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Hermann Mensing

Adam hat da nie gelebt

Als man noch analog fotografierte, ging man in ein Fotogeschäft, um Fotos entwickeln zu lassen.
In so einem händigte man mir 1986 Fotos aus, die nicht von mir waren.
Sie stammten von Roman Mensing.

Ich kannte ihn nicht, wunderte mich aber nicht sehr, denn Mensings gibt es da, wo ich lebe, nicht wenige. Ich brachte die Fotos zurück und nahm stattdessen meine eigenen mit.
Hermann Mensing stand drauf.

Den kannte ich.
Der war ich seit meiner Geburt, ein Mensing mit allen Fragen und Rätseln der Welt.
Den, der vor mir war, kannte ich auch. Ebenfalls ein Hermann. Mein Lieblingshermann, mein Vater, wie alle Väter ein wenig zu groß. Von dem Hermann davor (mein Großvater) hatte ich nur gehört. Man sagte, er sein herzensguter Hermann gewesen, jedoch cholerisch, wenn er getrunken hätte.

Über all die Hermänner davor (besser: Mensings) wusste ich nicht mehr Bescheid.
Ich wusste damals auch nicht, dass Mensing eine im niederdeutschen übliche patronymische Bildung auf "-ing" zu Mense = Mensch ist.

Mensing = Menschensohn also.
Das alles erfuhr ich erst später, viel später.

Da ich zwei Jahre durch die Welt gereist bin und im Laufe dieser Zeit Erfahrungen gesammelt hatte, die oft wie Zufall erschienen, im Rückblick aber auf Kausalität schließen ließen, hat es mich nicht wirklich gewundert, als im Januar 2008 plötzlich das Telefon schellte und ein Roman Mensing sich meldete.

Noch hallte das kurze Versehen beim Aushändigen von entwickelten Foto nicht wider.
Roman erzählte, er sei über einen Text, den ich zu den Skulptur Projekten Münster 2007 geschrieben hatte, auf mich gestoßen. Der Text habe ihm gefallen. Was ich davon hielte, ein wenig Ahnenforschung zu betreiben? Im Norden Hollands gäbe es einen Ort namens Mensingeweer, wenig südlich davon ein Landgut Mensinge. Wollen wir dort nicht zusammen hinfahren?

Gute Idee, dachte ich.

Wir verabredeten eine Reise im Frühling und beschlossen, dass der Tag unserer Reise auch der Tag sein sollte, an dem wir uns zum ersten Mal träfen.

Komisch, im September letzten Jahres war ich durch Zufall auf das Fotos eines Johann Friedrich Hermann Mensing gestoßen, Pastor, 1848 in Hannover geboren, 1911 in Wipshausen gestorben. Dieser Mann hatte frappierende Ähnlichkeit mit meinem Vater. Es war fast beängstigend.

Nach diesem Anruf begann ich, mich virtuell nach den Mensings dieser Welt umzuschauen.

Wo sonst als bei Google.
Die Suche dauerte 0,12 Sekunden und erbrachte 278.000 Einträge für diesen Namen.
Mein Name erschien auf Platz 5.
Das war mehr als gerecht, fand ich.
Den ältest verbürgten Mensing verortete ich 1370 in Coesfeld.
Bernhardus, mein Adam.

Ich stellte ihn mir vor: herzensgut.
Den Menschen wohl wollend. Fortschrittlich für seine Zeit.
Guter Mensch quasi Hilfsausdruck. (Falls sie Romane von Wolf Haas gelesen haben, werden Sie wissen, wovon ich spreche.)

Im März rief ich Roman an.
Wir einigten uns auf den 16. April 2008 für die Reise und hofften, dass das Wetter mitspielt.
Ich hatte in Mensingeweer längst Ansprechspartner ausgemacht, die bereit waren, uns zu empfangen und ein wenig durch ihr Dorf zu führen.

As is was supposed to happen, nennt mein im letzten Jahr verstorbener Lieblinsschriftsteller Kurt Vonnegut Jr. so etwas, womit der humanglobale Zufall in ein etwas anderes Licht rückt.

Natürlich hatte ich mich auch über Roman Mensing kundig gemacht.
Er fotografiert die Großen der Kunst. Auch das gefiel mir. Schließlich bin ich eitel.

Und dann kam der 16. April.

Mein Auto war getankt, die Nacht war frostig gewesen, aber die Sonne schien.
Es war acht, ich saß in der Küche, um Romans Ankunft nicht zu verpassen.
Ich wollte einen ersten, unbeobachteten Blick auf ihn werfen.
Um zehn nach acht fuhr ein Wagen vor.

Ich nahm meinen Rucksack und verließ die Wohnung.

Roman stand vor seinem Wagen. Ich rasterte ihn. Er ist etwa so groß wie ich, wirkt aber kleiner, denn ich bin kräftig, er hingegen ist schlank, eher ein wenig hager. Ich rasterte seinen Wagen, ein Opel Astra. Das sprach gegen ihn. Opel kämen mir nie ins Haus. Ich habe immer alte Autos gefahren, für Neuwagen war nie Geld da. Meine automobile Ahnenreihe: VW Käfer. R4. Peugeot 404. Peugeot 505. Peugeot 304. Volvo 440. Mitsubishi Galant.

Romans Astra war nicht besenrein. Das sprach für ihn.

My car or your's?

Wir nahmen mein Auto, denn Roman wollte fotografieren.
Etwa eine Stunde später rief er plötzlich: kannst du mal halten.
Wir fuhren auf der A 31 nach Norden. Der Grund seiner plötzlichen Bitte: ein großes Schild im Straßenbegleitgrün: das Emsland beginnt.
Ich hielt und hoffte, dass niemand auf uns aufführe und uns püriert.
Es wäre nicht schön, für ein Foto zu sterben.

Das Land nördlich der Ems ist weit und entsprechend ist der Himmel, der über ihm hängt. Ich mag das sehr. Ich kannte den Weg, aber Roman navigierte mit GPS. Er hatte das Gerät an meinen Zigarettenanzünder angeschlossen. Hin und wieder schlug Margot, so nennt er es, Abkürzungen vor, aber wir ignorierten sie. Margot schnappte nicht ein, sondern errechnete eine neue Route, was mich beeindruckte.

Unsere Gastgeber in Mensingewer erwarten uns schon. Tonnis und Ignace. Ein Paar. Sie wohnen auf einem Bauernhof. Mit ihnen sitzen wir bald in der Küche, trinken Kaffee, frühstücken und beschnupperen einander. Wir mögen uns.

Tonnis führt uns durch den Ort.
Mensingeweer
: 1317 erstmal urkundlich erwähnt.
Eine Straße, eine Straßenkreuzung, ein Kanal, eine Windmühle, eine Kirche, darin eine der berühmten Schnitker Orgeln. Tonnis hat Schlüssel für alles Sehenswerte.
Es ist frisch, das Meer ist nur 8 Kilometer entfernt.

Als noch nicht überall Brücken waren, pflegte der Friese die Kanäle mit langen Holzstäben (Polsstok) zu überwinden. Eine Vorform des Stabhochsprunges. Man darf davon ausgehen, dass hin und wieder jemand ins Wasser fiel.

Einmal, so die Legende, waren drei gelehrte Herren unterwegs, Botschafter der Namensgebung. Der dicke Stokkum, der lange Kortum und der schmale Bergum. Die drei kamen an einen Fluß. "Da spring ich doch locker drüber!" sagte Kortum, nahm seinen Polsstock und sprang hinüber. Um den anderen zu beweisen, wie einfach das war, sprang er gleich wieder zurück, und da rief Bergum, "daar heb je het mensch-ing al weer!"

Übersetzt: "Kuck, da ist der Mensch ja schon wieder!"

Mens ing weer. Mensingeweer.
Soviel zur Namensgeschichte. Adam hat also nie da gelebt.

Wir waren nicht enttäuscht. Wir wussten das vorher.
Unsere Reise sollte ja wert- und zweckfrei sei, eine Luxusreise sozusagen, etwas, das der Freude und nichts als der Freude dient, Mehrwert wollten wir damit nicht schaffen. Wir wollten einander kennenlernen, wir wollten gemeinsam einen Tag verbringen, wir wollten sehen, was der Zufall bringt.

Das Landgut Mensinge liegt etwa vierzig Kilometer weiter südlich, ist seit dem frühen 14 Jahrhundert aktenkundig und bewohnt, allerdings nie von jemand, der Mensing hieß.

Margot hatte vorgeschlagen, dem vom Bauernhof in Mensingeweer nach links in südwestlicher Richtung weisenden Feldweg zu folgen, und uns in den nun folgenden 45 Minuten mit sanften Hinweisen (in hundertfünfzig Meter rechts abbiegen, dann der N 376 folgen) durch ein Gewirr sich kreuzender, Grachten folgender oder überquerender, Kreisverkehre passierender Straße zielgenau in ein Wohngebiet und dort in eine Straße namens Mensinge geführt, die der Navigator als Zielort eingegeben hatte.

Wobei wir an einen Punkt gelangt sind, der jedem Computernutzer bekannt ist: der Computer ist von Natur aus dumm wie Brot und tut bekanntlich nur das, was man ihm aufträgt. Ein falsches Zeichen, ein Komma zuviel, ein Punkt zu wenig, ein Buchstabendreher, schon ist man zwar am Zielort, stellt aber dort fest, dass es der falsche Zielort war.

Inmitten dieses Wohngebietes also, auf der Straße Mensinge, programmierte Roman Margot neu, diesmal mit den korrekten Koordinaten, und in weniger als einer Viertelstunde waren wir vor Ort.

Mensinge: Ein wunderschönes Landgut.

Ich war beeindruckt, hatte ich doch auf der Fahrt vom Ausgangspunkt bis hierher soviel schöne Landschaft gesehen, so viel beeindruckende Horizonte, soviel Wald und Wiesen durchfahren, wie selten in Holland zuvor.

Natürlich hätte man diesen Weg auch per normaler Kartennavigation finden können, das aber hätte bedeutet, dass der Platz rechts neben dem Fahrer mit einem des Kartenlesens kundigen Beifahrer besetzt gewesen wäre, dessen ausgebreitete Karte den zur Verfügung stehenden Raum bis knapp vorm Lenkrad ausgefüllt hätte und zudem zu ständigen Diskussionen über jetzt gleich links oder nun rechts geführt hätte.

Wir waren spät dran, das Landgut Mensinge hatte schon geschlossen, aber da Fotografen mit professioneller Ausrüstung auf so gut wie jeden Eindruck zu machen scheinen (Neidfaktor?), gelang es Roman zunächst, das Gut zu besichtigen, und danach, den Koch und die Kellnerin der sehr schicken Cuisinerie Mensinge zu einem Foto zu überreden.

Ich, der andere Mensing, hatte mir das alles still angeschaut und mir einen Reim gemacht.


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