den Klangeigenschaften guter Djembes.

Fuhr bei einsetzender Dämmerung über Land zurück. Sah Rehe, einen Kauz, einen Hasen, Fasanen, die Vögel sangen ihre Abendlieder, war restlos begeistert über dieses wunderschöne Land.

11:44

Wurde gestern und heute sechsmal gebucht. Langsam läuft das Geschäft wieder an.

 

Fr 15.04.05 9:44

Ich lese in der FR, der Kriegskinder Kongress habe mit jüdischem Widerspruch begonnen. Angesichts des üppigen Programms habe sich Herr G. von der Jüdischen Gemeinde Frankfurt gefragt, "wo denn eigentlich die Holocaust Kinder bleiben." Man habe die Juden "abgedrängt", er selbst, sagte G., verspüre in diesem Zusammenhang ein "Unbehagen". Fur Juden sei es "töricht und verletzend", wenn man jetzt sage "nun sei es auch mal Zeit für die Erinnerung an andere Opfer." Der Holocaust bleibe singulär. "Wir wollen keinen Wettbewerb der Opfer haben", hob G. hervor, "aber Gleichmacherei darf nicht sein."

Ziehen Sie ihre Schlüsse.

11:15

Mir kommt es manchmal so vor, als sei Normalität im Verhältnis zwischen Tätern und Opfern (s.o.) gar nicht erwünscht.

17:56

Statt mich über Verlautbarungen eines Vertreters der jüdischen Gemeinde Frankfurt zu ärgern, habe ich mich an die Korrektur meines Gruselromans gemacht. Habe gestrichen, geschleift, verstärkt und bin nun, nach fast acht Stunden, fertig. Werde ihn morgen ausdrucken, lesen und für gut oder misslungen befinden.

 

So 17.04.05   12:58

Es ist Sonntag. Beide Söhne sind im Hause. Der Älteste liegt in der Wanne. Der Jüngste ist in seinem Zimmer. Ich sitze im Wohnzimmer. Ein untersetzter mittelgroßer Mann um die dreißig torkelt heran. Bleibt unter unserem Küchenfenster stehen. Fixiert die japanische Kirsche, nestelt an seinem Hosenschlitz, sucht sein Geschlecht, findet es, torkelt näher und erleichtert sich.
"Schaut euch das an!" rufe ich.
Der Jüngste kommt ins Wohnzimmer und empört sich.
"Dieser Hurensohn", schreit er und will auf den Balkon.
Ich sage, "lass ihn, der ist doch bewusstlos."
Der Jüngste steigert sich in Raserei, die in dem unausgesprochenen Tenor gipfelt, wir seien liberale Scheisser. Ich versuche einzuwenden, dass ich so etwas normalerweise nicht dulde, diesmal aber mit angewiderter Belustigung registiert hätte.
"So einer gehört angezeigt", sagt er. "Oder fändest du es witzig, wenn ich jetzt fünf wäre und den sähe?"
"Nein", sage ich. "Natürlich nicht."
Wir geraten in ein Wortgefecht.
"Wenn du dich so entrüstest", sage ich schließlich, "was ist mit diesem Arschficksong von AGRO Berlin?"
Das wäre etwas anderes, sagt er.
Die Stimmung für den Sonntag ist im Eimer.

"In dieser Stimmung sah er nichts anderes als gegen Hauswände pissende Männer. Sah zertretene Bierdosen und übers Pflaster verschmierten Hundekot. (...) Ekelhaft. Alles nur ekelhaft." (2)

 

Mo 18.04.05   10:15

Alle Kunst muss vor dem, was der Fall ist, zurückstehen.
Alle Kunst ist nichtig im Anblick des Lebens.
Alle Kunst ist lebensergänzende Unterhaltung.

AMEN

18:45

Erfuhr gerade, dass ich Papst werden soll.
Eile umgehend nach Rom, kenn mich da ja aus.

 

Di 19.04.05   10:05

Heute vermisse ich meine Eltern. Auch möglich, dass es das Ritual ist, das mir fehlt, eins, das mich einmal pro Woche über Land nach Westen hat fahren lassen, über das grünende Land. Staunend führe ich, voller Begeisterung über die Pracht. Wieder sind wir verschont worden. Wieder hat sich die Natur stärker als unsere Zerstörungsversuche erwiesen.
Im alten Bett, oben im 1. Stock, liegt der Vater. Hat sich eingenässt. Schämt sich. Müsste rasiert werden. Flucht nur. Will, dass es vorbei ist. Ich lege mich neben ihn, streiche ihm über den Kopf und sage, er soll nicht so brummen.
Unten krebsen die alten Frauen - Mutter und Tante.
Die Mutter liegt. Die Tante hilft, wo sie kann. Aber lange kann sie nicht mehr.
Heute bin ich ihr Kind. Heute sitzen sie neben mir. Heute sind sie stolz auf mich. Heute haben sie mir und ich ihnen vergeben. Ich könnte in ihrer Asche rühren. Ich hab noch ein wenig. Ich könnte sie beschuldigen. Könnte alles aufrechnen. Rechne alles auf. Aber das führte zu nichts.
Deshalb bleibt es dabei. Wir haben vergeben. Wir lieben - wenn auch ein wenig spät.

16:55

Landregen.
Die japanische Kirsche leidet.

 

18:30

Zitze Zatze Zatzinger
Ich heiße Joseph Ratzinger
Hab nie gepimpert
Nie geliebt
Ein Glück, dass es den Herrgott gibt.

 

Mi 20.04.05 9:33

Deutschland größter Hersteller für Texte Mensing will die Kosten deutlich senken und schließt dabei unrentable Produktionsbetriebe. Schwarze Zahlen will der durch Zukäufe rasch gewachsene Textriese spätestens 2007 schreiben. 2005 wurden bereits die Schreibwerke in Wittenberg (Sachsen-Anhalt) und Brinkum (Niedersachsen) geschlossen. Allein davon wurden 400 Schreiber betroffen.
Firmengründer Mensing eröffnete 1984 sein erstes Schreib- und Textwerk.
Was danach folgte, wird unter Branchenkennern als "Schreib-Wahn" bezeichnet.
Mensings Umsatz lag in den ersten drei Monaten dieses Jahres mit 5,3 Milliarden Euro vier Prozent über den Erlösen ein Jahr zuvor, er verdiente jedoch eine Milliarde Euro weniger als im Vorjahr. Das soll sich ändern.

15:27

Ich beende meine Karriere, stecke den Kopf in den Sand, tu so, als hätte es nie Hoffnung gegeben, verbrenne alle Manuskripte, auf dass nichts der Nachwelt erhalten bleibt, worüber sie sich das Maul zerreißen könnte, formatiere meine Festplatte neu, tilge jede Spur und verschwinde.
Werde wieder das, was ich vorher war: ratloser Wanderer ohne Ziel. Ohne Einkünfte.
Schreibe mir hinter die Ohren, dass es Wertschätzung geben mag, dass aber der Kapitalist sich davon nichts kaufen kann. Dass alles zu Ende ist, wenn der Kapitalist seine Bücher prüft und feststellt, dass aus einem wie mir nichts mehr heraus zu pressen ist.
Dass man es mit mir versucht hat.
Dass man mir eine Chance gegeben hat schreibt man sich auf seine Fahne.
Man lässt mir Trost zukommen, sagt, dass man sich eines Tages damit brüsten werde, "der hat bei uns angefangen".
Eigentlich müsste sich der Himmel verdüstern. Es müsste auf der Stelle zu regnen beginnen.
Aber die Sonne scheint.
Ich werde dieses Stimmungstief, hervorgerufen durch ein kurzes Telefongespräch, in wenigen Minuten abhaken, mich auf den Balkon setzen und dem Kapitalist das wünschen, was ich ihm schon immer gewünscht habe.
Den Sozialismus emanzipierter Menschen, die ihre Rechte und Pflichten anerkennen, die der Welt Gutes tun, statt sie auszubeuten bis zur letzten Minute.
Amen.
Ihr werdet noch von mir hören!

 

Do 21.04.05   10:46

Es schellt Alarm.
Ich rufe "ja, ja, komme schon", eile zum Türsummer, drücke, höre, dass die Haustür auffliegt, öffne die Wohnungstür und schaue hinaus. Ein junger Mann jagt die Treppe hoch, Türke, Kurde, Araber vielleicht, und fragt, ob ich ein Paket für die Nachbarn über uns annehmen könne.
Immer fragen sie das, alle schellen bei mir, und nur, weil wir die unterste Klingel habe.
Ich habe Böses auf der Zunge, kann mich gerade noch retten, wir wechseln kein Wort mehr, ich unterschreibe, er dreht auf dem Absatz, rennt aus dem Haus, überquert die Straße und jagt mit seinem Sprinter davon. Halbwahnsinnige, diese Auslieferungsfahrer privater Courier-Dienste, immer in Zeitnot, getrieben, womöglich als Ich-AG unterwegs.
Bravo, möchte der zurückgezogen lebende Ex-Schriftsteller M. rufen, genauso soll es sein, jeder soll bis an den Rand der Erschöpfung arbeiten, arbeiten und noch einmal arbeiten. Kein Wort soll mehr gewechselt werden zwischen den Delinquenten, jeder ist seines Glückes Schmied, etc. pp. trärääää, der globale Shareholder-Kapitalismus stampft alles in Grund und Boden.

Guten Morgen liebe Konsumenten,
es wird Zeit, dass Sie Ihren Konsumentenarsch in Bewegung bringen. So viele schöne nutzlose Dinge stehen überall mit Strichcodes versehen herum. Schieben Sie einfach Ihre Visa-Karten in unsere Lesegeräte, wir werden uns dann schon einig.

16:51

Aber es gibt auch Schönes. Heute etwa ließ ich in der Werkstatt meines Vertrauens Winter- gegen Sommerreifen wechseln und bat, mein Radio, das in der vergangenen Woche plötzlich eine übel riechende Rauchwolke ausgestoßen und sich dann verabschiedet hatte, auszubauen, und - falls vorhanden - ein gebrauchtes einzubauen. Wieviel das kosten dürfe, fragte man. Ich sagte, maximal 50 Euro.
Gerade holte ich unser Auto ab. Tatsächlich hat man mir ein Radio eingebaut. Eines, das viel besser ist, als mein altes. Als ich fragte, wieviel das kosten solle, sagte man mir, das sei geschenkt.

 

Fr 22.04.05   16:20

Habemus Roman. Der verfluchte Fluss.

 

Sa 23.04.05 12:15

Der Himmel ist strahlend blau. Was immer summen und fliegen kann, summt und fliegt. Was blüht, blüht. Was grünt, grünt. Der Dichter leidet trotzdem an Lampenfieber. Gleich wird er sein Auto starten und nach Bochum Wattenscheid fahren. Der Tag ist nämlich nicht nur strahlend blau. Er ist auch der Tag des Buches, möglicherweise sogar der Welttag des Buches.
Um 15 und 17 Uhr wird er dort vor entfesseltem Publikum lesen.

Die Veranstaltung findet im Martin Luther Haus statt.
Der Dichter kennt derartige Häuser.
Als junger Mann hat er in Martin Luther Häusern oft Beat-Bands gehört.
Sie hießen Les Copains, The Lightnings oder ähnlich.

In Martin Luther Häusern riecht es nach Bohnerwachs. In Martin Luther Häusern büsst der Protestant.
Wenn der Dichter (ein Ex-Protestant) alles über die Bühne gebracht hat, wird er von Bochum direkt in seine Heimatstadt Gronau fahren.
Dort war er schon gestern, hat die perfekt spielende Bill Evans Band gesehen (am Bass Victor Bailey), und im Anschluss daran Colosseum mit dem Sänger Chris Farlow, den er schon immer einmal hatte sehen wollen.
Beide Bands waren langweilig. Jede auf ihre Art. Bill Evans als Perfektionist, Colosseum als Wiedergänger einer Musik, die dreißig Jahre später nur noch Gähnen hervorruft.
Heute abend wird Marcus Miller dort spielen.
Der Dichter fürchtet, dass es ihm ähnlich gehen wird, wie mit Bill Evans.
Höchste Perfektion an allen Instrumenten. Es gibt nichts Langweiligeres als Perfektion.

Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend verurteilen, deshalb
kommet, Verehrer des Buches (angeblich ist ausverkauft, sagt die Veranstalterin), kommet und jubelt dem Dichter zu, der nach Klärung der Kleiderfrage gleich die Prothese einsetzt, damit er nicht nicht wie ein Tattergreis wirkt, wenngleich vieles in und an ihm auf seine baldige Zugehörigkeit zum Reiche der Tatternden spricht.
Für heute hat er sich vorgenommen, jede Endung zu sprechen, komme, was wolle.

 

So 24.04.05   12:35

Ich hatte die A 40 in Wattenscheid kaum verlassen, als ich die ersten Polizisten sah. Kampfbereit. Ich hätte links abbiegen müssen, um zum vereinbarten Ort zu gelangen, aber dort war kein Durchkommen. Auch Polizei. Also überquerte ich die Bahnhofstraße, fuhr rechts heran und fragte einen Polizisten, wie ich denn nun zum August Bebel Platz gelangen sollte, aber er wusste es nicht. Schauen Sie auf mein Nummernschild, sagte er. Er kam aus Dortmund.
Was denn eigentlich los sei? fragte ich. Demo! antwortete er.

Ein zweiter Polizist erklärte mir den Weg. Ich fuhr wie beschrieben, schaute an roten Ampeln auf meinen Stadtplan und bog schließlich in die Poststraße, eine Sackgasse, direkt hinterm August-Bebel-Platz. Dreißig, vierzig Männer und Frauen lungerten auf den Bürgersteigen herum. Junkies? Alkoholiker, wie ich später erfuhr. Mit leichtem Unbehagen parkte ich meinen Wagen und ging zur Buchhandlung, wo ich verabredet war. Die Buchhandlung war geschlossen!

Mit einem Mal schien sich zu bestätigen, was seit meinem ersten Kontakt mit der Buchhändlerin in meinem Hinterkopf nie ganz still gewesen war. Sie redet viel, aber man kann ihr nicht trauen. Gespeist worden war dieses Misstrauen durch die Tatsache, dass sie mehrfach versprochen hatte, mir Fotos von Veranstaltungen, bei denen sie den Büchertisch gemacht hatte, zu schicken. Ich hatte sie nie bekommen. Sofort fiel mir ein, dass es für die gestrige Veranstaltung nur mündliche Absprachen gab.

Ich rief sie auf ihrem Handy an. Die Mailbox meldete sich. Jetzt war alles klar. Sie hatte mich verladen. Typisch rheinische Schwätzerin! dachte ich. Sehr freundlich, aber eben keine Westfälin. Ich versuchte, sie im Laden anzurufen. Ich dachte, vielleicht ist sie im Lager, aber meine TD1-Extra-Card war leer. Also machte ich mich auf den Weg, um sie irgendwo aufzuladen.

Der August-Bebel Platz ist trostlos. Die ihn säumenden Häuser sind bis zu 10stöckige Plattenbauten. Mitten auf dem Platz ist eine Straßenbahnhaltestelle. Dort wurde gebaut. Ich fand einen Automaten, lud mein Handy auf und ging zurück zum Buchladen.

Die Buchhändlerin war gerade gekommen. Sie hatte den Veranstaltungsort vorbereitet und war auf dem Rückweg durch die Absperrungen der Polizei in Verzug geraten.
Ich atmete auf.

Wir fuhren zum Martin-Luther-Haus, ein Kindergarten. Allerdings war der Zugang gesperrt. An der Ecke Luther-, Voede- und Querstraße wohnt nämlich ein stadtbekannter Neo-Nazi, gegen den sich die Demonstration richtete. Und dann kam sie: Knapp 200 Autonome, meist Männer. Auf ihren Transparenten stand: Nieder mit dem Kapitalismus. Gegen Faschismus. Gegen Antisemitismus. Gegen Imperialismus. Etc....
Einverstanden.
Sie sehen immer ein bisschen zum Fürchten aus mit ihren schwarzen Vermummungen. Punks sind auch gern dabei. Sie begreifen die Polizei als ihren natürlichen Feind, aber das muss man ihrer Jugend nachsehen.

Es war 14:40. Die Polizisten sagten, wir könnten unter keinen Umständen in die Lutherstraße, Auftrag sei Auftrag. Um 15 Uhr sollte die erste Lesung beginnen. Die Autonomen umstanden einen nagelneuen Mercedes. Darauf waren Lautsprecherbatterien installiert. Eine junge Frau hielt eine einschläfernde Rede gegen den in Hausnummer 11 wohnenden Nazi. Gegen 14:50 zogen die Autonomen ab.

Das war knapp.

Zweihundert Einladungen waren verschickt. Aber wer kommt an einem strahlenden Samstagnachmittag zur einer Lesung? Meine Kunden: nicht mehr als zehn Kinder im Alter von 4 bis 8. Ihre Eltern im Hintergrund. Dazu das Personal des Kindergartens. Ich war ratlos. Ich hatte mich auf Das Vampirprogramm eingestellt, aber das würde bei diesem Altersschnitt der Kinder nicht funktionieren. In einem anderen Leben hätte ich gesagt, tut mir Leid, so kann ich nicht arbeiten, in diesem dachte ich, entweder/oder.

Ließ mir Trommeln kommen, hockte mich zu den Kindern und begann mit dem zehnten Mond. Wir tanzten Indianertänze, die Kinder schlossen die Augen, ich flüsterte seitenlang, weil ich spürte, dass ihre inneren Kinos so besser arbeiten würden, wir bliesen Feuer an, wir kämpften mit Bernd Bulli, wir ritten durch die Prärie, die Zeit flog mit Spielen und Gesprächen. Sehr schön war das und das fanden die anderen auch. Dabei hatte ich nicht einmal zwanzig Seiten gelesen.

Um 17 Uhr sollte die zweite Lesung beginnen. Diesmal kamen noch weniger, allerdings waren die Kinder älter. Ihnen las ich aus der Sackgasse vor. Es waren zu wenige, um mit ihnen das zu veranstalten, was ich sonst mit Kindern veranstalte, wenn ich die Sackgasse lese. Sie waren schüchtern. Außerdem gab es für sie keine Möglichkeit, sich in der Masse zu verstecken, dennoch: auch die zweite Lesung hat funktioniert.

Ich habe wieder gelernt. Viel gelernt. Und anschließend anstandslos meine Gage erhalten.
Auch Rheinländer können also Absprachen halten.

Nächsten Samstag bin ich noch einmal in Wattenscheid.
Dann lese ich in einer Schule aus der Sackgasse. Kinder höherer Klassen haben Dekorationen gebaut. Ich bin gespannt. Und ich weiß schon, wie ich sie auf meine Seite bringe.

 

Mo 25.04.05 13:15

Kreuzte das Ruhrgebiet von Bochum bis Bottrop, flog über die A 40, die A 43, die A 2 und den Ostfriesenspieß, links und rechts hatte sich aufgestellt, was Rang und Namen hat: Schlote, Zechen, Chemieriesen, das Tetraeder, die Arena auf Schalke, das alles in bestem Abendlicht. Irgendwann werde ich das Revier einmal mit dem Fahrrad durchkreuzen, werde die Industriebrachen von nahem sehen, die Straßen, die Pommesbuden, die Trinkhallen, denn hier wurde der Grundstein gelegt, hier wohnen die Menschen, die die Republik reich gemacht haben: Arbeiter. Die, die sie arm machen, wohnen woanders.


Di 26.04.05   9:56

Für den Herbst ist eine Lesung geplant, die Kinderbücher für Erwachsene heißen soll. Ich werde für Erwachsenen aus meinen Romanen lesen. Darauf bin ich sehr gespannt, denn gute Kinderbücher funktionieren auch für Erwachsene, sonst wären sie schlecht.

13:00

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Mi 27.04.05   9:00

Autor führt als Häuptling den Indianertanz an

Phantasievoll und kindgerecht entführte Hermann Mensing die jungen Zuhörer in die Welt seiner Erzählung Der zehnte Mond. Das Publikum lauschte Mensing verzückt - und zeitweise mit geschlossenen Augen.




Was als Lesung angekündigt war, wurde im Martin-Luther-Kinderhaus am Samstag zur Mitmach-Aktion: Mit viel Phantasie entführte Autor Hermann Mensing das junge Publikum in die Welt seines Kinderbuches Der zehnte Mond.
Björdis Derksen, Inhaberin der Buchhandlung Lohn, hatte den Kinder- und Jugendbuchautor Hermann Mensing zum Welttag des Buches gewinnen können, im Kinderhaus an der Voedestraße Auszüge seiner Romane vorzustellen.
Der zehnte Mond erzählt die Geschichte des jungen "Krikke", der in seinem Zimmer ein Indianerlager aufbaut. Seinem Häuptling Tscho-tschon fehlt jedoch ein Pferd - das Krikke kurzerhand in der Schule klaut. Die Erzählung, die Gewissensfragen berührt, ist eigentlich für Kinder ab acht Jahren gedacht.
"Ihr seid alle noch sehr jung, was?", fragte Hermann Mensing seine Zuhörer am Anfang. Dass diese mit vier bis sieben Jahren tatsächlich noch nicht zur Zielgruppe des Buches gehörten, machte aber nichts. "Das kriegen wir hin", kündigte Mensing an und stimmte sein Publikum aufs Thema ein.
So baute er mit den Jungen und Mädchen ein unsichtbares Tipi auf, animierte zum imaginären Feuermachen und führte als Häuptling einen Indianertanz an. Anschließend lauschten die Kleinen verzückt und mit geschlossenen Augen seiner Erzählung.
Die Veranstaltung ist Teil von Björdis Derksens Aktion "Lohns Lesepaten lesen los", mit der die Buchhändlerin Kids fürs Lesen gewinnen will (die WAZ berichtete). "Diejenigen, die wir damit eigentlich erreichen wollen, haben die Schmökerecke bisher nicht genutzt", sagt Derksen. "Deshalb sind wir diesmal einfach zu den Kindern gekommen." (
Waz 24.04.2005 Von Sarah Hubrich )

 

Fr 29.04.05 9:30

Im Januar 2001 sah ich zum ersten Mal kniende Bettler. Ich war in Wien. Nirgendwo sonst auf der Welt hatte ich so etwas bisher gesehen. Das demütige knien passte zu einer Stadt, wo der faule Atem kaiserlicher Großmachtträume noch immer um jede Ecke weht. Die Bettler hielten die Arme vorgestreckt und die Hände zur Schale geformt, damit der Vorübergehende etwas hineinlegen konnte.

Vier Jahre später hat es diese Form des Bettelns nun auch nach Westfalen geschafft.
Offenbar als Folge der Globalisierung. Wie jeder Erwerbstreibende muss auch der Bettler flexibel sein. Er darf nicht am Ort verharren, Stillstand ist Rückgang. Sein potentieller Kunde will unterhalten sein, will Schauder und Sensation, da hilft es nicht, immer nur dazusitzen, einen Bettlerhund zu kraulen und ein Schild vor sich aufzustellen: Ich habe Hunger.

Wie langweilig.

Auf den Bettlermessen ist längst der nächste Schritt angedacht: die Geißelung.
Hat der Kunde sich bisher seinen Großmut beweisen können, bekäme er jetzt etwas fürs Geld, das tiefste Schichten seines Unterbewusstseins anspräche. Vielleicht zusätzlich stimuliert, indem auch schon mal ein Tropfen Blut flösse.

Der so belebte innerstädtische Bettel-Raum würde endgültig zu einer Zone, die sich kontrapunktisch mit der Erlebnisgastronomie, den Erlebniskonsumräumen, den Erlebnisarbeitslosen und den Erlebniserlebenden riebe, eine bemerkenswerte Errungenschaft des zusammenbrechenden Erlebniskaptialismus.

Noch sind die knienden Bettler südosteuropäischer Herkunft, meist Migranten aus dem Balkan. Aber schon bald könnten wir uns auch über Einheimische freuen, die diesen neuen Erwerbszweig ausüben, eine Tätigkeit, die hohe Fertigkeiten fordert, denn es ist nicht leicht, längere Zeiträume unbewegt kniend und mit ausgestreckten Armen zu verharren. Man braucht Willen und körperliche Robustheit.

Ich freue mich über jede innovative Idee der Geldabschöpfung.

Ich werde heute Abend in Bochum meinem ertragreichen Gewerbe nachgehen und Kasse machen. Den angedachten Plan, meiner Lesung mit einer Trommel zusätzlich dramatische Elemente hinzuzufügen, habe ich gestern Abend aufgegeben, verstieße das doch gegen die selbst gesetzte Regel, jede Lesung so unvorbereitet wie nur eben möglich anzugehen, um jederzeit auf alles reagieren zu können.

Ich wünsche allen meinen Lesern einen erlebnisreichen Tag.

12:10

Gib dem Menschen eine schöne Herausforderung, an der er sich die Zähne ausbeißen kann, und schon verdunstet das Depressive wie ein Schweißtropfen in der Wüste Sahara, praktisch Fata Morgana. (3)


Sa 30.04.05   9:13

Es gibt Tage, da bin ich gut und mein Publikum ist es nicht. Gestern war mein Publikum um vieles besser als ich, aber niemand hat es gemerkt. Alle waren begeistert. Derart begeistert, dass mir die Rektorin der Schule anschließend folgenden Vorschlag machte.

Sie könne mir, sagte sie, für 5 oder 10 Stunden die Woche einen Vertrag geben, ihr sei sehr an Kultur gelegen, ich könnte einen Theaterworkshop machen, eine Literaturwerkstatt aufziehen, ganz wie ich wollte, bezahlt nach BAT 3, ich sollte das nicht vergessen, schließlich wäre ich ein Erfüller, will sagen, hätte das 2. Staatsexamen, während z.B. promovierte Chemiker, die ein paar Wochenstunden unterrichteten, aber kein 2. Staatsexamen vorweisen können, Nichterfüller wären.

Was meine Stunden anginge, könne sie sie so legen, dass ich sie an einem Tag der Woche (bzw. 2 Tagen bei 10 Stunden) erledigen könnte. Das hieße für mich, einmal die Woche nach W. zu fahren, ca. 50 Minuten hin, 50 zurück.

BAT 3.

Ich habe ihr gesagt, ich würde darüber nachdenken.


 






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1. Dietrich Bonhoeffer: aus einem Brief v. 21.07.1944 // 2. Dirk Kurbjuweit Schussangst, Roman, Fischer 1998 // 3. Wolf Haas Silentium Roman, Rowohlt 1999 //

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