Juni 2017                      www.hermann-mensing.de      

    

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Di 6.06.17 22:26 leicht bewölkt, dann und wann regnet's

Aufhören, sofort aufhören, wird er eines Tages gesagt haben, wie er so vieles eines Tages gesagt, nicht gesagt oder sonstwie unerledigt gelassen haben wird, weil er nicht daran geglaubt hat. Nie wird er das losgeworden sein, das wird tief drin gesteckt haben, und natürlich wird jemand das gesät- wird ihm beim Wachsen zugesehn und geholfen haben, groß zu werden, und so wird es schlußendlich so groß geworden sein, dass man es nicht umsägen, ausreißen, nicht einmal wegspringen wird können. Nichts, gar nichts wird mit ihm zu machen gewesen sein, es sei denn, man wird mit ihm gelacht haben. Eines Tages wird das bei jedem so weit sein, und dann, darauf wird man Gift nehmen können, wird es kleiner und kleiner geworden sein, bis schließlich der Horizont, die Welt und der Mensch und - ach, alles, alles so geworden sein wird, wie man sich immer gern vorgestellt hätte, aber nicht vorgestellt wird haben können. So wird das gewesen sein, und dann wird man sich auf die Schenkel geschlagen haben, dass man so lange so blöd war, denn nun wird man erkannt haben, dass alles, die Welt, der Mensch, der Horizont, ach, was rede ich, dass alles schon zu Anfang so gewesen sein wird und die ganze Zeit darauf gewartet hatte, dass es endlich angenommen und begriffen wird, so wie man es eines Tages begriffen haben wird, aber das wird für die meisten zu spät gewesen sein.


23:56

Das alte ThinkPad hatte die Arbeit verweigert und mir blieb nichts, als ein neues zu kaufen.
Kaum von meiner Reise zurück hatte es sich zwar noch einmal hochfahren lassen, war aber dann in Verdunklung gefallen, und mir war kein Trick eingefallen, diesen Zustand rückgängig zu machen. Seit dem frühen Abend bin ich nun mit dem Installieren von Programmen beschäftigt. Ich hatte Probleme erwartet, weil es immer Probleme gibt, wenn Computer konfiguriert werden, aber bis jetzt gab es keine. Das, was zu tun war, ist getan. Das, was noch zu tun sein wird, wird nicht mehr heute getan, es eilt nicht und bedarf einiger Vorbereitung. Der von der Industrie geplante endgültige Zusammenbruch dieses Rechners wird in plus/minus 4 Jahren stattfinden. Eh das so weit ist, gehe ich erst einmal schlafen. Morgen will ich weiter schreiben. Nichts Konkretes, ich werde schreiben, wie meine Freundin in den Garten geht, um dort dieses und jenes zu tun. Meist nicht das, was ein vernünftiger Mensch täte, aber dafür sind ja die anderen da, wir machen einfach da weiter, wo wir aufgehört hatten, wie wir es immer getan haben.


Mi 7.06.17 11:09 bewölkt, sehr windig, 13 Grad

Gestern habe ich 30 Kilometer mit dem Rad zurückgelegt, hierhin, dorthin, man glaubt nicht, wie schnell da was zusammenkommt, und auf dem Heimweg wehte ein kräftiger Gegenwind. Zuhause hatte ich weiche Knie. Die hatte ich während unserer Radtour entlang der Ems nicht ein einziges Mal, aber mit so einem Gegenwind hätten wir Emden auch nie erreicht, E-Bike hin oder her, denn sie hatte sich extra eines gekauft.

16:31

Noch vor zwei Wochen tanzte der Wind Wellen in die kniehohe Gerste, jetzt steht sie hüfthoch, lässt ihre bärtigen Köpfe windabweisend hängen und schwankt nur, schwankt wie der Weizen, der sich nie zu Wellen herablässt, auch er schon oberschenkelhoch, während der Mais, gerade zwei Hand breit aus der Erde, dem Wind winkt, sich selbst und der Welt, ein weites Feld voll winkenden Mais, schöner kann keine Königin winken, und sei sie noch so alt und bunt gekleidet, trotzdem, die Wellen der Gerste vor noch zwei Wochen sind schöner. Jetzt wird er an manchen Stellen schon golden, ansonsten ist er goldgrün, der Weizen eher silbergraugrün.


Do 8.06.17 22:36 Vollmond mild

Der große Platz der kleinen Stadt ist am Himmelfahrtstag bis auf ein paar Afrikaner auf einer Bank, drei jungen Männern aus dem Nahen Osten und einem Ehepaar mit zwei Kindern leergefegt. Das Ehepaar kreuzt ihn. Der Mann zieht einen übers Pflaster rumpelnden Grill hinter sich her. Die Afrikaner rauchen große Zigaretten. Das Ehepaar nähert sich dem Nostalgiecafé. Hier machen M. und ich nach knapp 20 Kilometern die erste Pause und trinken Cappuccino. M. raucht, ich nicht mehr. Der Mann grüßt und stellt seinen Grill ab. Er spricht mit dem Wirt. Man kennt sich, man ist vertraut. Die Kinder wuseln herum. Papa kauft ihnen ein Eis und trinkt ein Bier. Im einem kleinen Schaufenster links neben der Tür der Cafés steht ein nickender Hase und schleckt Eis. Er ist so groß wie ein Vierjähriger. Vielleicht ist die Familie mit ihrem Grill auf dem Weg zur Ems. Dieser Fluss ist nicht breit. Er ist auch nicht tief, aber wie jeder Fluss hat er die Landschaft geprägt. Wir wollen ihm bis zur Mündung folgen.

Heute ist unser erster Tag. Es ist warm, aber nicht zu warm. Die befürchteten Himmelfahrer sind noch nicht aufgetaucht. Wir fühlen uns gut. Wir haben uns geschworen, nichts zu übereilen. Wir haben eine Heide durchquert, der Ginster blühte, die Wiesen in den Emsauen waren kräftig und grün, hier und da war schon eine gemäht, es riecht gut, die Wolken sind bauchig, alles ist prächtig. Vor einer Dorfkirche standen Eltern mit ihren Kommunionskindern, noch immer wie immer, die Mädchen in Weiß, die Jungen in Schwarz.


Fr. 9.06.17 12:35 bewölkt, 16 Grad

Wir zahlen. Durch eine Arbeitersiedlung geht es leicht bergan. Die Häuser sind grundrenoviert. Später an diesem Tag werden wir eine Siedlung sehen, in der die Zeit scheinbar stehengeblieben ist, hier aber sind die Fassaden erneuert, die Fenster thermoverglast, hinter Gardinen recken sich an Stäben gebundene Orchideen, an den Hauswänden hängen Satellitenantennen. Eine sehr dicke Frau quält sich von einem Friedhof kommend zu einem Auto.

Fast hätten wir ein Schild übersehen, roter Pfeil auf weißem Grund: links. Links jetzt! In einem Vorgarten repariert ein junger Mann ein Motorrad, auf einem Balkon steht eine üppige, an den Oberarmen tätowierte Frau und raucht. Links also, aber jetzt ruft M. etwas, ruft, steigt vom Rad, und wie es aussieht, will sie ihre Jacke ausziehen.

Eine Brücke führt über die Hauptstraße in die Wintruper Berge. Es ist sandig hier, Kiefernwald, was nicht verwunderlich ist, der Fluss ist ganz nah. Die Kiefer (neben Buche, Eiche, Esche, Birke) wird uns eine Weile begleiten, bis sie dort, wo die Ems zunehmend eingedeicht und zurückgestaut wird, kaum noch vorkommt. Irgendwo ruft ein Pfau, Schilder weisen zum Sachsenhof, eine Birkenchaussee, auf der niemand außer uns fährt. An einem Waldrand steht ein Schornstein mutterseelenallein. Man kann sagen, dass Radfahren glücklich macht. Glücklich, hungrig und durstig.


Sa 10.06.17 14:51 wechselnd bewölkt 20 Grad

Der Weg mäandert. Rinder schauen uns nach. Auf der Suche nach einem schattigen Ort mit Aussicht passieren wir einen Hohlweg. Am Ende ist eine Bank. Sie wäre ideal, der Blick ginge hinunter zum Fluss, sie ist aber besetzt von einem älteren Paar auf E-Bikes. Die nächste Bank steht an einer Weggablung. M. hat Brote geschmiert, Äpfel, Tomaten, Oliven und Gurken dabei, ich habe Frikadellen, Wasser und Wein für den Abend. Eine Lärche steigt in den Himmel. Kiebitze zickzacken über Wiesen. Drei wie Tour-de-France-Fahrer gekleidete Radler kommen einen Hügel herab, sehen die Weggabelung zu spät, verbremsen sich, dass es staubt, sind aber noch immer zu schnell und kriegen die Kurve nicht. Die Oliven sind köstlich, sagt M., probier' mal. Die E-Biker vom Hohlweg tauchen auf. Und meine Frikadellen? Super! sagt M. Die E-Biker stellen ihre Räder ab, nicken seltsam verschwörerisch und verschwinden in den Büschen. Wir wundern uns. Als sie zurückkehren, sagen sie, sie wären Geo-Cacher, wir sollten aber nichts weitersagen.

Wir sind links, rechts, links, rechts und wieder links der Ems gefahren, und sie will wissen, woher ich das weiß und wie man das definiert. Ich erkläre es ihr, aha, sagt sie, klar - klar, wenn man's weiß. Wir streifen die nächste Stadt und überqueren den Fluss ein weiteres Mal. Die Fußgänger- und Radfahrerbrücke ist mit bunten Segeln versehen, die sich automatisch trimmen, wenn Boote sich nähern. Ein Gruß, Kunst am Fluss. Wir verschwinden schnell wieder in den Wäldern. Kaum ein paar Stunden in der Natur, wirken Straßen und Autos wie aggressive Störenfriede. An der Bockholter Fähre im Elter Sand trinken die Himmelfahrer Kaffee und essen Kuchen. Am Weg steht eine zu einem Marienaltar umfunktionierte gelbe Telefonzelle. Die Blumen darin sind frisch. Eine Cessna fliegt den nahen, kleinen Flughafen an. Fischreiher stehen an einem Altarm. Unser Tagesziel rückt näher. Rheine. Noch einmal überqueren wir über den Fluss, folgen ihm mitten durch die Stadt, ohne sie zu berühren.


So 11.06.17 12:02 eher sonnig 21 Grad

In den nächsten Wochen werden Sie mich häufig unterwegs finden. Die Skulptur-Projekte Münster 2017 haben gerade begonnen. Mehr dazu finden Sie hier: Skulptur-Projekte 2017.

Mo 12.06.17 10:57 bewölkt 17 Grad

Am anderen Ende liegt das Kloster Bentlage. Es ist längst kein Kloster mehr. Hier findet Kultur statt und hier haben wir ein Zimmer gebucht. Ein Zimmer im dazugehörigen Bauernhaus, in dem Druckwerkstätten untergebracht sind und Künstler mit Stipendien wohnen und arbeiten. Es riecht nach Farbe. Unser Zimmer ist klein, es sind zwei Doppelstockbetten darin, das Fenster öffnet sich zur Wiese, zur einer großen, lichtgrünen Zeder, zu einer Gruppe braunweißer Kühe im Abendlicht, zur Ruhe. Sechzig Kilometer liegen hinter uns, nichts ist wund, nichts tut weh. Ich hatte drei Flaschen Wein in die Satteltaschen gepackt. Für die nächsten Abende je eine, aber im Wissen, dass diese Unterkunft wahrscheinlich der Höhepunkt der uns erwartenden Unterkünfte auf dem Wege nach Emden sein wird (wir haben außer dieser keine im Voraus gebucht), ist die erste schnell leer getrunken. Wir gehen spazieren, wir atmen salzhaltige Luft unter der Saline Gottesgabe, wir sitzen vorm Haus, wir essen und trinken, und als wir uns schlafen legen, ist kein Wein mehr da.


14:33

2. Tag
Fr. 26.05.2017
Rheine-Bentlage - Geeste-Dalum

Der Tacho zeigt 64.26 Kilometer. Wenn ich ihn nach unserer Durchschnittsgeschwindigkeit fragte, würde er unter Umständen 14 sagen, das wäre nicht schlecht, das macht, plus 3 Pausen, knapp 5 Stunden für gestern, aber heute ist heute. Ich bin gerade erst aufgewacht und habe mich wach geduscht. Ich habe an diesem stillen Ort bei geöffnetem Fenster und frischer Luft sehr unruhig geschlafen. Das hat mit meinen Sinnen zu tun. Sie sind so eine Ruhe nicht gewöhnt. Ihr Universum ist nie still. Und so haben sie sich die Nacht über besondere Mühe gegeben, mich beizeiten warnen zu können. Ich stelle mich zum Morgengruß auf das linke Bein und recke mich, als wolle ich in den Himmel. Das wirkt.

Frühstück gibt es im Kloster. Eine der Bedienenden, eine fragile Frau mit schwarzgrauem, bis auf Höhe der Kinnlade abgeschnittenem Haar, findet Gefallen daran, ihren Gästen zu gefallen. Es macht ihr Mühe, aber es gefällt ihr, es zu wieder und wieder zu versuchen. Das rührte mich. Zumal ich dachte, eine Frau, die - Mitte Fünzig - am frühen Morgen als Serviererin für überwiegend schweigende, sich nur hin und wieder räuspernde oder unterdrückt brummende Menschen arbeiten muss, hat es nicht leicht. Mindestlohn? Müsste bei 15 Euro liegen, falls man Menschenstunden überhaupt bezahlen kann, aber das ist eine andere Geschichte.

Hier geht ja um das Frühstück in diesem Frühstücksraum, der irgendwie "fürstlich" war oder auch "klösterlich", vielleicht, denn ich kann ihn nicht beschreiben. Ich weiß noch, wo das Büffet stand, und dass es nicht sonderlich reichhaltig war, aber ich kann morgens eh nicht viel essen. Ob da kristallene Kronleuchter hingen, weiß ich auch nicht, ist aber sehr wahrscheinlich. Falls doch nicht, wünschenswert, man müsste gleich eine Eingabe machen.


Mi 14.06.17 16:51 sonnig, 24 Grad

Der alte Mann trug eine helle Windjacke, eine graue Hose und Wörrishofener. Er hatte einen silbernen Haarkranz, ein schmales Gesicht, ein große Nase, und eine gesunde Gesichtsfarbe. Er stand im Fischgeschäft neben mir. Der jungen Verkäuferin gelang es nicht recht, in Kontakt mit ihm zu kommen. Er hörte schlecht. Sie verstand nicht. Nicht, weil sie, wie er, Hörprobleme hatte, sonder weil er sich nicht klar ausdrück. Ja, er wollte Fisch, begann er, Hering, so weit ich verstand, Heringsstipp vielleicht, Hering, ja, das da, aber eh er bereit war, weitere Absichten hinsichtlich seines beabsichtigten Kaufes zu verraten, wollte er wissen, wie teuer das da sei und ob es für das da auch ein Angebot gäbe. Ich hielt ihn für ein altersverwirrt und sparsam, bis mir aufging, dass er arm war, dass er jeden Cent brauchte, und dass sein Budget für diesen Tag so gut wie aufgebraucht war. Dass er die Verkäuferin- und sie ihn nicht verstand, gab der Sache zusätzlich Drama. Mittags in der Nordsee.


Mo 19.06.17 8:26 sonnig 18 Grad

Zwei Bands spielten auf der Burg Vischering, ich war Schlagzeuger der einen, P. der anderen. Man hatte mich gefragt, ob er auf meinem Set spielen dürfe. Ich hatte gesagt, ja, war aber nicht ganz glücklich, denn das bedeutete, dass ich bis zum Schluss bleiben musste. P. stammt aus dem Kongo. Schon seit über einem Jahrzehnt ist er in Münster unterwegs, ich habe ihn ein paarmal gesehen, er hat eine Afro-Reggae Band und schiebt immer ein mächtige Welle. Dass er ein besonders ausgefuchster Schlagzeuger wäre, kann ich nicht behaupten, wenngleich die Legende geht, er sei ein Star im Kongo gewesen. Ich finde ihn eher beschränkt in seinen Ausdrucksmöglichkeiten, aber die Leute erzählen vieles. Beim vorletzten Stück, ich stehe seitwärts vor der Bühne, stößt mich ein Zuschauer an und sagt, du, der Schlagzeuger will was von dir. P. weist mit einem Stick auf mich. Vielleicht ist etwas mit dem Schlagzeug, denke ich und gehe zu ihm. P. reicht mir einen Stick. Will er, dass wir gemeinsam trommeln? P. steht auf, gibt mir den zweiten Stick und verschwindet. Gut, was bleibt, ich trommle also, obwohl P. das Schlagzeug umgebaut hat, er ist im Gegensatz zu mir Rechtshänder. Dann ist das Konzert beendet und es geht ans Abbauen. Alle helfen, nur P. sitzt irgendwo im Saal und starrt Löcher in die Luft. Nachdem ich zwei oder dreimal mit Equipment an ihm vorbei bin und er noch immer keine Anstalten macht, zu helfen, gehe ich zu ihm, und sage, dass ich es uncool fände, dass er hier faul herumsitze und den anderen bei der Arbeit zuschaue. Er steht wortlos auf und geht weg. Wenig später ist er wieder da und hilft immer noch nicht. Ich bin aufgebracht jetzt. Ich gehe noch einmal zu ihm, mein Ton ist schärfer jetzt. Er steht auf und sagt, er könne nicht, er habe "drei Kinder im Krankenhaus". Was soll ich darauf antworten? Wenn die Sorge um seine Kinder ihn davon abhält, beim Bühnenabbau zu helfen, wieso ist er dann überhaupt hier, wieso ist nicht bei den Kindern geblieben? Und ich finde, Danke hätte er auch sagen können.


12:46

2. Tag
Fr. 26.05.2017
Rheine-Bentlage - Geeste-Dalum

Wenn ich den Tachometer nach unserer Durchschnittsgeschwindigkeit fragte, würde er 14 sagen, ungefähr 14. Das machte knapp 5 Stunden für 64,5 Kilometer inklusive drei Pausen, die wir, bequem wie geplant, gestern zurückgelegt haben. Aber heute ist heute. Ich bin gerade erst aus dem Bett und habe mich wach geduscht. Ich habe bei geöffnetem Fenster sehr unruhig geschlafen. Meine Sinne sind so eine Ruhe wohl nicht gewöhnt. Ihr akustisches Universum ist nie still, und so haben sie sich Mühe gegeben, mich jederzeit warnen zu können. Ich stelle mich auf das linke Bein und recke mich, als wolle ich in den Himmel. Das wirkt.

Frühstück gibt es im Kloster. Eine fragile Fünfzigerin mit schwarzgrauem, bis auf Höhe der Kinnlade abgeschnittenem Haar, flattert fahrig herum und bedient. Es macht ihr sichtlich Mühe, aber es gefällt ihr, es den Gästen recht zu machen. Das rührt mich, denn eine Frau, die am frühen Morgen für überwiegend schweigende, sich nur hin und wieder räuspernde oder brummende Menschen arbeiten muss, hat es nicht leicht. Ob der Frühstücksraum irgendwie "fürstlich" aussah, "klösterlich" vielleicht oder gar "festlich", kann ich nicht sagen. Ich weiß, wo das Büffet stand, und dass es nicht sonderlich reichhaltig war, aber ob da kristallene Leuchter hingen oder ein mannshoher Kamin war, auf dessen Sims Blumen standen, weiß ich nicht. M. sagt, nein, ich behaupte es dennoch, falls nicht, wäre es wünschenswert.

Zehn Minuten nach Abfahrt sind wir im schattigsten Wald, den man sich an einem sonnigen Morgen wünschen kann. Buchen mit glänzenden Stämmen und frischem, kräftigen Laub in allen denkbaren Grüntönen, langwelliges Licht, Effekte, die Hollywood nie hinkriegen würde. Der Weg öffnet sich für eine Durchsicht zu einem Dorf, das Salzbergen sein könnte. "Emsland", sage ich. Wir haben die Grenze zu Niedersachsen überschritten, und sind plötzlich im Freien. Vor uns ein sanft abfallender, asphaltierter Weg durch offenes Feld, ein, zwei Kilometer lang. Hier steigt die erste Ahnung des norddeutschen Himmels auf, der viel weiter ist als der parzellierte Himmel in großen Teilen Westfalens. Wir rollen. Wir werden flott. Wir haben den Tag vor uns. Wir wissen nichts, und so soll es sein. Erst einmal geht es scharf links. Schau, das ist wie wieder! Die Ems. Manchmal sind wir dicht neben ihr, dann wieder ist sie woanders. Hinweise: Hier ein Wehr, dort eine Schleuse, eine Brücke, das Halbdunkel der Rotbuchen am Steilufer irgendwo, ein Tisch, Bänke, Picknick, aber weit und breit kein Papierkorb. Die Ems macht eine scharfe Rechtskurve, und liegt bald nicht mehr tiefer im Land, sondern auf gleichem Niveau. Die Menschen scheinen das zu mögen. Es gibt viele Zeltplätze hier, und wer will, darf ahnen, dass es auch uns morgen auf einen Zeltplatz verschlägt. Wir passieren die Kühltürme eines Atomkraftwerkes, wir fotografieren, der Werkschutz fährt langsam vorbei und beobachtet uns, aus einem benachbarten Stahlwerk dröhnt und scheppert es.

Wir überqueren eine Bahntrasse und sind in Lingen. Da vorn ist Haneken Fähr: ein Wehr, das die Ems staut, ein Ausflugsrestaurant, kleine Ausflugsdampfer, eine Siedlung dicht an dicht stehender Wohnmobile und auf jedem ein Satellit. Es ist wärmer als gestern. Wir ketten unsere Räder an ein Geländer, und trinken Kaffee auf der Restaurantterrasse. Vater, Oma, ein Junge und ein Mädchen im Alter von sechs bis acht tauchen auf. Das Mädchen sagt, ich will dort sitzen. Der Junge drängelt an ihr vorbei und nimmt ihren Platz ein. Das Mädchen steht da und schaut ihn so lange ernst und wortlos an, bis er Junge kapituliert. Das Stahlwerk scheppert in Intervallen. Hauptsache, das AKW fliegt nicht auseinander. Frachtschiffe kommen um die Kurve, wo Kanal und Ems sich teilen. Die beiden verhalten sich wie ein Paar. Sie trennen sich, kommen wieder zusammen, sie trennen sich undsoweiter, bis man nicht mehr weiß, wer sie gerade sind, und irgendwann ist man am Meer. Wir merken uns deshalb: die Kanalufer sind befestigt, die Emsufer nicht.
Wir folgen einem Treidelpfad, hier und da liegt Split. Ausweichen, der ist nicht gut für die Reifen. Durch die Eichen und Pappeln fällt mehr Licht, als auf die Waldwege am Morgen. Wir trinken einen Schluck. Ich fotografiere während des Fahrens nach hinten. Manchmal gibt das schöne Schnappschüsse. Meist aber nicht. Auf dem Kanal gibt es keine Sensationen. Man sieht alles kommen, von vorn bis hinten, nichts als freie Sicht. Ein tief im Wasser liegendes Schiff. Herkulesstauden, Schilf, paar Enten vielleicht, und die ganze Zeit rechts die Stadt. Sie hat eine schicke Bibliothek, überhaupt lässt sie sich das Atomkraftwerk gut bezahlen. Wir fahren nicht hinein, sie interessiert uns nicht. Wir sind unterwegs, und wenn das Unterwegssein aufhört, kommen wir an und lassen uns überraschen.

Als die Stadt ausfasert, und dumm da steht wie alle Städte, die sich im Umland verlieren, verlassen wir den Kanal. Auch die Ems sehen wir erst viel später wieder. Stattdessen Wiesen. Große Höfe. Reiche Bauern. Ein Golfplatz. Ein Landhaus mit Porsche. Die Straßen sind schmal. Die Sonne brennt und Schatten gibt es hier kaum. Wenn M. hinter mir fährt, fällt sie zurück. Das liegt daran, dass ich hinter dir immer mit Eco 1 fahre, sagt sie. Das spart Strom. Fährt sie vor, habe ich Mühe, ihr und ihrem E-Bike zu folgen. Das Rad macht ihr Spaß. Sie hat sich's gekauft, um mit mir die Tour machen zu können. Und jetzt schwitzen wir, aber unser Tagesziel ist nicht mehr weit, der Geester See. Ein Hotel in der Nähe haben wir auch. Vielleicht gäbe es am Ufer ein Restaurant, wir würden schon sehen, vielleicht könnten wir am Abend Fisch essen, Weißwein trinken, Schwimmen gehen. Weit ist es ja nun nicht mehr. Der Weg führt durch das Dorf Biene bringt uns zu einem Hinweisschild an einer nach links von der Landstraße abbiegenden Straße. Der Radweg verläuft rechts und endet vor einem Schild. Darauf ist ist mittig ein Pfeil, der nach links knickt und die ursprüngliche Richtung wieder aufnimmt. Wir müssen links, sagt sie. Ich widerspreche nicht, wahrscheinlich, weil ich gerade abwesend bin oder keine Lust habe, eine Diskussion über die Richtung vom Zaun zu brechen. Links also.

Was vorhin der Kanal war, ist nun eine sich in die Ewigkeit ziehende Landstraße ohne Schatten. Es geht gegen drei und wir sind seit zehn unterwegs. M. mag nicht an Straßen fahren. M. glaubt, wenn sie unterwegs ist, müsse alles Idylle sein, das sei die Welt ihr schuldig. Mir wäre ein Waldweg auch lieber, aber ich kann den Radweg ertragen, vor allem aber kann ich gerade nichts ändern. Wald ist ja da, Kiefernwald rechts, soweit das Auge reicht Kiefern und Birken, aber das alles liegt hinter einem Zaun, und als wäre das noch nicht genug füllt sich die Luft mit einem dunklen Beat, der lauter und lauter wird und zusätzlich Zweifel weckt. An einem Hinweisschild zum Geester See biegen wir rechts ab und überqueren weitläufige Parkplätze. Menschen, junge Menschen vor allem, Security, Umleitung. M. wird unleidlich, was ich verstehen kann, mir gefällt es hier auch nicht, aber wir sind nun einmal unterwegs und der Weg führt dort entlang. Was ist das für ein Deich? Liegt der See dahinter? Und woher kommt dieser Radau, den manche Musik nennen? Wir folgen einem Umleitungsschild nach links und sehen auf der Krone des Deiches eine haushohe, aufgeblasene Gummiburg. Dahinter: Bühnen. Stroboskope und Beats mit 220 Schlägen pro Minute.

Ich weiß jetzt, wieso wir hier gelandet sind, aber ich sage nichts. Wenn man sich einmal verfahren hat, verfährt man sich leicht auch ein zweites Mal. Am Fuße des Deiches lassen wir den Radau hinter uns. Das Beste wird sein, erst einmal anzuhalten, abzusteigen und neu zu starten. Wo sind wir? Wir stehen in einem Wald. Da vorn geht es nach Lingen, da geht es nach Osterbrück, das kennen wir nicht, und da hinten bummst und donnert es. Wir fahren auf den Deich. Die Rampe ist lang und steil, die Aussicht auf den See ist erschütternd. Der See ist kein See, sondern ein Speicherbecken. Asphaltierte Ufer, kaffeebrauner Uferschaum, eine Segelschule, wir sehen sogar Taucher, und noch weiter hinten das Festivalgelände. Hier gibt es nichts von dem, was wir erhofft hatten. Wir drehen um und fragen jemanden, wie wir auf dem schnellsten Wege nach Geeste kommen. In einer Viertelstunden sind wir in einem gesichtslosen Dorf, im Grunde eine Straße mit Häusern, einer Kirche und einer Konditorei, in der es ebenso gesichts- und lieblosen Cappuccino gibt. Aber immerhin, wir können uns setzen und diskutieren, wo wir falsch abgebogen sind, aber es ist einerlei. Wären wir dem Schild gefolgt, wären wir trotzdem hier gelandet, und das alles nur, weil auf der Radwanderkarte Geester See steht, nicht Geester Speicherbecken. Und auch nicht: Vorsicht, einmal im Jahr Gabba- und Techno Festival.

Unser Hotel, das Hotel Aepken, liegt in Dalum, ein Nachbardorf auf der anderen Emsseite keine zwei Kilometer entfernt, und wir ahnen, dass wir nun mutig sein müssen. Der Höhepunkt der Unterbringungsidylle war gestern erreicht, man kann nicht jede Nacht in einem zur Druckwerkstatt und Künstlerherberge umgebauten Bauernhaus übernachten und Wein trinken, wir hatten gestern doch auf den Höhenpunkt unserer Reise angestoßen, aber M. is not amused.

Zickende Frauen muss man wie rohe Eier behandeln. Man kann es mit vorsichtigen Scherzen versuchen, muss aber wissen, dass diese Methode die Lage dramatisch verschlechtern kann. Sicherer ist, sie auf Händen zu tragen, ihnen die Welt schön zu reden und jede ihrer Unmutsäußerung zu überhören. Ganz sicher ist, sich gar nicht erst auf Frauen einzulassen, aber dazu bin ich nicht stark genug, ich muss den steinigen Weg gehen.
Ja, sage ich, das Hotel liegt zwar an der Straße nach Wietmarschen, aber wer fährt nach Feierabend schon noch nach Wietmarschen,außerdem, das Zimmer ist unterm Dach, das Fenster geht nicht zur Straße, es ist ruhig und groß, komm, schau es dir an, es hat ein wunderbares Bad mit Granitfließen und zwei Spülsteinen. Ja, sage ich, im Dorf ist Schützenfest, richtig, vom Zimmerfenster kann man das Schützenzelt sogar sehen, aber der Wind weht die Geräusche bestimmt in die andere Richtung. Nein, sage ich, man darf hier nicht rauchen, aber rauch' doch einfach zum Fenster hinaus. Komm, wir trinken ein Bier. Wir essen. Wer sechzig Kilometer Fahrrad fährt, muss Essen und Trinken. Das Murren verebbt. Wir essen, und das gar nicht mal schlecht. Dann biegt auch noch der Hofstaat mit König und Königin um die Ecke, um im Gasthof zu speisen, was beweist, dass wir im ersten Hause am Platz wohnen. Der König ist um die Dreißig, die Königin ebenso, man ist groß und korpulent, alle sind irgendwie groß, blond und korpulent, auf Brust und Rücken des Königs klappern Orden und Auszeichnungen seiner Amtskette. Jetzt muss ich nichts mehr schön reden, jetzt können wir uns die Mäuler zerreißen über den da und die da mit dem Atombusen und dem schmalen Mund am Nebentisch, E-Bike Rentner aus Hamm, die radelnde Pest. So wird Dalum real, und das ist es doch, was wir wollten, oder, wir wollten die wirkliche Welt mit dem Rad erobern. Dazu gehören heute das Geester Speicherbecken und das Dalumer
Schützenfest. Und morgen? - Wir werden schon sehen.

Der Chef des Hauses kommt an unseren Tisch, um seine Aufwartung zu machen. Auch er ist groß, blond und korpulent, ein jovialer Mann, der uns erklärt, dass man im Emsland auf Scheiben schießt, nicht auf Vögel, und dass er im Gegensatz zum König der Schützen ein Leben lang König sei und die Verantwortung trage. Wir wissen das zu schätzen und erobern das Dorf, die Kirche, den Friedhof, wir schauen zu, wie König, Königin und Hofstaat ins rotweiß geschmückte Festzelt einmarschieren, während die Cadillac dazu spielt und merken uns, dass die Welt überall schön ist.


Mi 21.06.17 10:24 sonnig 16 Grad

am morgen takelte ich
mein zweites gesicht auf
und verbarg mich im spiegel
am abend des dritten tages
trat ich mit neuem profil
energischem blick
und gedrexxeltem wort hervor
um die welt zu vermessen

hatte ich dieses richtig gemacht
oder jenes falsch
waren die anfänge besser
als das jeweilige ende
hätte ich besser
auf die mitte gehört
und hatten die fragen die richtige größe
um die antworten nicht fürchten zu müssen

als die nacht länger wurde
und der tag wieder kürzer
schrieb ich meinen freunden
ich wisse von nichts
und bäte um vergebung


Do 22.06.17 9:28 sonnig 16 Grad

Man verhält sich gern still an diesen heißen Tagen. Gestern erwachte ich mit heftigem Niesen. Den Tag über hielt das an, meine Nase lief, heute ist meine Stimme ein wenig angerauht, ich nehme an, diese Mischung aus Abgasen und heißer Luft ist einfach nichts für Menschen. Gestern abend fuhr ich mit meinem tunesischen Untermieter zum Fastenbrechen in die Moschee. Ich weiß nicht, was ich mir vorgestellt hatte, aber es war eine unspektakuläre Zeremonie mit eher schlechtem Essen auf Alutabletts. Der Raum der Moschee, mit Teppichen ausgelegt, war angenehm kühl, als wir ankamen. Vier oder fünf Männer waren schon anwesend, alle lasen im Koran, einer lag schlafend auf der Seite. In langen Bahnen war weißes Papier ausgerollt, darauf Wasser, Milch, Fanta, kleine Haufen Datteln. Mehr und mehr Männer kamen. Nach Eintritt beugten sie sich gen Osten. Manche strecken die angewinkelten Arme so vor, dass ihre Handflächen nach oben wiesen. Eine Kleiderordnung war nicht zu erkennen, es herrschte ein entspanntes Durcheinander aller möglichen Stile. Ahmed und ich setzten uns, Ahmed gab mir einen Koran. Er selbst kann wunderschön singend rezitieren, was er leise und für sich auch tat. Es war dämmrig, ich legte den Koran auf die weiße Papierbahn am Boden, aber Ahmed wies mich darauf hin, dass man das nicht dürfe, der Koran darf nicht am Boden liegen, übrigens eine von der umstrittenen König Fahd Akademie Bonn gestiftete Ausgabe mit ausführlichen Kommentaren zur Übersetzung ins Deutsche. Immer mehr Männer kamen, Afrikaner auch, ein Asiat, ein Konvertit, Freunde Ahmeds. Um Punkt 21:54 rezitiert jemand, dass Allah größer sei, danach dürfen Datteln gegessen und Milch/Wasser/Fanta getrunken werden, dann kommt der Imam, die Männer versammeln sich im Halbkreis um ihn, um gemeinsam zu beten. Das Gebet ist erfreulich kurz, danach stellen sich alle zur Essensausgabe an. Man ist freundlich, der ein oder andere kennt sich, man sitzt am Boden, man isst, danach geht die Gemeinde zügig auseinander.


21:45

Furchtbar heiß heute, heißer noch als die ganzen letzten heißen Tage der letzten heißen vierzehn Tage. Im Grunde ist gutes Wetter, seit wir zu unserer Radtour aufgebrochen sind, also vor etwa drei Wochen, Himmelfahrt war's. Als wir dann auf Borkum waren, hieß es, jetzt wird das Wetter schlechter, aber das stimmte nicht, so wenig wie es heute schlechter geworden ist. Dabei habe alle von nichts anderem als dem zu erwartenden Unwetter geredet, das heute wüten sollte. Wahrscheinlich hat es zehn Kilometer entfernt gewütet, vielleicht fünfzig, ich weiß es nicht, aber die Diskussionen waren erhitzt. Meine BigBand Probe etwa wurde nach langem Hin- und Her, nach Abwägen der Risiken, Vor- und Nachteile in einer WhatsApp Gruppe schließlich abgesagt. Menschen, die dreißig Jahre jünger sind als ich, beklatschten das schließlich und sagten, sie seien auch total groggy. Was soll ich da sagen? Ich bin heute 25 Kilometer mit dem Rad gefahren. Natürlich habe ich geschwitzt, aber Fahren war immer noch angenehmer, als nur Herumsitzen in dieser Bruthitze. Ich hoffe, morgen wird es ein kühler, nicht, dass es gleich den ganzen Tag regnet, das wäre auch nicht gut, denn morgen ist mein erster Tag als Kutscher auf dem Kutschbock einer Elektrokutsche, mit der ich Touristen durch Münster kutschiere.


Fr 23.06.17 17:38 wechselnd bewölkt 23 Grad

Die Kutsche darf nicht vorm Rathaus parken, eigentlich soll sie nirgendwo parken, drei Minuten, sagen die, die es wissen müssen, höchstens drei, denn das Ordnungsamt der Stadt sei, gelinde gesagt, berauscht von seiner Ordnungsmacht, mit denen sei nicht zu spaßen, man müsse sich am Besten immer bewegen. Wir hatten die Parkposition noch nicht erreicht, als ich vor Stuhlmacher drei junge Frauen sah, Koreaner, wie sich heraussstellte, die interessiert zu unserer Kutsche hinüberschauten. Ich lächelte sie auffordernd an, schon hatte ich erste Kundschaft. Zwei junge deutsche Frauen kamen noch hinzu, so dass wir erst gar nicht erst parkend auf Kunden warten mussten. Ich lenkte, mein Vorgänger hielt die Reden. Er hat in fünf Jahren ein gewisses Repertoire entwickelt, er weiß, wo der Witz zündet, und nur der zündende Witz generiert Trinkgeld. Trinkgeld wiederum muss sein, denn der Kutscherlohn ist karg, mehr als karg, Mindestlohn. Und so zündete er einen nach dem anderen, wenige waren amüsant, aber sie funktionierten, was mir die Volksseele nicht sympathischer machte. Auf diesem Kutschbock werde ich also in den nächsten Tagen allein meine Runden drehen, dann mal sehen, ob ich mein eigenes Repertoire entwickeln kann, ob ich zum Beispiel der latenten Kunstfeindschaft, die allen deutschsprechenden Mitreisenden heute Konsens war (Kunst, wie, das ist doch keine Kunst), etwas entgegensetzen kann. Mal sehn, ich werde mir Mühe geben.

Sa 24.06.17 12:17 bewölkt 17 Grad

Zweimal Herr und Hund heute. Der erste ist noch keine dreißig, Hals und Schultern sind eine einzige Muskelmasse, durch Heben und Senken verschiedenster Metallgegenstände und allem, was der modernen Körperformung dient, modelliert. Ob auch Pülverchen konsumiert werden, wer weiß. Bei so einer Erscheinung kann man entweder entzückt sein, oder sich mit Grausen abwenden. In so einer Erscheinung stecken aber auch viel Arbeit und Geld, und ich nehme an, man darf keine Sekunde nachlassen, weiter zu inverstieren, denn haben sich solche Muskeln erst einmal an ihre Spezialbehandlung gewöhnt, wollen sie mehr und mehr, sonst fallen sie in sich zusammen. Der erste Herr wäre als Solitär ein zu diskutierender, ebenso aber auch zu vernachlässigenderer Selbstdarsteller, hätte er nicht diesen kraftstrotzenden Kampfhund an seiner Seite, der diesem Ensemble sofort eine Grundschwingung latenter Gefahr verleiht und sie diskreditiert, denn wer wollte es schon mit ihnen zu tun haben.

Der zweite Herr hat einen großen Teil seines Lebens bereits hinter sich. Er ist grau, und sein Gang ist schleppend, er trägt den Kopf gesenkt, wahrscheinlich ist das lange Leben dafür verantwortlich, es kann aber auch sein, dass sein Muskeltonus ihn in diese Richtung drängt, der eine geht aufrecht, der andere nicht, man muss nicht unbedingt auf ein hartes Los schließen, wenn man es tut, liegt man häufig gar nicht verkehrt. Obwohl es recht warm ist, trägt der alte Herr eine gesteppte grüne Jacke. Vielleicht ist ihm kalt, vielleicht ist es auch so, dass ein langes Leben dünnhäutig macht, nicht dickhäutig, wie manche glauben, ein langes Leben ist eben kein Scherz, ich weiß es von meiner Mutter, die 97 wurde. Vielleicht aber trägt er sie aus Solidarität mit seinem Hund, ein Schäferhund, meint man, einer mit langem, flauschigem Fell, ein schönes Tier, aber mit viel zu kurzen Beinen. Die beiden kennen sich lang genug, der eine läuft dem anderen und der anderen dem einen nicht weg, man wünscht ihnen, sie mögen gemeinsam sterben, das wäre schön.


So.25.06.17 21:14

nur zu
sagte der schlanke aal
greifen sie ruhig ans genital
die äälin lächelte und griff
dass es ihm aus den ohren pfiff


Di 27.06.17 9:49 bewölkt 16 Grad

Nun bin ich zweimal Kutsche gefahren, nur allein war ich noch nicht unterwegs. Mein Vorgänger meint, ich mache das genau richtig, müsse aber darauf achten, die Zeit für die Touren minutengenau einzuhalten, da wäre der Chef komisch. Es gibt sie in 20, 30 und 40 Minuten. Wenn das man einhalten will, muss man schnell fahren. Eile ist aber das Letzte, was ich will, wenn ich in eine Kutsche steige, sage ich zu meinem Vorgänger. Kutsche steht für Entschleunigung. Ich weiß, sagt er, aber er will es so. Am Sonntag hatten wir ihm die Kutsche gegen 15 Uhr übergeben. Es waren schon Gäste eingestiegen, Menschen aus dem Rheinland in gelöster Stimmung. Er setzte sich auf den Bock und raste los, wobei Rasen mit einer Kutsche bedeutet: 25 KmH. Am Nachmittag erfuhr ich, dass diese Gäste auf halbem Weg unter Protest aussteigen waren. Sie hätten nichts verstanden, heißt es. Das ist auch so eine Sache. Man kann nicht rasen und reden. Die Kutsche erfordert viel Aufmerksamkeit. Sie ist ein großes Gefährt, ihr Wendekreis ist dürftig, die Lenkung ohne Servo nicht leicht zu handhaben. Und wenn man dann noch auf Dinge hinweisen und von ihnen erzählen soll, muss man geruhsam fahren.


Do 29.6.17 bewölkt 19 Grad

Gestern habe ich mir eine Küchenwaage gekauft. Ich bin unter die Kalorienzähler gegangen, und wollte wissen, wie schwer eine Scheibe Dinkelvollkornbrot ist und ob Butterbrote wirklich so viele Kalorien haben, wie in der Tabelle angegeben. Hätten sie, ja, wöge eine Scheibe 100 Gramm, aber meine wiegen knapp 40. Also keine Gefahr von dieser Seite. Toast haben viele. Fleisch gar nicht. Kartoffeln auch nicht. Immer auf die 100 Gramm abgestimmt. Seit ich Kalorien zähle, weiß ich, dass ich viel essen kann, wenn ich darauf achte, was ich esse. Ich mache das jetzt erst einmal eine Weile, mal sehn, wie weit ich komme.

zum Juli 2017