November 2006                                        www.hermann-mensing.de      

mensing literatur
 

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zum letzten Eintrag

 

Mi 1.11.06 17:45

Nach R.'s Geburtstag/ Same procedure as every year

Leichtes, hirninternes Drehen
weiche Knie, unsich'res Stehen
schlecht durchblutet, kalte Füße,
komm doch, wärm sie mir, du Süße...

 

Do 2.11.06  10:30

Nacktfrotz.

Keine ermutigenden Signale aus der Schule, in der ich in drei Wochen einen Hörspielworkshop veranstalte. Könnte ich nicht schon am Freitag der Woche vorher beginnen und dafür einen Tag früher aufhören, oder vielleicht die ganze Sache um einen Tag kürzen, oder.....

Und dann der Geheimtipp: es sind Türken in der Gruppe!!!!

Ich weiß, ihr meint es gut, ihr wollt mich warnen, aber glaubt ihr, ich hätte Angst vor Türken.
Leckt mich doch. Da würde man am liebsten zu Hause bleiben, oder????

12:05

Warum verlässt ein Türke seine Wohnung? Näheres auf You Tube, hier...

 

Fr 3.11.06   13:45

Know whatt, me rokket di house, me rokket about 200 kids of de Grundschule L. and guess, whatt di Rektorin said, hä, man: that was a good investment, she said, yes, ain't telling no shit, man, I and I tell di truth.

 

Sa 4.11.06. 12:14

Die Bühne ist schwarz und leer. Vorn links, mit dem Rücken zum Publikum, sitzt die Tänzerin. Sie trägt ein rotes Kleid. Auf ihrem Schoß sitzt eine Plüschente. Das Licht verlöscht. Die Tänzerin steht auf, stellt die Ente auf den Stuhl und zieht an fünf Stellen der Bühne mit einem an ein Messband befestigten Stück Kreide verschieden große Kreise. Ihre Spielorte. Dann bringt sie die Plüschente in den Kreis vorn rechts. Sie drückt auf den Fuß der Ente. Im Innern beginnt ein Mechanismus das Tier zu bewegen und von einem Chip ertönt: I'm singing in the rain. Dabei tippt die Ente mit dem linken Fuß.

Die Tänzerin beginnt. Sie tanzt kaum komplizierte Figuren. Sie leistet sich atemberaubend lange Phasen der Stille. Sie timt haargenau zu Musiken von Händel, Bach, Vivaldi, Bonky/Onno Borgen und Cat Stevens. Allen Figuren liegt eine heitere Harmonie zugrunde. Ich kann das spüren. Es ist ein sehr poetisches Tanzvergnügen. Ich könnte nicht sagen, worum es geht, ich habe keine Interpretationsangebote, ich verlasse mich beim Tanztheater immer nur auf mein Gefühl. Ein schöner Abend mit Frau M., die heute in Bremen ist. Die Tänzerin heißt Annamirl van der Pluijm, ihr Programm heißt Solo O. Zu sehen: heute abend im Pumpenhaus.

 

So 5.11.06   19:45

Hoffentlich kommt Großes, gleich, beim Konzert von Pendikel im Gleis 22.
Besser wäre: erwarten 'se nix.

 

Mo 6.11.06   8:45

Hatte es wohl im Urin gestern abend, denn Pendikel trat nicht auf. Der Sänger der Band lag wegen Krankheit darnieder. Verbrachte stattdessen ein relaxtes Stündchen mit meinem großen Sohn im Plan B., eine der Kneipen, die gestern noch ganz anders hieß, heute eröffnet, eine Weile boomt oder nicht boomt, und dann wieder verschwunden ist.

Das Merkwürdigste in der Kuschelecke, in der wir in Sitzsäcken mummelten, war die psychedelische Projektion an der Wand über uns. Feierte ein kleines Dejà-vu, jedoch nicht eines der Sorte, das man nicht oder nur vage verorten kann, sondern eines, das klar und deutlich auf einen Club verwies, in den ich Anfang der Siebziger hin und wieder fuhr.

Aber lesen Sie selbst....

Am folgenden Wochenende fuhr Meier nach Hengelo. Er wollte ins Fashion. Das Fashion war eine ehemalige Schule. Seit zwei Jahren war sie in den Händen einer Initiative, die den Bau von Grund auf umgekrempelt hatte. Erwachsene hatten keinen Zutritt. Drogen waren gestattet. Eddy war Kopf der Szene. Sein Vater war Direktor des Gaswerks.

Meier kannte Eddy schon länger. Er hatte ihm den Einstieg in den Fashion-Szene erleichtert. Für einen jungen Deutschen war das nicht ganz einfach. Aber es war ihm gelungen, wohl auch, weil er Holländisch wie seine Muttersprache sprach. Im Fashion gab es Räume, die nur einem kleinen Kreis zugänglich waren. Tageslicht war verpönt, die Wände waren grellbunt bemalt, Graffittis zogen sich im Treppenhaus aufwärts.

Die Teestube war der einzig ruhige Ort im Gebäude. Hier entspannte man bei Jasmintee oder stark gezuckertem Zimttee. Wer wollte, aß ein Müsli, das berühmte Fashion Spezial: Yoghurt, Haferflocken, Bananen, Nüsse, brauner Zucker und Honig,das richtige für die Munchies, die Zeit nach einem Joint, wenn man nichts lieber tat als essen, essen und nochmal essen. Smokers delight stand auf der Speisekarte: Yoghurt, Tee, Gebäck nach den heiligen Regeln des Yin und Yang gebacken, Energiebällchen, kleine Kugeln aus pürierten Datteln, Feigen, Nüssen und Honig.

Meier hatte Zutritt zum Allerheiligsten. Im Spiegelsaal traf sich, wer auf sich hielt und von anderen für Seinesgleichen gehalten wurde. Die Einlaßkontrollen waren penibel. Mißstimmigkeiten der Kleidung, fehlende Flicken oder die falsche Frisur riefen Mißtrauen hervor.
Meier im neuen Anzug hätte man ihn nie eingelassen. Aber damals stimmte alles bei ihm. Die Jeans waren präpariert, die Schuhe, hohe weiche Wildlederstiefel, die Boxerschuhen ähnelten, sein Parker, das unordentliche, lange Haar.

Er hatte Eddy auf einem Concert von Q 65 kennengelernt. Niemand ahnte, dass er das Fashion nicht überleben würde. Er war schlaksig und groß. Sein Gesicht war schmal. Er hatte ein Pferdegebiß und sah immer aus, als lächle er. Einmal hatte er Meier besucht. Obwohl er schulterlanges Haar hatte und abgerissen aussah, hatte er Meiers Eltern sofort für sich eingenommen.Er war ein 'grappenmaker', ein Witzbold, aber nur, wenn man mit ihm allein war.

Wenn er Hof hielt im Spiegelsaal war selbst das Lächeln, das seine vorstehenden Schneidezähne vorspiegelten, verschwunden. Bei Hof war er ein absolutistischer Herrscher. Eddy rauchte an, Eddy bestimmte, wie groß die Runde war, Eddy hatte Einfluß auf die Musik, die gespielt wurde und wählte die Frauen aus, die anwesend sein durften.

Der Spiegelsaal war bis auf Kopfhöhe verspiegelt. Eine Ecke war wie ein Amphitheater ausgebaut: vier, fünf Etagen, breite Treppen mit Perserimitaten, dicke Kissen, auf die man sich zurückziehen konnte. Dort knutschte man oder bestaunte die psychedelischen Farbkleckse, die ein Diaprojektor an die Wand warf. Selbst der Mann am Projektor, ein hohlwangiger Junkie, der in seinem Job aufging, war von Eddys Gnaden.

Als Meier am späten Nachmittag ins Fashion kam, saß Hannah in der Teestube. Sie gab kein Erkennungszeichen. Meier ging an ihr vorbei und setzte sich zu Hank, einer aus Eddys Hofstaat, ein stotternder, kräftiger Junge aus Zutphen, der seit Jahren davon träumte, ein Boot herzurichten und abzuhauen. Das Boot stand in einem verwilderten Garten und wartete auf seine Jungfernfahrt.
"Daag Hank." sagte Meier.
Hank begann von seinem Boot zu erzählen. Er sprach von nichts anderem.

Gegen sieben kam Eddy. Er ging auf Hannah zu, blieb einen Moment bei ihr stehen und fragte, ob sie Lust habe, sich mit ihm zu Hank und Meier zu setzen. Sie stand zögernd auf und kam mit. Meier ließ einen Joint kreisen. Hannah nahm ohne Zögern. Hank und Eddy sprachen miteinander. Meier lehnte sich zurück und hielt die Teestube im Auge. Hannah hörte den beiden zu. Schließlich standen Hank und Eddy auf, verabschiedeten sich auf später und verschwanden.
Einige Zeit war es still.

"Du kennst Eddy?" sagte Hannah.
"Ja."
"Woher?"
"Jeder Postbote kennt ihn."
"Red' keinen Blödsinn."
"Du kannst dich ja wegsetzen."

Hannah holte sich einen Tee. Meier überlegte, woher sie Eddy kannte. Dann kam Hannah zurück. "Und woher kennst du ihn?"
"War mal mein Freund." sagte sie. "Als dieser Laden noch meine Stammkneipe war."
"Findest du, dass es hier aussieht, wie in 'ner Kneipe?"
"Nein. Eigentlich nicht."

Meier wurde nicht schlau aus ihr. Sie unterlegte ihre Sätze mit knappen Gesten, die ihm gefielen. Sie hatten etwas italienisches. Die Gesten lenkten seine Aufmerksamkeit auf ihre Hände und von da wanderte er langsam hinauf zum Hals, zum Gesicht. Sie interessierte ihn. Kaum hatte er sich das eingestanden, war sein Mund wie versiegelt. Das ärgerte ihn. Jedesmal ging ihm das so. Frauen, für die er nicht das geringste Interesse empfand, verwickelte er in lange Gespräche, aber die, die ihn reizten, verschlossen ihm den Mund. Er wußte, von nun an würde er nur noch krauses Zeug herausbringen, stand auf und ging.
Hannah sah ihm nach. Sie fand ihn unmöglich, aber seine Figur gefiel ihm.
Und wenn er kein Postbote war, was war er dann? Sie beschloß, Eddy zu fragen.

Meier ging in den Spiegelsaal. Der Junge am Diaprojektor machte sich mit einer Pipette zu schaffen. Aus den großen schwarzen Boxen am Boden stampfte Musik. Meier zog sich eins der Kissen heran und blinzelte auf die Projektion. Eine schwere, blau mit rot verlaufene Farbblase platzte, neue bildeten sich, schienen Farbe von den Rändern an sich zu ziehen, vereinten sich zu einer großen, die wiederum platzte. Und so fort. Meier hatte nichts dergleichen gesehen, als er in Oaxaca magische Pilze aß, nichts dergleichen, bei den Trips, die er geworfen hatte, aber Farbprojektionen, darin waren sich alle Freaks einig, erweiterten das Bewußtsein. Wohin und wofür war nicht seine Sache herauszufinden. (1)

Soviel also dazu. Und nun wünsche ich einen schönen Montag.


Di 7.11.06   10:35

Me Borat watch. You know, world in catastrophic shape. You watch Borat. Your laugh panties wet. Great film. Sad world. Laugh at it. Better than not laugh. So go watch. Meanwhile me back in Kasachstan.

 

Mi 8.11.06   8:22

Wir waren den Ludgerus Weg gewandert. Der ist nur ein hunderttausendstel so lang wie der Jakobsweg, verspricht keine Erleuchtung oder genausoviel, wird dafür aber nur von einigen Joggern, Hundebesitzern und Menschen mit Sinn für frische Luft bevölkert.

Er führt aus dem Dorf hinaus, folgt einem feuchten Tal, links und rechts Buchen in Herbstfarben. Seit 1974 gehört er zu unserem Bild von Heimat. Damals gründeten wir die erste Wohngemeinschaft in Nottuln. Abends, wenn wir nach einem Bier in Maria's Quelle nach Hause gingen, wünschte man uns eine "charmante Nacht", weil man glaubte, in Wohngemeinschaften ginge es hoch her.

Hat man das Dorf verlassen, liegt der Mühlteich gleich links.
Seit damals also gehe ich diesen Weg mindestens einmal pro Jahr und noch nie hatte ich den Teich ausgetrocknet gesehen, der lehmige Boden von zentimeterdicken Rissen durchzogen. Auch der Bach, der durchs Tal fließt, das ein feuchtes Tal und Wassergewinnungsgebiet ist, lag trocken.

Ist das jetzt der Klimawandel?

Zurück im Dorf, in dem Martini Kirmes gefeiert wurde, aßen ich am Stand der Antoni-Schützenbruderschaft eine Bratwurst. Best Bratwurst in Town. Und als ich so saß und die Dörfler vorüberzogen, kam ein Türke. Der einzige weit und breit, ein Opa mit drei Enkeln. Er sah aus, wie man sich den Türken wünscht, wenngleich sein Schnauzer voller hätte sein können. Er ging an uns vorüber, unsere Blicken trafen sich, wir schenkten uns ein Lächeln, seine Goldzähne leuchteten. Auf dem Rückweg kam er noch einmal vorbei. Diesmal waren wir fast schon vertraut, wieder ein Lächeln und sein stolzer Blick auf die Enkel, mein einvernehmliches Nicken.

Gleich fahre ich mit der Regionalbahn nach Essen. Dort lese ich um 11 Uhr in der Stadtbibliothek Über-Ruhr und hoffe, ich mache das gut. Lust habe ich noch nicht, aber das kommt.

15:21

War ich gut?
Sie sagen, ja, sehr, ich sage, na ja...

Allerdings gelang es mir im Anschluss an die Lesung die Bibliothek durch geschickte Verhandlungsführung mit allen meinen noch erhältlichen Romanen (man hatte dort nur die Sackgasse 13) gegen Bares auszustatten.

Der Saal meiner Performance vor 100 Realschülern der sechsten Klasse war Teil eines an die Bibliothek angegliederten Bürgerzentrums aus den Siebzigern.

Tristesse en Gros. Hinter Falttüren, die mich vom Nebenraum abschnitten, rumorten alte Männer, die dort beim Kaffee saßen. Was sie sonst taten, brachte ich nicht in Erfahrung.

Der Saal war in genau bemessenen Abständen links und rechts unterhalb der Decke mit geschmackvollem Herbst dekoriert. Plastiklaub, Kastanien und Astern so weit das Auge reichte. Hinten links eine Bar. Bardamen waren allerdings nicht vor Ort. Hinter mir eine Bühne, darauf ein Tisch und ein Mikrofon, ich zog es aber wegen der Nähe zu meinen Hörern vor, nicht auf, sondern vor der Bühne zu lesen.

Erstaunlich die Konzentration der Schüler.
Kein Rucken, kein Schubsen, nichts von alldem, "gutes Umfeld", wie mir einer der begleitenden Lehrer versicherte.

Auf der Rückfahrt nach Münster sitzt auf der anderen Seite des Ganges ein Mann meines Alters, der die Orientierung verloren hat. Er hat sich verwildern lassen, trägt vier Dosen Warsteiner in einer Plastiktüte, durch sein Gesicht ziehen tiefe Furchen, ein struppiger Bart wuchert, der Mann stinkt nach Erbrochenem und Urin. Er starrt böse, dabei sieht er nicht aus wie ein Dummkopf, im Gegenteil.

Jetzt: Mittagsschlaf. Vorher noch diese Mail:

Guten Tag Herr Mensing,

wir freuen uns auf Ihre Lesungen vor Schülerinnen und Schülern des
M. Gymnasiums am ... Dezember 2006.
Leider haben wir die entsprechenden Unterlagen verlegt - und die eMails sind
inzwischen gelöscht worden.
Wir haben keine weitere Informationen zur Verfügung - außer Datum.
Sie würden uns sehr helfen, wenn Sie uns den Schriftwechsel, der zwischen
dem M. Gymnasium und Ihnen stattgefunden hat, mailen oder faxen würden.

Ganz herzlichen Dank und
freundliche Grüße

PS. Süß, oder. Ich mag ehrliche Menschen


Do 9.11.06   9:32

Schon seit einer Weile ist zu beobachten, dass die Amseln, Finken, Dompfaffen, die Meisen, Sperlinge und was es sonst noch zu sehen gab in den Büschen unseres Gartens, einer Überzahl von Rabenvögeln gewichen sind. Dohlen hauptsächlich, hin und wieder auch Saatkrähen.

Klimawandel?

11:00

Hier ein weiteres, erschütterndes Indiz für die fortschreitende Erwärmung unseres Planeten.
Die geplagte Kreatur sucht Schutz und Abkühlung.

 

Fr 10.11.06   10:25

Mein alttestamentarisches Herz hat sich beruhigt. Noch vorgestern gierte es nach Rache. Schießt diesen Glatzkopf vom Dach, schrie es, diesen Nazi-Ossi, diesen Kinderficker, macht kurzen Prozeß, statt ihm Tee zu servieren, lasst Sprechchöre aufmarschieren, Spring-doch, Spring-doch Sprechchöre, damit Ruhe ist und nicht nach zwanzig Jahren wieder ein Psychologe daher kommt, der ein Gutachten verfasst, das ihm Freigang gewährt.

Heute nun, Freitag bei Sonnenschein, hat sich der Jesus in mir durchgesetzt, dieses neutestamentarische Weichei, das jedem vergibt und die Schuld auf sich nimmt, diese Frühform des alles Verstehenden, der gutheißt, dass man jemandem, der eine Wand hochklettern kann, vierundzwanzig Stunden später bescheinigt, er sei verhandlungsunfähig.

Ruhig, sagt mein alttestamentarisches Herz, hätten sie ihn vom Dach geschossen, hätte es einen Riesenwirbel gegeben, wäre er freiwillig gesprungen, hätte er nicht mehr leiden müssen, denk doch mal so, denk doch mal, was ihm bevorsteht, wenn er in den Strafvollzug abwandert.

Was sie da mit ihm machen! Es gibt sie doch, oder, die Ganovenehre, es stimmt doch, dass der Kinderficker vom Taschendieb wie vom Mörder geächtet wird. Lass ihm also seine Verhandlungsunfähigkeit für ein paar Tage und wünsche ihm lebenslangen Bunker, das ist schlimmer als Tod.

Und wahrscheinlich lauert hinter dem MONSTER wieder eine Lebensgeschichte, die so unfassbar ist, wie das, was er getan hat.

Verwirrt, hin und hergerissen wie immer, hochachtungsvoll....

 

Sa 11.11.06   10:06

Er wieder, heute, gegen drei...

10:55

Kleines Beispiel für Alltagsrassismus:

13 Schüler nehmen an dem Projekt teil, (...), diese sind zwischen 13 und 15 Jahre alt und haben teilweise einen Migrationshintergrund. (aus einem Brief des Kulturamtes H.)

Jetzt die Gegenprobe, damit es ganz deutlich wird:

13 Schüler nehmen an dem Projekt teil, (...) diese sind zwischen 13 und 15 Jahre alt und teilweise Juden.


11:11

Mein Volk, ihr Narren, die ihr rote Nasen schätzt und
jedes Jahr die gleichen Messer wetzt und
gern vor Freude fremde Münder küsst:
Wie schön, dass ihr bald sterben müsst.

Beruhigend, liebe Narrhalesen,
dass ihr mit Pech und Schwefel in die Grube rauscht,
wie innig jeder des Pastoren Büttenrede lauscht,
als wären alle froh und ihr nie hier gewesen.

Mit hohlem Rumms setzt eure Kiste auf,
ein Luftballon fliegt still davon und Blumen sinken nieder,
der Pastor legt noch ein paar Schaufeln Erde auf.
Wir senken unser Haupt und sehen euch nie wieder.

 

So 12.11.06   00:15

Diese Jahreszeit macht ratlos.


13.11.06   11:45

Ich sah gestern den ersten Durchlauf für die dritte Soap-Folge, Premiere am Dienstag.Immer, wenn der beliebte Volksschauspieler sein Genie einbringt, wird es absurd, was an sich lustig ist, verlöre es nicht auf der Stelle den Bezug zum Text. Klamauk um des Klamauks Willen scheint sein Prinzip, aber da halte ich mich vornehm zurück, denn wahrscheinlich wird das Publikum johlen und wenn das Publikum johlt, johlt das Publikum und vergisst seine Sorgen. Und darum geht es doch, oder?

18:00

Nach eingehender Prüfung der Umstände entschloss ich mich heute, das Bett nur für Intermezzi zu verlassen. Eine gute Wahl. Schon gestern abend hatte ich mir eine flauschig weiße Trainingshose meines jüngsten Sohnes geliehen, um den Magen in keiner Weise und Lage einengen zu müssen. Meine eigene, weniger extravagante Trainingshose hing zum Trocknen auf einer Leine auf dem Dachboden. Die meines Sohnes, zu der eine ebenso weiße Jacke gehört, hätte mich, hätte ich damit die Wohnung verlassen, eindeutig als Hip-Hopper ausgewiesen.

Aber ich lag ja im Bett. Während sich draußen das Grau in verschiedenen Schattierungen ablöste, döste und träumte ich davon, der aufziehenden Grippe mit Bettwärme entgegenzutreten. Bis es am frühen Nachmittag an der Tür klingelte.

Ich verließ das Bett, ging zur Tür und öffnete. Feldwebel Tönis stand vor mir. Eine freundlicher Endzwanziger in taubenblauem Mantel mit rotem Barret. In der linken Hand eine Sammelbüchse der Deutschen Kriegsgräberfürsorge. Er sagte Guten Tag, ich sagte ebenfalls Guten Tag und gleich anschließend, er möge mich nun entschuldigen, wenn ich die Tür sofort wieder schlösse. Kein Problem, sagte Feldwebel Tönis, sicher härtere Ansprache gewöhnt. Und so verschwand ich wieder im Bett.

Was für ein schöner Tag.

 

Di 14.11.06   9:15

Sie werden den Dichter M. über die Jahre als furchtlosen, sich jedem Unrecht widersetzenden Don Quichote kennen- und lieben gelernt haben (oder auch nicht), hören Sie deshalb, was letzte Nacht geschah.

M., der bei jedem Wetter bei weit geöffnetem Schlafzimmerfenster schläft, wurde angegriffen. Eine der letzten Mücken der Saison (KLIMAWANDEL???) kam - durch M.'s köstliches Körperaroma wie auf einem Leitstrahl näher und näher geführt - von weit her, sirrte ins Zimmer, entdeckte seine linke Arschbacke, die, einer Gewohnheit zufolge, nicht von der Bettdecke bedeckt war, stach zu, trank unbotmäßig viel Blut und verschwand.

13:45

Sah gerade eine Mücke, die sich als Arschbacke getarnt hatte.
Auf solche Tricks falle ich schon lange nicht mehr herein. Tötete sie.

17:00

In drei Stunden ist Premiere.
You can call me Tattergreis today.

 

Mi 15.11.06   9:07

Ich erinnere mich deutlich, als mich zum ersten Mal jemand (das Rowohlt Lektorat) anrief, um mir mitzuteilen, man werde meinen Roman verlegen. Ich war außer mir vor Freude. Hochmut schwappte wie ein Tsunami über mich, ich sah mich auf seinem Scheitelpunkt in ein von Erfolg verwöhntes Leben surfen, im Hintergrund parkte der grüne Jaguar mit Ledersitzen und Edelholzfurnieren.

So eine Freude kehrt nie zurück.

Das zweite Mal wirkte schon viel weniger euphorisierend, beim dritten Mal winkt man professionell ab und fokussiert schon die nächste, im Hinterkopf sich entwickelnde Arbeit. Falls sie sich denn entwickelt.

Gestern abend also die dritte Folge der Soap. Ausverkauftes Haus.

Ausverkaufte Häuser sind gefährlich. Ab sofort bedeutet alles darunter Misserfolg. Jeder freigebliebene Sitz könnte vom Abstieg künden, weshalb ein Zustand des ewigen Aufstieges, wie er meine Karriere seit dreißig Jahren begleitet, hoffnungsvoller ist, als der eines sich ständig auf dem Gipfel aufhaltenden Künstlers.

Habe ich mich deutlich ausgedrückt?

Es scheint, dass unsere Soap sich in eine sich selbst erfüllende Prophezeiung verpuppt, die allerdings nie von uns formuliert, sondern von den Zuschauern zu einer solchen erhoben wurde.

Der Soap-Zuschauer feiert das, was er sieht und sich selbst.

Wir, die Autoren, saßen mit klopfenden Herzen und schauten zu, wie sich das Spiel auf der Bühne entwickelte. Kein Zweifel, jedem im Team ist der Spaß an der Sache anzumerken, die Profile der Figuren werden immer deutlicher, der Witz (so er denn nicht mit dem Hammer beschworen wird, wie in den beiden Szenen, von denen ich schon sprach und noch sprechen werde) funktioniert auch ohne den Soap-Club, der seine Animationsarbeit dieses Mal aber auf ein Minimum beschränkte.

Wohl Folge unseres Einspruches.

Der dritten Folge fehlte ein wenig das Fleisch an den Knochen, was aber uns, den Autoren, nicht den Schauspielern anzulasten ist. Das Publikum hat, falls man ihm trauen kann, davon nicht allzuviel bemerkt.

Sag mal, verehrtes Publikum, bist du wirklich so dumm?

Sie sehen, nicht nur ich bin hin- und hergerissen, wenn's um das Publikum geht, auch Tucholsky war es und jeder, der mit Publikum zu tun hat, ist es auf die ein oder andere Weise.

Die vierte Folge wird, das ist versprochen, wieder zulegen.

Vielleicht war es ja auch ganz gut, für die Dritte einen Gang zurückzuschalten.
Retardierende Momente seien das, sagte H., und wie immer, wenn große Worte fallen, muss ich nachschauen und mich vergewissern, was das denn letztendlich bedeutet. Man verzögert die Entwicklung. Man hält zurück. Man hofft, dadurch die Spannung zu erhöhen.

Was mir ganz und gar nicht gefiel (und jetzt bin ich bei den Szenen, die zu erraten ich meine Frau gebeten hatte und die auch prompt von ihr erkannt wurden) waren die beiden vom beliebten Volksschauspieler inszenierten Szenen.

Die eine ist ganz und gar nicht lustig.
Es gibt keinerlei Grund, zwei Schauspieler Oktoberrechnung singen zu lassen.
Die Inszenierung der zweiten ist zu Anfang textreu und insofern lustig, spätestens aber, wenn Cordula und Melissa über die Liebe sprechen, ist es vorbei mit lustig.

Heute Abend gehe ich wieder ins Theater.
Heute Abend schaue ich mir die dritte Folge noch einmal an, und ich wette fast, dass es runder laufen wird dieses Mal. Ich wette aber auch, dass das Publikum wieder johlt, und das ist mir dann und wann unheimlich.

Gleich danach werde ich ins Gleis 22 fahren und mir das Konzert von Lisa Germano anhören.

18:58

Das habe ich heute nicht gekauft: einen Kashmir-Pullover, ein Nichts auf der Haut, bildete aber meine Titten zu deutlich ab. Und den Bauch. Eine rotbraune Cordhose, war mir nicht rot-braun genug. Ein Hemd. War zu tailliert. Eine Canon-Digitalkamera. Hätte den Rat meines großen Sohnes nötig gehabt. Habe also nichts gekauft und viel Geld gespart. Stattdessen gegen Mittag ausreichend gefrühstückt, dann später dem ortsansässigen Alkoholiker und Galeristen S. in die Arme gelaufen, der mich in ein Schickimicki Café entführte, mich eineinhalb Stunden über die Geschäftswelt Münsters, über Großmänner, ihre Spielleidenschaften und halsbrecherischen Geschäfte briefte und mich anschließend in seine Galerie schleifte, um mir Karin vorzustellen, seine entzückende, vier Monate alte Jack-Russel Hündin.

Alles in allem also ein schöner Tag für einen streunenden Schriftsteller, der seit Wochen an einem Manuskript werkelt, aber den entscheidenden Karton, eine Art Wunderding, das ihm zwar vorschwebt und kurz vor Ankunft bei seiner Protagonistin ist, noch nicht zu Papier bringen kann.

Aber wie sagt der weise Westfale: kommt Zeit, kommt Rat....

 

Do 16.11.06   9:52

Aber heute nicht.
Heute wird die Erkältung gepflegt und das letzte Aufbäumen der Sonne, bis es Montagmorgen heißt: was machen wir jetzt, liebe Migranten der Gesamtschule H.?

Herr M. weiß es nicht, aber mit eurer Hilfe wette ich, dass wir etwas zustande bringen.

12:18

Die Rente ist gesichert. Die Rente ist nicht gesichert.
Die Arbeitslosigkeit geht zurück. Sie geht nicht zurück.
Die Wirtschaft ist optimistisch. Die Wirtschaft ist pessimistisch.

Jeden Tag immer das Gleiche.
Sie können sich vorstellen, dass ich das schon seit fünfzig Jahren nicht mehr glaube.
Aber eines (aber eins, aber eins, das bleibt bestehn....) glaube ich.
Eine schöne Meldung. Heute. Fett und an erster Stelle in allen Zeitungen:

DEUTSCHLAND IST SICHER.

Fanfare, wehende Deutschlandflaggen, dann, durchs Bild fliegend: Eurofighter, Tag und Nacht, sich aus Hubschraubern abseilende Soldaten, fahrend, Leopardpanzer etc., schwimmend: Zerstörer, U-Boote, die geballte Technologie deutscher Sicherheit, der ganze hirnverbrannte Mist....

Ein Glück, dass Deutschland sicher ist.
Ich hätte es sonst auch nicht ausgehalten hier. Es ist total sicher. Alles ist bombensicher. Geil.

13:16

Vor einer Weile lobte der Hanser Verlag ein Internet-Gewinnspiel aus.

Stellen Sie sich vor, hieß es, "wie die Romanfigur Jonas aus dem Roman Die Arbeit der Nacht von Thomas Glavinic wachen Sie eines Morgens auf und müssen feststellen, dass über Nacht alle Menschen und Tiere verschwunden sind. Was würden Sie an der Stelle von Jonas tun?"

Meine Antwort:

Ich traute mich nicht aus dem Haus. Ich versuchte, Kontakt herzustellen. Ich würde telefonieren und feststellen, dass alle Netze tot wären. Ich versuchte, über Radio und Fernsehen Signale zu empfangen. Es fiele mir schwer, einzusehen, dass niemand mehr da ist. Es würde Wochen dauern, eh ich mich halbwegs gewöhnt hätte und Zweifel wären nie auszuschließen. Dennoch - ich begänne nach und nach, meine Umgebung zu erkunden. Kreise zu ziehen. Mich mit allem Nötigen aus den Häusern und Geschäften der Verschwundenen einzudecken. Mich zu bewaffnen. Mich einzuleben in dieses Nichts.

Heute nun ein Paket von Hanser: ich habe den signierten Roman gewonnen.
Das freut mich, denn ich habe noch nie irgendetwas gewonnen, ich nehme nämlich selten an Gewinnspielen teil. Ob der Roman nun gut oder schlecht ist, werde ich hinausposaunen, wenn ich ihn gelesen habe.

Die ersten beiden Seiten jedenfalls hauen mich nicht vom Hocker.
Helden die Jonas heißen, finde ich weltfremd. Österreicher finde ich noch weltfremder.
Aber ich will den Tag nicht vor dem Abend verfluchen...

 

Fr 17.11.06   10:00

Es muss aufgeräumt werden. Es muss gestaubsaugt werden. Es muss gebügelt werden. Die Atemwege müssen frei werden. Das Denken aktiviert. Da es grau ist und feucht, steht dem nichts im Wege. Allerdings könnte ich mich auch wieder hinlegen und den Roman Der Halbbruder von Lars Saabye Christensen weiterlesen. Das förderte vielleicht meine Genesung.

Christensen kann das, was viele deutsche Schriftsteller überhaupt nicht können: Romane über das Leben schreiben, weil er es kennt. Witzig, tragisch, komisch, großartig. Vom gleichen Autor , auch wärmstens empfohlen: Der Alleinunterhalter und Yesterday, eine atemberaubende Familiengeschichte.

Draußen schneiden Männer mit gefährlichen Werkzeugen Sträucher, häckseln den Schnitt in einer brüllenden Maschine und veranstalten mit einem Laubpuster einen Radau, dass man töten möchte.

Was nun Lisa Germano angeht, ich kam von der zweiten Aufführung unserer Soap und konnte daher nur noch die letzten 30 Minuten ihres Konzertes im Gleis 22 hören. Sie wird höchst gelobt, kann nur bedingt Klavier spielen, mit dem Gitarre spielen ist es auch nicht weit her, aber sie hat Charme.

 

Sa 18.11.06   12:07

Angenommen, Sie wären in der Nähe und hätten nichts vor heute abend, angenommen, Sie hätten Mut genug, sich einer zutiefst verstörenden Performance auszusetzen, eines Tanztheaters, wie ich es noch nie gesehen habe, dann gehen Sie ins Pumpenhaus und schauen sich All is well von der Tanzcompagnie Club Guy & Roni an. Das ist ein Befehl.

 

So 19.11.06 14:55

Offensichtlich hatten sie keinen Mut, denn ich habe Sie nicht gesehen.
Ich entschloss mich gegen halb acht, die Aufführung noch einmal anzuschauen.
Muse M. hatte nämlich wieder alles verstanden, ich nichts, vielleicht, hoffte ich, könnte ich dem Sinn der Sache ja beim zweiten Mal auf die Spur kommen.

Musste jedoch passen.

Sah nur, staunte, fragte mich, wie man choreographiert, zählt man Metren, gibt es Hinweise durch die Musik, wie behält man all die komplizierten Schrittfolgen über mehr als eine Stunde?

Während ich also saß und zuschaute, wurde ich von einem Mann links neben mir mehrfach unwirsch gestoßen. Ich wunderte mich. Schließlich beschwerte er sich bei mir. Nach der dritten Beschwerde sagte ich ihm, dass er es sei, der mich berühre, nicht ich ihn. Worauf er die Arme verschränkte und nichts mehr sagte. Zu Ende des Stückes empfahl ich ihm, dringend eine Therapie zu machen, oder, besser noch, nie mehr ins Theater zu gehen. Er reagierte mit Schweigen. Mir war danach, ihm eins auf Maul zu geben.

Typ: mittelgroß, schmal, schwarzer Rollkragenpullover, dunkles, zurückgekämmtes Haar, schwarze Wenders-Brille.

Blieb noch eine Weile, kam mit Ensemblemitgliedern ins Gespräch, erfuhr, dass es ganz leicht sei, Abfolgen zu behalten, nein, man zähle nicht, man fühle nur, und ob ich gemerkt hätte, dass die Vorstellung ganz anders verlaufen wäre, als die vom Vortag. Hatte ich natürlich auch nicht gemerkt. Was mich am meisten erstaunte: alle Tänzer rauchten. Wie sie das nun hinkriegen, ist mir ein völliges Rätsel.

Fazit: heute Abend könnten Sie die Vorstellung noch einmal sehen und Sie sollten das unbedingt tun.

Morgen dann: Einsatz in Manhattan. Hörspielworkshop Herten.

 

Mo 20.11.06   14:37

Entspannter Workshopmorgen in Herten. Ergebnis unserer Arbeit bis Mittag ist der Titel des Hörspiels, das wir schreiben wollen: Der Schulball des Schreckens. Wie man sieht, toben sich in den Köpfen der 12 bis 14jährigen Schüler die Untoten der meist eher dümmlichen Horror-Literatur für Kinder aus.

Jeder Teilnehmer hat sich ein Pseudonym geschaffen. Aufgabe für morgen ist, diesen Pseudonymen ein wenig Hintergrund zu verschaffen, damit sie damit die zu erarbeitende Geschichte agieren können.

Ich glaube, das wird was.

Und was höre ich, als ich nach Hause kommen? - Hier gleich um die Ecke hat ein frustrierter Ex-Schüler einer Realschule die Schule gestürmt, um sich geschossen, mehrere Menschen verletzt und sich dann höchstwahrscheinlich selbst getötet.

Idiot!

21:13

Wir sind nicht spurlos. Wir ziehen hinter uns eine Spur wie das Kielwasser her, das sich nie vollkommen schließt, ein Riss in der Zeit, die wir so sorgfältig hinter uns legen. (2)

 

Di 21.11.06   12:38

Live aus Herten:

Ich ziehe den Schülern Satz für Satz aus der Nase. Der eine will dies nicht, der andere das. Ich versuche, das Hörspiel mit ein wenig Spannung zu füttern. Eine Schülerin schlägt vor, dass es einen Streit zwischen einem Jungen und einem Mädchen geben soll. Ein Paar muss her. Das Mächen soll in Tränen ausbrechen und auf der Toilette verschwinden. Aber niemand will das Paar sein. Also inszenieren wir einen Streit unter Gleichgeschlechtlichen. Immerhin, das geht. Der Schulball hat begonnen, es gibt Streit, jemand geht beleidigt davon, dann fällt der Strom aus.

Morgen sind 11 von 16 Schülern in den ersten beiden Stunden auf einem anderen Workshop. Dort wird getrommelt. Anschließend kommen sie hierher. Ob wir da noch etwas zustande bringen? Ich werde mir Mühe geben.

 

Mi 22.11.06    12:32

Wie es funktioniert, weiß ich nicht, aber mein Wireless Lan klinkt sich auch in Herten ins Netz, so dass ich live funken kann. Der Workshop ist vorbei. Morgen werden wir aufnehmen. Mit Hängen und Würgen haben wir eine haarsträubende Geschichte zusammen gestoppelt. Zum Glück habe ich einen Erzähler etabliert, der uns über Unerklärliches und in dieser Kürze nicht zu dramatisierendes Geschehen auf dem Laufenden hält.

Ich habe die Nase voll von dem Tempo und den Umständen, unter denen ich hier arbeiten musste. Ursprünglicher Plan war (so steht es in meinem Vertrag), dass mir eine Woche zur Verfügung stehen sollte. Da aber die Schule es wichtig befand, dass elf Schüler meiner Hörspielgruppe heute morgen erst ab zehn Uhr zur Verfügung standen, um vorher noch an einem Trommel-Workshop teilzunehmen und der Freitag als Präsentationstag reserviert- und somit für unsere Arbeit ausfiel, hatte ich letztlich nicht mehr als zweieinhalb Tage, in denen wir 9 Szenen schrieben.

Bei einer derart schlechten Planung zahlt man mir 2000 Euro.
Das wirft kein gutes Licht auf die Kulturarbeit dieser Stadt, oder?

Einer der Teilnehmer, F., erwies sich als ziemlich aufsässig.
Lieb war er schon, aber schwer in die notwendige Disziplin einzubinden, die man braucht, wenn man konzentriert arbeiten will. Ermahnungen und Bitten halfen kaum.

Gestern erzählte er mir von seiner Mosche, dem Koranunterricht und seinem Hodscha.
Wenn er dort nicht auspasst, wenn er Unsinn macht und vorlaut ist, kriegt er auf der Stelle eine Ohrfeige.
Das ist F.gewöhnt. Wenn er dann in der Schule ist, wundert es nicht, dass er Ermahnungen nicht ernst nimmt, weil er weiß, dass niemand ihn schlagen wird.

Ich drohte heute, ihn auszuschließen, ihn wegzuschicken und außerdem all seine Sätze aus dem Hörspiel zu streichen. Das machte Eindruck auf ihn. Danach war es besser. Aber witzig war es nicht.

Do 23.11.06   14:42

Alle sind böse. Deutsche vor allem. Juden. Schlitzaugen. Russen. Neger stinken. Türken kann man nicht trauen. Jugoslawen sind Messerstecher, Araber Terroristen, Amerikaner der Untergang. Nur ich bin gut. Und in meiner großen Güte, meiner allumfassenden Sorge für Sie und den Planeten ist es wichtig, dass ich Sie hin und wieder darauf hinweise, wer zu den Guten bzw. Unguten zählt.

Im Augenblick muss ich Sie vor Ballerspielen und Politikern warnen.
Ballerspiele führen zu Amokläufen.
Politiker schicken junge Männer in weltferne Gegenden, wo sie Suppen auslöffeln müssen, die andere ihnen eingebrockt haben.

Meist Amerikaner, die seit Gründung ihres Weltreiches und der damit verbundenen, leider nicht zu verhindernden Genozide ununterbrochen gut sind und auch dafür kämpfen. Also zum Beispiel dafür, dass Frauen ihre Titten nicht zeigen sollen, wenn sie stillen, oder dass Homosexuellen möglichst die Nudel abgetrennt wird.

Ich möchte aber auch vor Katholiken warnen, denn Katholiken dürfen neuerdings Kondome benutzen, was dazu führen wird, dass die Zahl katholischer Vergewaltiger, also all derjenigen, die über Jahrhunderte nicht dran - bzw. nur zum Zwecke der Fortpflanzung pimpern durften, wie Heuschrecken ausschwärmen werden und alles nageln, was zu nageln ist. -

Hm, vor wem muss noch gewarnt werden? -

Klar, vor der Erderwärmung, vor allem natürlich vor der Sonne, die jeden Tag aufgeht und Temperaturen verursacht, die so nicht länger hinzunehmen sind. Und zu guter Letzt muss ich sie vor Guten Menschen warnen. Es gibt nichts Schrecklicheres. Gute Menschen gehören ausgerottet, damit endlich Ruhe ist.

Da Sie unter Umständen zu den Guten zählen, wird Sie, nachdem Sie dies gelesen haben, höchstwahrscheinlich der Schlag treffen. Das ist nicht schlimm, denn es stärkt die Bestattungsindustrie etc. pp....

Sie wissen ja, wir sind global vernetzt, eins ist vom anderen abhängig, und natürlich müssen wir global denken.

Bis auf Herrn Stoiber, der muss das nicht, der will lieber den Bullen von Tölz als den Cop aus New York. Gut. Muss ich dazu auch noch was sagen? Nein. Ich glaube nicht.

Mein Hörspielworkshop ist beendet.
Heute haben wir fünfzehn Seiten Text aufgenommen, morgen gehe ich ins Studio, dort werden wir abmischen. Sie hätten mal sehen müssen, wie konzentriert die Schüler waren. Eine wahre Freude.

 

Fr 24.11.06   12:07

Hallo, Sie, Sie stehn auf meinem Bart,
könnten Sie vielleicht mal rücken,
oder soll ich sie in Stücken
zum Dinné servieren nach Pariser Art???

Angemacht mit Eiffeltürmchen,
mit ein wenig Seine und Place Pigalle,
exklusiv garniert mit Pillewürmchen,
und ner Prise Femme Fatal?

Nein, dass wollen Sie doch sicher nicht,
wer wollt' schon als Mahlzeit enden,
also
bitte - dann verlagern Sie jetzt ihr Gewicht,
sonst kann niemand mehr ihr Schicksal wenden.

14:21

Hin und wieder fragt sich der Mensch, woher er kommt, wohin er geht, und natürlich stellt er sich diesem Zusammenhang auch die größte aller Fragen: wer bin ich? Dümmer kann man kaum fragen, aber unsere Existenz scheint Dummheit geradezu anzuziehen. Wer nun wirklich wissen will, wer ich bin, darf sich seit heute mit dieser Antwort begnügen.

Ich (also ICH, 57 Jahre alt, eine Frau, zwei Kinder, die geliebt werden, ein gutes Herz haben und klug sind) ich bin DIGITALE BOHEME.

Ich kann sehen, wie Ihnen die Kinnlade auf die Brust sackt. Damit hätten Sie nicht gerechnet, nicht wahr? Ich auch nicht. Als ich's gestern im Radio hörte, war ich sofort begeistert. Endlich! dachte ich. Endlich kein dummes Herumdrucksen mehr, wenn es darum geht, mich zu verorten. Ein digitaler Bohemien tut genau das, was ich den ganzen Tag tue. Also. Finden Sie sich damit ab.

 

Sa 25.11.06   15:43

Als ich letzte Woche auf Marias Seite Links absurfte, stieß ich auf Jule, eine Weltreisende aus Berlin, glaube ich. Sie meldete sich aus Kathmandu und bereitete gerade die Weiterfahrt nach Lhasa vor. Jeder, der reist, hat meine Sympathie, es gibt nichts Besseres, wenn man jung ist. Also schrieb ich ihr eine Mail, wünschte alles Gute und empfahl mich, nicht ohne sie auf meine Notizen zu Staedten zu verweisen. Heute dann Post von ihr. Aus Lhasa. Knapp unterm Dach der Welt.

Ich hocke hier, die Nacht in den Knochen, denn seit gestern 18:00 bis heute 14:30 war ich in Carstens Studio, um dem Hörspieltext, der Montag, Dienstag und Mittwoch entstand, Beine zu machen.

Wir mischten Herzschläge, Bushido- u- Eminem Fitzel, Brian Eno zu unruhiger Bewegung und die Dracula-Titelmusik für das Grauen, frickelten einen Schrei hier und ein Geräusch dort ein, immer bedacht auf den Flow. Eine Stunde nach Mitternacht, wir bereiteten die letzten zwei Szenen vor, stieß ich beim Aufstehen mit dem Knie unter den Regietisch. Einer der Flachbildschirme fiel herunter.

Black.
Nicht mal eine Taschenlampe.

Wir fuchteln mit Feuerzeugen, Teelicht und einer Kerze zu den Sicherungen im Stall, aber die sind intakt. Also ist es die Hauptsicherung, die in der Wohnung des Bauern, und der schläft. Es ist sein Schweinestall, den Carsten in mühevoller Arbeit übers letzte Jahr in ein wundervolles kleines Studio umgebaut hat.

Also Feierabend. Mist.
Bange Frage: hat der Computer upgedatet oder ist alles futsch?

Fuhren nach Enschede. Tranken Tee. Rauchten einen Stick. Schliefen.

Heute früh um halb elf waren wir zurück. Der Strom floss, der Rechner war in Ordnung, der Monitor sah nicht ramponiert aus, wir wollten ihn aber nicht testen, weil der Bauer nicht zu Hause war und wir fürchteten, erneut ein Black auszulösen, wenn wir ihn anschlössen.

Arbeiteten mit einem Monitor weiter.
Jetzt steht ein Rough-Mix und ich bin stolz.

17:44

Geradezu begeistert bin ich von Veysel, ein 13jähriger, der den Erzähler spricht. Die Melodie seiner Muttersprache und die Sprache seiner Heimat mischen sich zu einem warmen Deutsch.

 

So 26.11.06   12:00

Ich habe es schon wieder getan.
Ich, der ich weder Filmhelden habe, noch über längere Zeiträume Filme erinnern kann, ich, der Filme als das nimmt, was sie sind, belichtetes Zelluloid, ein wenig chemisch/physikalische Magie zur Unterhaltung der Menschen.

Bis auf diese Ausnahme eben: Notting Hill.

Dabei ist es nicht die Schauspielerin, die mich bezaubert, ich habe sie in anderen Filmen gesehen, da rührt sie mich nicht mehr als andere. Es muss an den Dialogen liegen, am Schnitt, an der Geschichte. Mir trieft die Nase, ich kann fast jeden Satz synchron sprechen, und wenn Julia Roberts schließlich vor Hugh Grant steht und sagt, sie sei doch auch nur ein Mädchen, das einen Jungen bittet, es zu lieben, ist es mit mir und meiner Fassung endgültig vorbei. Ich sitze da und heule Rotz und Wasser.

Das passiert mir bei keinem anderen Film. Bei keinem.

12:55

Neu im Angebot unter Notizen zu Stadten: Durdle Door und Honolulu.

 

Mo 27.11.06   11:59

Und hier: Calgary, Cochin....

13:32

Die geballte Ladung Wäsche aus drei Waschgängen gebügelt.
Eigentlich bügle ich gern. Es beruhigt, aber heute war es mir ein wenig zu viel.

In den letzten zwei Tagen war der Abendhimmel voll gezupfter rosa Wolken.
Als ich Kind war, hieß es, die Engel backten (alt: büken) Plätzchen für Weihnachten.

 

Di 28.11.06 9:25

Fußnote zum Thema Gewalt, hervorgerufen durch Ballerspiele, hier: 1958

Die Bande bricht aus dem Gebüsch. Hans verharrt einen Augenblick und nimmt Haltung an.
"PÄNG!" ruft jemand aus dem gegenüberliegenden Fichtenwäldchen. Hans beeilt sich, den Heldentod zu sterben. Formvollendet, versteht sich, so, wie er sich das vorstellt. Wie es wirklich geht, weiß er nicht. Seine Eltern haben noch keinen Fernseher. Er weiß nur, wie es ist, wenn er schießt.
PÄNG! macht es, mehr nicht. PÄNG!
"Die Engländer! Da kommen die Engländer. Deckung!" ruft jemand.
Hans springt vom Sockel des Denkmals. Dass die Engländer kommen, überrascht ihn nicht. Seine Mutter hat oft erzählt, wie das war in den letzten Tagen des Krieges, damals, im Frühjahr 45.

Aber wieso es Engländer waren, ist ihm nicht klar.
Und warum sind sie durch den Garten gekommen? -
Hans verpasst den Denkmalhelden noch eine Ladung und sprengt mit seiner Einheit davon.

Ziel ist eine Eibe hinter der Berufsschule, sein Lieblingsbaum. Seine Nadeln sind so dicht, dass er sich zwischen den Ästen verstecken kann, ohne gesehen zu werden. Auf dem Weg hat er Steine gesammelt. Er wartet. Endlich kommt ein Passant.

Hans wirft ihm einen Stein vor die Füße. Der Passant stutzt, dreht sich um und sieht Hans ins Gesicht, ohne ihn sehen zu können. Hans legt an. Kimme. Korn. Schuß. Der Passant greift sich ans Gesicht, aber das ist nur noch Reflex. Es ist längst kein Gesicht mehr da, alles hat Hans ihm weggefetzt mit seiner Winchester Büchse.
Als er nach Hause kommt (an diesem Tag und an vielen ähnlichen Tagen) verrät nichts die zahllosen Morde, die er begangen hat.

13:06

Das Leben ist gefährlich.
Ein falscher Moment, schon haben Sie den Arsch zugekniffen, ohne es zu bemerken.
Ich hoffe, dass ich noch eine Weile unterwegs sein kann, aber natürlich weiß ich, dass ich nicht endlich bin.
Ich bin froh darüber.
Wenn ich es also hinter mir habe, morgen oder in 30 Jahren, möchte ich, dass dieses Lied gespielt wird.

 

In My Life

(Lennon/McCartney 1965)
Lead Vocal: John Lennon

There are places I'll remember
All my life though some have changed
Some forever not for better
Some have gone and some remain
All these places have their moments
With lovers and friends I still can recall
Some are dead and some are living
In my life I've loved them all

But of all these friends and lovers
There is no one compares with you
And these memories lose their meaning
When I think of love as something new
Though I know I'll never lose affection
For people and things that went before
I know I'll often stop and think about them
In my life I love you more

Though I know I'll never lose affection
For people and things that went before
I know I'll often stop and think about them
In my life I love you more
In my life I love you more


 

 

14:22

Die Teilnehmer meines Workshops in Herten

 

15:24

Neu: Kita Kyushu

 

Mi 29.11.06   15:00

INRI.
Jetzt muss nur noch alles verpackt werden.

 

Do 30.11.06   11:12

Karl trug sein Haar, wie ich es gern getragen hätte, schulterlang, aber meines wuchs nicht. Wir lebten in einer WG, damals, in Nottuln, als die Zeit aufbrach und wir glaubten, Liebe stünde zur freien Verfügung und freie Geister seien allemal in der Lage, Nichtigkeiten wie Eifersucht zu schultern. Wir ignorierten jeden Stich, jeden Blick, wir liebten, körperlich, und die Seelen, die Schaden nahmen, wurde verlacht. Sie waren reaktionär.

Unsere WG war ein fröhlicher Ort. Dort wurde getrunken. Dort wurde gekifft. Dort wurden Gläser gegen die Wand geworfen, weil wir das schon einmal in Griechenland so erlebt hatten und glaubten, ein zerschmettertes Glas sei Ausdruck unbändiger Lebenslust.

Wir wollten lustig sein. Während andere arbeiteten, studierten wir oder glaubten zumindest, unsere unregelmäßige Anwesenheit an der Hochschule habe etwas mit Studieren zu tun. Die meiste Zeit verbrachten wir damit, unseren Träumen nachzujagen. Im Stevertal hatten wir einen Stall ausgebaut, in dem standen Instrumente, dort vergruben wir uns Tage und Nächte.

Einmal, als der Jaguar E des Lindenberg Bassisten vor der Tür stand, der mit uns jammen wollte, glaubten wir uns schon am Rande des Durchbruchs. Unsere Band hieß KORN, unser Gitarrist Wendelin, der Bassist Plüff, Karl war der Keyboarder, ich spielte Schlagzeug.

Wenn wir nicht probten, nicht in Fantasien schwelgten, etwa, wie das Tal am Ludgerusweg haushoch mit einer wattstarken PA zuzubauen wäre, um von dort das Land zu beschallen, vertrödelten wir unsere Zeit. Karl begann, mit Lötkolben und Platinen seltsame Apparate zu bauen, Synthesizer, die keine Tasten mehr hatten, sondern Berührungssensoren. Die fertigen Instrumente funktionierten oder funktionierten nicht und sonderten seltsame Töne ab. Unser Wohnzimmer glich häufig einer schwer begehbaren Werkstatt. Manche lachten, aber Karl hörte nicht auf, diese Apparate zu bauen.

Gestern abend war ich in Carstens Studio, um mit ihm unser Hörspiel abzumischen.
Carsten fährt eines von Karls Programmen, Nuendo. Karl hat dieses Programm erfunden. Dieses und viele andere vorher. Hin und wieder sehen wir uns. Karl wohnt in Hamburg. Er ist verheiratet und hat zwei Kinder. Vor kurzem hat er seine Firma verkauft. Er lebt ein bescheidenes Leben, obwohl er reich ist.

Ich saß neben Carsten und schaute zu. Da seit Konrad Zuses erstem Computer alles nur noch Information ist, Bits und Bytes, denen egal ist, welche Informationen sie transportieren, lässt sich jedes Signal mit schnellen Handgriffen von hier nach dort und zurück transportieren. Atemberaubend ist das, wie akustische Signale sich verändern, verkürzen, manipulieren lassen. Einfach umwerfend.

Nach fünf Stunden waren wir fertig. Das Hörspiel ist abgemischt, das Cover ist montiert, die CD's sind mit Aufdruck versehen, gegen Mitternacht fuhr ich durch wabernde Nebel nach Hause.

Heute steigt der Rauch aus Schornsteinen senkrecht empor, die Sonne scheint, ich werde mich gleich aufs Rad setzen, zum Copy-Shop in der Coerdestraße fahren, um die CD Cover auszudrucken. Morgen beginnt meine weihnachtliche Lesetour. 14 Lesungen in knapp 10 Tagen. Ich freue mich drauf.


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1. Meier der Große, Roman, Hermann Mensing 1995 // 2. Der Halbbruder, Roman, Lars Saabye Christensen, btb 2001 Seite 326// 3. Einer bleibt gleicher, Roman, Hermann Mensing 1992 //

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