Juni 2003 www.hermann-mensing.de
mensing literaturMo 2.06.03 9:13
Wegen poröser Ich-Grenzen vorübergehend geschlossen.
21:44
Guten Abend Herr Mensing!
Was bitte soll dieser "Brief" an Wilhelm Genazino? Wenn er ernst gemeint ist, ist er eine Frechheit, wenn es ein Scherz sein soll, dann ist es ein flacher, mieser Scherz und würde mehr über Sie verraten als über den Adressaten.
Cornelia Leisering
Di 3.06.03 7:38
Notizen zu Hawai und den Hebriden.
16:25
Las vor 80 Kindern in der Stadtbücherei. Bin froh und glücklich. Aber Vorsicht. Das hält nicht lange.
Mi 4.06.03 8:08
Erfuhr gestern von meiner lieben Nachbarin X. Neues aus der Nachbarschaft. X. ist 30 Jahre alt und leidet unter Putz- und Waschzwang. Jemand habe sie gefragt, sagte sie, ob ich wirklich so übel gelaunt sei. Sie habe das bestritten. Sie halte mich für ausgeglichen. Allerdings fände sie mich zu dick. Und dass ich mit kurzen Haaren jünger aussähe.
Nach diesem erhellenden Gespräch nun ein Stimmungsbericht der örtlichen Presse zu meiner gestrigen Lesung, den ich - da ich nun weiß, wie mich die Außenwelt wahrnimmt - ein wenig modifiziert habe.
"Verängstigte Stille in der Bücherei" -
Lesen macht Kindern Spaß. Noch mehr freuen sie sich, wenn ihnen vorgelesen wird. Als gestern der dicke Roxeler Kinderbuchautor H. Mensing aus seinem neuesten Buch " Der zehnte Mond" vorlas, herrschte angespannte Stille im Zuschauerraum. Jeder wusste, wie aufbrausend M. seine Zuhörer peinigen kann. Wie er sie zusammenstaucht und beim Lesen spuckt und brummelt. Wie er unvermutete Pausen macht, um Kindern Kopfnüsse zu verpassen oder sie unter Drohungen nach Hause zu schicken.
Eine didaktische Unterweisung für die jungen Zuhörer? "Moral steckt hinter jeder Geschichte", erklärt der Autor. "Aber ich will die Kinder in erster Linie verängstigen, nicht unterhalten. Ich bin der Trauma-Mann."
Mensing sah auch bei seiner vierten Lesung in der Stadtbücherei nicht gut aus. Er trug einen Leinen-Janker, ausgefranste Replay Jeans, auf seiner Stirn waren tiefe Falten. Ein Glück nur, dass er jetzt wieder überall Zähne hat. Sonst wäre er niemandem zuzumuten.
Die Lesung wollte und wollte nicht enden. Erst, als die ersten Kinder sich weinend an ihre Lehrerinnen wandten, hörte Mensing auf. Alle waren zufrieden. Auch Mensing.10:50
Westlich von hier kennt er die Wege. Bis zum Meer könnte er fahren ohne zu fragen, jeden Fluss würde er kennen, jede Stadt, und die Menschen verstünden, was er sagt. Östlich von hier sieht das anders aus. Bis zum Stadtrand weiß er Bescheid. Über das, was dahinter liegt bis zum dicken B. weiß er nur so viel, wie der Autofahrer wissen muss, um nicht verloren zu gehen. Setzte man ihn auf ein Fahrrad, sähe das anders aus. Um diesen Zustand zu ändern, machten sie sich letzte Woche auf den Weg. Sie würden klein anfangen. Sie und er, denn das ist Teil der Abmachung, immer noch. Gemeinsam und klein. Sollen die anderen die großen Dinge erledigen, die lächerlich billigen Flüge in alle Welt, die Niedrigpreisreisen in ferne Vier-Sterne-Hotels all inclusive für ein Butterbrot. Sie werden den Teufel tun. Sie passieren den Zoo, kreuzen die Stadt, überqueren den Kanal und sind bald im Wald. Sitzen auf einer gefällten Kiefer, hören die Vögel im Dach hoher Buchen singen und staunen über den Bach, der sich mäandernd einen drei, vier Meter tiefen Graben gefräst hat. Verlieren sich zwischen einem Kleintierfriedhof und einer Mühle, speisen auf der Terrasse eines Waldhotels, treffen Gruppen radelnder Gleichaltriger, die dem Führer folgend Westfalen erkunden. Dürfen die das, fragen sie sich. Gehörte Westfalen nicht ihnen allein, zumindest all die Jahre vorher? Da hinten, der Fluss. Hinterm Fluss beginnt unbekanntes Land. Und sofort verfehlen sie den richtigen Abzweig. Radeln unter blauem Himmel zwischen weiten Feldern, bis schließlich die Sonne verdächtig schräg hinter ihnen ist, so dass er zu zweifeln beginnt. Die Karte gibt keinen Aufschluss, sie ist nur für Grobes gemacht, führt keine Namen im Schild, und so wissen sie nicht, wo sie sind. Folgen einem Weg, der an einem Hochsitz endet. Bauen sich Jäger also schon Straßen zum Abschuss! Sie sammeln sich und so wird klar, wo sie den ersten entscheidenden Fehler gemacht haben. Sie nehmen die etwas größere Straße in richtiger Richtung, sie kommen an eine Kreuzung, und sind wieder im Bild. Kommen ins nächste Dorf, nehmen den Faden auf und verlieren ihn gleich darauf wieder an verschwiegenden Ems-Auen, an toten Armen im sandigen Kiefernwald. Treffen den Mann mit zwei bildhübschen Hunden und der weiß, wo es lang geht. Als sie schließlich die Stadt der wundertätigen Maria erreicht haben, ein Ort für demütige Wallfahrer, die sich Hilfe erhoffen, Hilfe durch Autosuggestion, die bekanntlich die wirksamste Hilfe sein kann, haben sie fast fünfzig Kilometer zurückgelegt. Sie essen ein Eis. Sie trinken Wasser. Sie beobachten den alten Kirchendiener und die glänzend herausgeputzte Hochzeitskutsche vorm Kirchenportal, sie warten noch, bis Braut und Bräutigam sie besteigen, dann machen sie sich auf den Weg zurück. Noch vor Ortsende wird klar, dass der Sattel seines Rades nicht mehr zu fixieren ist. Er kippt über die Horizontale vor und zurück. Die Schraubenmutter ist rund von vielen Versuchen, sie fest zu ziehen. Wohl oder übel wird er die letzten zwanzig Kilometer auf dem Gepäckträger hockend zurücklegen müssen. Durch die Wöste. Durch den Kasewinkel. Vorbei an der Ziegenwiese. Die Radler vom Waldhotel kommen ihnen nun entgegen, haben den Weg anders herum genommen, und einer, der ihn so auf dem Gepäckträger radelnd sieht, ruft: Das Schwarze da vorn ist der Sattel. - Endlich. Die Stadt. Ein Campari an der Promenade. Und noch einmal, die letzten Kilometer. Das Unbekannte Land ist näher gerückt. Sie wissen jetzt mehr. Schon bald werden sie wieder aufbrechen. Zu zweit. Bloß nicht den Führern folgen. Keinem Ratschlag trauend. Denn sie wissen zu gut, dass nichts höher geschätzt wird unter den Menschen als der eigene Vorteil.
13:12
Horoskop für M.:
Trotz der Neider um Sie herum haben Sie keinen Anlass, jetzt nervös zu werden. Weil Sie Ihr Metier beherrschen, können Sie ruhig bleiben: Ihnen macht so schnell niemand etwas vor.Aha!!!
Do 5.06.03 12:27
Ob ich mein geplantes Massaker an Rundfunkredakteuren vorziehen soll? Gründe genug gäbe es. Die öffentlich-rechtlichen Geldverwalter hocken auf ihren Etats und bewachen sie eifersüchtig. Man muss lieb zu ihnen sein. Man sollte auch keine Widerworte geben. Hat man sie einmal verschreckt, vergessen Sie nie.
Am Besten, man findet es gut, wenn sie einen schon im Vorfeld darauf hinweisen, dass sie Einfluss (etwa auf ein Hörspiel) nehmen wollen.
Klartext etwa:
Sehr geehrter Herr Mensing. Schicken Sie doch bitte die ersten Seiten des ... und skizzieren sie den weiteren Handlungsverlauf, damit wir Einfluss auf den weiteren Verlauf nehmen können.
Man stelle sich vor, jemand würde einem Bildhauer vorschlagen, ihm in die Skulptur zu pfuschen. Radioredakteurinnen (meist sind es solche, Männer sind Mangelware in Redaktionen, die Literatur für Kinder in Hörfunk verwandeln) dürfen das. Sie beziehen Gehälter, sie ducken dafür zu allen Seiten, sie schlagen aus, sie mobben und schleimen. Kein Zweifel auch, dass sie die Weisheit mit Löffeln gefressen haben. Sie wissen einfach, was gut ist.
Aber warum rege ich mich auf. Es ist schwül. Es wäre besser, den Rest des Tages unbeweglich in einer Ecke hockend zu verbringen und ein virtuelles Fernmassaker zu verbrechen. Sehe schon Fetzen fliegen und Blut literweise aus Redaktionsstuben strömen. Wundervoll, wie da die Salven trocken einschlagen und die Hüter der Subventionskultur auf und davon jagen.
Nicht wahr, liebe Frau. Sie dürfen mich mal.
Ein wenig traurig stimmt mich, dass ihre Unterschrift eigentlich gar nicht dumm aussieht. Aber was weiß ich schon? Was weiß ich von festen Bürozeiten, Programmen und all dem anderen Mist.
Ich weiß nur, dass ich heute Morgen vor insgesamt hundert Kindern zweimal aus der "Sackgasse 13" gelesen habe. Mit allen Tricks, die mir zur Verfügung standen und stehen. Ein literarischer Unterhaltungskasper, der in Zeichen von Pisa motivieren soll.
Dreihundert Euro pro Lesung. Das, finde ich, geht in Ordnung.
Und da nun die Radioredakteurin endlich abgesagt hat (wofür sie drei Wochen brauchte, drei Wochen, um vier Seiten Text zu lesen und sich Gedanken zu machen ), könnte ich mit dem Roman beginnen, der sich - während ich, sportlich wie ich bin, auf eine Reaktion aus der Hauptstadt wartete - andeutete und von Tag zu Tag konkretisierte. Er würde so heißen, wie die zurückgewiesene Radioarbeit, und ich wette, dass ich ihn hinkriege. Und wenn er dann auf dem Markt ist, und wenn er erfolgreich werden sollte, hoffe ich, dass du, liebe Radiokulturschaffende, vor Eifersucht grün wirst.16:55
Vor dreißig Jahren diskutierte ich mit einem amerikanischen Jazz-Schlagzeuger eine Nacht über das richtige Sitzen beim Spielen. Wir rauchten dabei einen Joint nach dem anderen. Jetzt langsam weiß ich, wovon er damals sprach. Noch einmal zehn Jahre, und ich kann es selbst. Das ist eine schöne Aussicht. Zumal sie in keiner Weise auf Gelderwerb schielt. Ich bin froh, dass ich Schlagzeug spiele. Es gleicht den Stress aus, in den ich durch den Verkauf meiner Literatur manchmal gerate. Man sollte Kunst nicht verkaufen. Besser wäre, man bliebe bescheiden.
Fr 6.06.03 11:39
Vergnüglicher Text eines jungen Mannes:
Ich bräuchte mal gerade ganz viele Millionen Dollar, denn ich möchte einen Film machen, in Hollywood. Und das kam so: Sah gestern abend die großartige Literaturverfilmung 'Octalus', in der ein gigantisches Kreuzfahrtschiff von einem ebenso gigantischen Riesenkraken (oder vergleichbarem Vieh) heimgesucht wird, welcher nach und nach alle Passagiere auslutscht, natürlich bis auf unsere Helden.
Und da dachte ich mir, ich will folgenden Film drehen: Ebenfalls ein total dekadenter Luxusliner, riesig, nur Schickimicki an Bord und alles vom Feinsten. Sie fahren durch die Südsee oder so, als sie von einem Kraken heimgesucht werden: Er ist ca. 20 cm groß, kaugummifarben und total süüüüüß und niedlich, hat so tolle Glubschaugen, und er kriecht dann auf dem Schiff rum und grinst die ganze Zeit und lässt sich bestaunen und tätscheln und kriecht den Damen unter den Rock und sowas und alle finden es total lustig: "Hei, was für ein lustiger Krake das doch ist" und fragen den Kapitän, wo man sowas kaufen kann, sie wollen alle einen für zu Hause haben. Der Kapitän hat natürlich die totale Checkung und sagt, ne, besser nicht, das Viech sei ihm unheimlich, aber da kommt der kleine Charmeur gerade wieder durchs Bild gewabbelt und ist soooooo süß, dass dem Kapitän keiner mehr zuhört. Und wie es dann der Zufall will kommen Sie an einer Sandbank vorbei, und "Guckt Leute!" schreit ein besonders schöner Passagier (Großaufnahme), da sind noch ganz viele! Und die Leute kapern die Rettungsbote und holen sich jeder so einen süßen rosa Fratz von der Sandbank und spielen dann alle an Deck mit denen. Dann diese Szene: An ein paar Beispielen wird gezeigt, wie am Abend alle in den Kojen verschwinden, und die süßen Kerls dürfen natürlich auf dem Kopfkissen schlafen. Die Nacht bricht herein und am nächsten morgen sind alle Passagiere tot - ausgelutscht. Und die kleinen Tierchen sehen auch plötzlich ganz widerlich aus, übernehmen die Kontrolle über das Schiff und steuern auf New York zu. Happy End. (Jan Mensing)16:50
Klatschtanten, übergewichtige junge Frauen, verzogene Kleinkinder, Meerschweinchen und ein Kaninchen mit Hängeohren in unserem Garten. Ich schau lieber nicht hin. Ich hör lieber weg. Ich bin unsichtbar. Gar nicht da.
Sa 7.06.03 13:45
Letzten Mittwoch. Session in der Blechtrommel.
Kym Hatton, Gitarre - Hermann Mensing, Drums - Carsten Hoelscher, Bass
So 8.06.03 16:57Nun saßen sie und wussten nicht recht, ob alles zu seiner Zufriedenheit verlaufen war. Saßen und warteten, dass er endlich Nachricht gäbe. Zustimmende oder vernichtende, das war ihnen egal, wenn nur das Warten aufhörte. Sie selbst schätzten sich erfolgreich ein. Sie hatten doch gewarnt. Sie hatten in kurzen Böen vorgewarnt. Sie hatten dem Himmel genügend Zeit zur Vorbereitung gelassen. Sie hatten den Wolken Dampf gemacht und den Paukenschlägern. Aber ob die gekennzeichneten Bäume getroffen waren, die Getreidefelder flach gelegt, die Garage dort abgedeckt, das war nun nach geschlagener Schlacht nicht mehr auszumachen. Schließlich waren sie weiter gezogen und an Rückkehr war nicht zu denken. Würden sie also beim nächsten Mal doppelt auflegen? Ja, so sprachen sie miteinander. Würden statt eines Feldes die Felder einer ganzen Region verwüsten, würden statt der einen Eiche, deren Entwurzelung man ihnen aufgetragen hatten, einen kleinen Wald knicken wie man Streichhölzer knickte, würden einen Flusss fluten in kaum wahrnehmbarer Zeit, würden eine Überschwemmung verursachen, dass es sich gewaschen hätte, alles, alles würden sie tun und täten es nur zu seiner Zufriedenheit. Aber er sagte nichts. Er war weder zu sehen noch zu hören. Und so kam es, dass ihre Ungeduld sie unachtsam machte und die Schäden jedes Maß überschritten.
Mo 9.06.03 13:36
Und ist es nicht so, sagte er, dass die europäischen Mächte des fünfzehnten- und sechzehnten Jahrhunderts mit Beginn der Eroberung der Meere und Kontinente die Entwicklung der dortigen Gesellschaften von früher Leibeigenschaft über den Feudalismus bis hin zu den ersten sozialen Errungenschaften verhindert haben, sie bewusst in einem Zustand der Unterentwicklung gehalten haben, um sie desto besser ausbeuten zu können? Und tun wir das nicht noch heute?
Ja, antwortete der andere. So ist das.
Und, fragte er, warum sperren wir die Verbrecher, die eine solche Politik noch immer befördern, nicht hinter Gitter?
Nun, antwortete der andere, das würde schwer, denn diese verfügen über das Meinungsmonopol. Diese verfügen über gewaltige Propagandazentren, die gegen jeden Menschenverstand die Wahrheit verschleiern und umdeuten.
Aber was kann man dann tun? fragte er.
Ich glaube, antwortete der andere, man kann nur darauf warten, dass jene Gesellschaften, die weiterhin nichts als ihren eigenen Vorteil verfolgen, an sich selbst kollabieren. Und man darf sicher sein, dass dies früher oder später der Fall sein wird. Auch sicher wird man sein dürfen, dass die Umwälzungen, die daraus folgen, äußerst blutig und in der Geschichte der Menschheit zu Grausamkeiten führen wird, die alles Maß des Vorstellbaren übersteigen.22:26
Nachdem er mit dem Generalstaatsanwalt und dessen zweiter Frau Pellkartoffeln, Spargel, gekochten Schinken und Rührei gegessen und zwei Flaschen Müller-Thurgau getrunken hatte, erzählte die Frau folgenden Witz: Eine jüdische Mutter und ihr Sohn Jokkele sitzen am Strand. Das Jokkele spielt mit Förmchen. Plötzlich kommt eine große Welle und schwemmt das Jokkele fort. Die jüdische Mutter bricht in Wehklagen aus. Sie fragt Gott, warum ihr so etwas widerfahren müsse, habe sie nicht jeden Feiertag geheiligt und mehr. Gott mag nicht mehr hinhören und entschließt sich, ihr den Jokkele mit der nächsten Welle zurück an den Strand zu spülen. Die jüdische Mutter wirft darauf wieder die Arme zu Himmel und kreischt: Und wo bleiben die Förmchen?
Di 10.06.03 9:47
Noch immer war die Leinwand leer. Ein seltsames Kino war das. Manchmal zweifelte er, ob hier überhaupt noch Filme gezeigt würden. Aber dann sah er die Programmvorschau und seine Zweifel verstummten. Aber sie verstummten nie ganz. Ein Rest nagte still, und in solchen Momenten tat er nichts lieber, als sich lautstark die Zeit zu vertreiben.
11:25
Als er dann aber auf die Idee kam, hinter die Leinwand zu schauen, erlebte er Erstaunliches.
12:58
Er hatte Lautsprecher und Kabel vermutet. Die waren auch dort. Aber dahinter fand er drei Umzugskartons. Er öffnete sie. In jedem waren an ihn adressierte, versiegelte Briefumschläge. Nach einigem Zögern nahm er einen heraus und öffnete ihn.
14:04
Sehr geehrter Herr, las er. Da nun innerhalb weniger Tage sowohl ihre Tante als auch ihre Mutter verstorben sind, möchten wir Sie darauf hinweisen, dass es mehr als normal ist, zu vermuten, in diesem Kino würden nie mehr Filme gezeigt. Seien Sie jedoch versichert, dass das ganz und gar Ihrer subjektiven Einschätzung entspringt. In Wirklichkeit bereiten sich längst neue Filme vor. Verlieren Sie also nicht den Mut, während Sie sitzen und warten. Halten Sie es weiter mit Lao-Tse, der sagt, Nichtstun ist besser als mit viel Mühe nichts zu schaffen. Mit freundlichem Gruß .....
15.32
In anderen Umschlägen fand er Zettel mit Ortnamen. Darunter Berlin, Stockholm, Katmandu, Nottuln und Heimbach. Reisen? dachte er. Zeitreisen?
Mi 11.06.03 8:04
Außerdem fand er Briefe mit folgenden Ortsnamen: Tel Aviv, Kairo, San Francisco, Esquitla, San José, San Pablo del Lago....
10:12
Ist eine Wiederholung der erzählten Zeit möglich, fragte er den Urheber der gefundenen Briefe, denn das interessierte ihn sehr. Hieße das doch, eine Verlagerung all seiner Sehnsüchte an Orte mit fremd klingenden Namen, möglicherweise sogar die Verlagerung aller Langeweile dorthin. Dumm an der Sache war nur, dass kein Absender auf den Umschlägen stand. Aber wer weiß, vielleicht wird meine Frage erhört, dachte er, schließlich stellen Gläubige in aller Welt ständig Fragen an nur schwer zu ermittelnde, geschweige zu beweisende Personen, meist "Gott" genannt.
16:43
Gegen 16:43 tauchte dieser Text auf. Er war handgeschrieben.
1
Geige hatte kein Pferd. Geige hatte auch keine Pistole. Trotzdem ritt er in scharfem Galopp durch den Südpark und schoss um sich wie wild. Machte Bumm, riss am Zaumzeug seines Pferdes, sprang herab, warf sich auf den Bauch und schrie Ratatatatttt.
Eine Schlacht wie im Fernsehen.
Und je länger das ging, desto wilder wurde sie. Auch Geiges Flüche wurden wilder. Er sagte Sachen, die Mama und Papa besser nicht hörten.
Während Geige kämpfte, schlich sich Tilli von hinten heran. Tilli ist seine Zwillingsschwester. Sie ist eine halbe Stunde älter als er und hat rotes Haar.
"Du Geige?"
"Pssssst!" Geige wies mit ausgestrecktem Arm zum Nordrand des Parks. Dort stand eine Bank und auf dieser Bank saß jemand.
"Iiiii, der Schlitzer!" rief Tilli.
"Nicht so laut!" zischte Geige.
Der, den sie Schlitzer nannten, saß auf der Bank und rauchte eine Zigarre.
Weder Geige, Tilli noch sonst jemand wussten, wer dieser Mann war. Man wusste nicht einmal, wo er wohnt, obwohl Geiges Stadt doch gar nicht so groß war.
Immer trug er diese weißen, akkurat gebügelten Hosen, ebensolche Hemden, knallrote, handbreite Hosenträger, das faustdicke Schlüsselbund und den Dolch mit Hirschgeweihgriff, der aus der Seitentasche seiner Hose schaute.
Und dieser dicke, feste Bauch und die langen, fettig glänzenden, nach hinten gekämmten Haare! Und diese Brille. Eine Brille mit Gläsern, hinter der die Augäpfel groß und rund wie irre starrende Murmeln erschienen.
Alle fanden, so sähe ein eiskalter Verrückter aus. Alle erschauerten, wenn er irgendwo auftauchte. Alle trauten ihm alles zu.
Aber von den Mitgliedern der Milchzahnbande gab es auch welche, die hatten gehört, wie der Schlitzer ganz freundlich mit einer Verkäuferin an der Fleischtheke des Supermarktes gesprochen hatte.
Darüber dachten weder Tilli noch Geige in diesem Augenblick nach. Sie sahen nur zu, dass sie Land gewannen. Ohne Pferd, das ja doch nur ein eingebildetes Pferd war, ohne Waffen, ohne jedes Zögern rannten sie fort.
Als würde der Schlitzer Kinder fressen.
Zu Hause sagten sie nichts. Zu Hause passten sie auf, denn zu Hause herrschte seit einer Woche Alarmstufe Eins. Weder Tilli noch Geige wussten, was eigentlich passiert war, aber sie spürten, dass etwas im Busch war.
Schließlich hatten sie Augen.
Und die sahen, dass Mama und Papa sich mieden. Dass sie nicht wie sonst beieinander saßen und miteinander sprachen. Dass ihre Blicke sich selten trafen, und wenn, schaute einer sofort woanders hin. Sie stritten nicht einmal, und das machte die Sache ganz besonders unheimlich.
"Na ihr Zwillinge!" sagte Papa. "Alles im Lot?"
Geige schaute Tilli an. Er schleimt sich ein, dachte er, aber Tilli bemerkte das nicht. Tilli strahlte und sagte: "Ja, alles in Butter."
In diesem Augenblick schellte das Telefon. Geige stand direkt daneben, nahm den Hörer von der Ladestation und sagte: "Bei Wintrup, ja bitte?"
Am anderen Ende herrscht ein Augenblick Schweigen, dann sagte eine Frau: "Oh Entschuldigung, falsch verbunden" und legte auf.
Papa errötete.2
Geige saß in seinem Zimmer. Im Garten tobten Kinder. Alle waren zwischen drei und fünf Jahre alt. Geige fand sie furchtbar. Sie stritten ständig und machten Radau. Geige fand, dass sie verboten gehörten, schließlich musste er üben.
Das Kinn tat ihm weh, die Schulter tat ihm weh, die Hand, mit der er den Geigenbogen hielt, tat auch weh, aber Geige mochte sein Instrument. Er hatte sich darin verliebt, als er so alt war wie die Kinder da draußen. Die Geige hatte in einem Schrank gelegen und er hatte sie genommen. Hatte sie gehalten wie man eine Gitarre hält und die Saiten gezupft. Dieses seltsame Schwingen hatte ihn auf der Stelle gefesselt. Als Papa ihm zeigte, wie man mit dem Bogen über die Saiten strich und den Ton halten konnte, so lange man wollte, war es endgültig um ihn geschehen.
Seitdem nannten alle ihn Geige.
Geige hatte gerade ein Lied begonnen, als Tilli ins Zimmer kam. Flink und unheimlich leise hatte sie die Tür kaum einen Spalt breit geöffnet und war wie ein Schatten herein geschlüpft.
"Geige?"
"Hau ab Mathilde!"
Wenn er Tilli ärgern wollte, nannte er sie Mathilde, Tillis Taufname.
"Aber es ist wichtig, Johannes!" konterte Tilli. Das war Geiges tatsächlicher Name. Er hätte ihn sicher längst vergessen, wenn die Lehrer ihn nicht so nennen würden.
Geige ließ den Bogen auf der e-Saite tanzen, was einen merkwürdig hohen, zittrigen Ton ergab. "Ach ja?"
"Es ist wegen dem Schlitzer."
"Was ist mit ihm?" Geige legte den Bogen auf seinen Schreibtisch und die Geige daneben.
"Ich habe ihn in der Stadt gesehen."
"Ja und?"
"Mit so einer Frau."
"Wie - mit so einer Frau?"
"Mit einer Frau eben."
"Ja und?"
"Aber sie sagen doch, dass er auf Männer steht."
"Auf Männer und Kinder", sagte Geige, nahm sein Instrument wieder vom Schreibtisch und wollte weiter spielen. Aber Tilli ließ nicht locker. Tilli fragte, ob er das genau wisse und Geige antwortete, dass niemand etwas Genaues über den Schlitzer wisse, deshalb wäre er ja der Schlitzer.
Tilli schien zufrieden und ging. Geige spielte noch ein bisschen, dann hörte er auf.
Do 12.06.03 9:09
Als er den Text am Morgen noch einmal las, war er fast sicher, dass das Kino, in dem schon so lange keine Vorstellung mehr stattgefunden hatte, kurz vor seiner Neueröffnung stand. Zufrieden setzte er Kaffee auf, bereitete sich ein kleines Frühstück, trug alles auf den Balkon, legte eine CD in den Player und beschloss, von nun an wieder Herr über erzählte- und Erzählzeit zu werden. Das versprach vorübergehende Linderung, denn das Leben war auch für Illusionisten nicht einfach, und natürlich ist es wahr, dass gerade die Größten ihres Faches die schwersten Lasten tragen. Der Kaffee kochte. Er lief in die Küche, während der Pianist Mehldau in eines seiner ausufernden Soli geriet, von denen man nie sagen konnte, wie und ob sie endeten. So ähnlich würde es ihm mit dem gefundenen Text gehen. Wie jedes Mal. Wie immer aufs Neu und wie immer ein Wunder. So versehen mit den heiligen Tröstungen der Autosuggestion (wir sprachen darüber) beschloss er, sich an die Arbeit zu machen.
PS: Was nun die Notizen zu Städten angeht, glaubt er folgendes sagen zu können: da sich dort in den seltensten Fällen Angaben zur Zeit finden, obliegt es dem Leser, das Geschehen seiner eigenen Zeit zuzuordnen. Auf wunderbare Weise erlangt er so eine Autonomie, die ihm sonst im Strudel der an Zeitereignisse gebundenen Nachrichten vorenthalten wird.
PPS: Mehldau spielt noch. Die Sonne scheint. Die Finken schlagen. Amseln singen. Das Leben ist schön.16:21
Zedern stehen dort, Blutbuchen, Buchen und Linden inmitten eingeebneter Gräber, die jetzt Wiesen sind, hier und da zeugen noch Grabsteine vom Vergangenen. Er kannte die alten Wege noch, die er gegangen war, wenn er mit der Mutter das Grab der Oma besuchte. Die Oma und die älteste Schwester, die im Alter von drei Jahren gestorben war. Beide hatte man hier beerdigt. Er nahm die erste Urne, öffnete sie, hielt sie weit von sich, hielt sie schräg und vollführte zwei, drei heftige Drehungen um die eigene Achse, fand sich in feinem weißen Staub stehend, nahm die nächste Urne, wiederholte den Vorgang, und so sind sie nun vereint, Vater, Mutter, Tante, Oma, Schwester, in schnellen Drehungen irgendwo hinter den Bergen, bei den sieben Zwergen. Und ihm ist ein Stein vom Herzen gefallen. Und als wäre es so verabredet, läuteten die Glocken der Kirche, als er den alten Friedhof verließ. Läuteten eine geschlagene Viertelstunde.
17:04
Wie könnte ein Illusionist einen Tag besser beschließen als so: Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.
Fr 13.06.02 13:39
Das Land stellte sich in Reih und Glied, verdunstender Nachtregen schwebte noch zwischen den Ähren der Gerste, junger Mais schien frischer als gestern, das Laub der Bäume hing schwer. Und so fuhr er, überquerte den Kanal, fand den Ort, den er suchte, las vor fünf Klassen, stellte fest, dass seine Kurzgeschichten Grundschülern doch noch ein wenig voraus sind, trank düsteren Kaffee während der großen Pause, der ihm noch jetzt im Magen rumort, kehrte zurück und schlummerte im abgedunkelten Zimmer. Dann rief er die Lehrerin an, die ihm letzte Woche versprochen hatte, aufzulisten, wer von den Schülern der Thomas Morus Schule Bücher von ihm kaufen will. Erstaunliches ist zu berichten, so erstaunlich, dass er den Versuch, nach seinen Lesungen Bücher zu verkaufen, unbedingt aufrecht erhalten will. Aus diesem Buch las er vor: Sackgasse 13 (26 Exemplare) Voll die Meise (6) Flanken, Fouls und fiese Tricks (8) Große Liebe Nr. 1 (6) Der 10 Mond (3) Der heilige Bimbam (2). Kann man also auch an einem Freitag, den 13. Juni behaupten, das Leben sei schön? - Ja. Man kann. Man kann alles behaupten. Als Illusionist lebt man geradezu von Behauptungen.
Sa 14.06.03 12:01
Während es durchaus vorkommen konnte, dass er für Augenblicke vergaß, was er am Vorabend getan hatte, kam es nie vor, dass ihm entfiel, worauf er seine Existenz gründete und warum. Tag und Nacht war ihm gegenwärtig, dass er am Tisch der Gewichtigen noch immer nicht zugelassen war und dass seine täglichen Äußerungen auch nicht dazu angetan waren, ihm den Zugang zu erleichtern.
Einerseits erfüllte ihn das mit Freude, andererseits verdarb es ihm den Schlaf.
Müßig, weiter darüber zu sprechen, wäre an jenem Morgen nicht dieser Katalog gekommen, die Neuerscheinungen des Herbstes. Er war mit einem Roman darin vertreten, aber seit er sich dort Jahr für Jahr wiederfand, etwas, worum andere ihn möglicherweise beneideten, war das Gefühl, das sich nach Durchsicht in ihm ausbreitete, immer dasselbe: er mochte seinen Verlag, er fühlte sich wohl dort, aber er wünschte sich eine bessere grafische Präsentation. Dass man seinen neuen Roman mit "Liebe über Grenzen hinweg" - "atemlos erzählt" - "mit Lesezeichen und Postkarte zum Heraustrennen" anpries, gefiel ihm überhaupt nicht.
Hätte da nicht anderes stehen müssen?
Etwa, wie großartig das erzählt sei, wie wichtig und unbedingt zum Kauf empfohlen, ja, dass es geradezu unumgänglich wäre, ihn jetzt und sofort auf den Olymp zu katapultieren, auf dass er dort oben vor Ruhm und Einsamkeit vergehe?
So sehr er sich also anderes vorstellen konnte, so froh war er, dass er nicht zu denen gehörte, die Serien produzierten. Serien, das hatte ihm schon die protestantische Buchhändlerin aus Lingen/Ems damals beschwörend gesagt, seien für einen Kinder- und Jugendbuchautor geradezu überlebenswichtig, sie bildeten das Fundament für Wiedererkennung und Kauf. Serien über Fußball, Serien über kleine Detektive, Serien über Geister und Burgen, wohin man schaue: Serien.
Gern erinnerte er sich, dass seine Lieblingslektorin, die, der er den Zugang zum Verlag zu verdanken hatte, ihm geraten hatte, niemals Serien zu schreiben. "Tu das nicht!" hatte sie gesagt, und er hatte sich daran gehalten.
Er würde das auch weiterhin tun.
Die Kurve seines Erfolges wies bescheiden nach oben. Verwalter der öffentlich geförderten Kultur waren auf ihn aufmerksam geworden. Er würde also die Ruhe bewahren müssen. Er würde sich bescheiden müssen. Eines Tages, und sei es posthum, würde man ihm die Ehre erweisen, die ihm eigentlich völlig egal sein sollte.
Aber so ist es mit seiner Eitelkeit.
Er könnte sie bekämpfen, besiegen würde er sie nie und nimmer.
Und so hofft er, vor allen anderen Konkurrenten das Ziel zu erreichen, was immer das Ziel sein mag. Schade, dass er es nicht besser weiß, wo er es doch viel besser weiß! Wo er doch erst vor ein paar Tagen gesehen hat, dass sich am Ende alles in weißen Staub auflöst, dass höchstens ein Kalkgranulat bleibt von allen Sorgen, die man sich macht, während man lebt. Schade, dass das Eine und das Andere sich meist kategorisch ausschließen.
So it goes, pflegte sein Ziehvater Kurt Vonnegut Jr. zu sagen.
Und er? -
Freute sich, denn nun war ihm auch wieder eingefallen, was für einen angenehmen Abend er am Vortag verbracht hatte, wie es ihm gefallen hatte, mit seiner Frau, seinen Söhnen und der Freundin seines ältesten Sohnes zusammen zu sein, mit ihnen zu essen und möglichst blöde Witze zu machen. Könnte es also sein, dass er für Augenblicke zufrieden ist?15:24
dämliches aus dem hause men-sing:
kneift dein arsch die augen zu, schläfst auch du in tiefer ruh.
(mehr davon)
So 15.06.03 19:23
Ich scheiß, wenn ich nicht scheiß.
Mo 16.06.03 7:53
Wie wir aus informierten Kreisen soeben erfahren, hat sich in die Aufzeichnungen des Vortages ein Fehler eingeschlichen. Tatsächlich muss es heißen: Ich weiß, dass ich nichts weiß.
Wir danken Ihnen für Ihr Verständnis.13:34
Heute gegen zehn schellte das Telefon. M. nahm ab. Ein Herr Sch. fragte, ob es sich bei ihm um den Schriftsteller M. handle, dessen Foto vor ihm läge? Ja, antwortete M. wahrheitsgemäß, das glaube er schon. Nun, da sei man aber froh, fuhr Herr Sch. fort, denn die Stadt T. und die Sparkasse M. plane eine Veranstaltung zur Leseförderung und nun wolle man wissen, ob er, der Schriftsteller, der, der ausgewiesen für Kinder und Jugendliche schreibe, bereit, willens und fähig sei, in der Stadt T. an noch zu vereinbarendem Ort zu lesen. Natürlich, antwortete der Schriftsteller, jederzeit gern. Aber er habe zu klarerem Verständnis noch eine Frage: wer denn nun der Veranstalter sei? Die Sparkasse, sagte Herr Sch. Aha, sagte der Schriftsteller, verstehe. Was denn so eine Lesung koste?, fragte Herr Sch. nun. Der Schriftsteller nannte seinen Preis. Herr Sch. hatte offenbar mit sehr viel weniger gerechnet, wurde kleinlaut und verabschiedete sich ohne weitere Erläuterungen. Ob er nun zurückrufen wird, scheint dem Schriftsteller M. fragwürdig. Er glaubt eher, dass Herr Sch. sich nun an eine der vielen schreibenden Mütter wenden wird, die landauf- landab dilettieren, glaubend, die Tatsache, Kinder gebären zu könne, qualifiziere sie auch zum Schreiben von Kindergeschichten. Herr Sch. wird einer solchen, vom Glück der Nachfrage überwältigten Mutter ein Angebot machen, dass gegen die guten Sitten verstößt, dennoch wird die Mutter auf der Stelle zusagen und für 50 Euro eine ihrer grauenhaften Geschichten zum Besten geben, gut möglich, dass sie sich dabei von einer Querflöte oder Geige spielenden, ebenfalls kreativen Höchstleistungen anstrebenden Zweitmutter begleiten lässt. Die örtliche Presse wird diesen Auftritt wie alle übrigen Auftritte malender/schreibender/musizierender Mütter/Väter und sonstiger Möchtegerne hoch loben und Herr Sch. wird glauben, er habe ein gutes Geschäft gemacht. So verzerren sich die Ansichten, was gut und was gut gemeint ist, immer mehr, und die tatsächlichen Hochleister ihres Faches werden für ihre Preisforderungen zunehmend belächelt.
15:22
Während Glockenläuten anzeigt, dass wieder jemand zum Vermodern im Boden versenkt wird, geht M., von der Post kommend, wo ihm Frau G., die dort seit Jahr und Tag arbeitet, einen längeren Vortrag über das Wegsehen moderner Mütter bei von ihren Kindern verursachten Schäden gehalten hat (Herr Mensing, die kucken böse, wenn ich ihnen sage, die Kugelschreiber, die ihre Kinder gerade auseinander nehmen, seien zum Schreiben und nicht zum Auseinandernehmen da!), nachdenklich die Straße hinab und wird, kurz bevor er seine Haustür erreicht, von der lieben Nachbarin C. angesprochen, die auf dem Balkon sitzt, um die Hausaufgaben ihrer 14 jährigen Tochter zu überwachen und/oder notfalls selbst zu lösen. C., die ihre Sätze gern aus dem Nichts auf völlig Unvorbereitete abschießt, überrascht ihn auch diesmal. Dein Sommerfest, sagt sie, könntest du den Termin dafür mit mir absprechen, denn meine Mutter will kommen und wenn dann gerade Sommerfest ist, da weiß ich nicht, da wird die verrückt. Ach, weißt du, mir ist gar nicht nach Sommerfest, sagt M. beruhigend, erläutert wieso und warum und will weitergehen, aber da hat C. schon begonnen, ihm eine Rede über ihre Mutter, die berufliche Belastung ihres Mannes und das Übelwollen ihrer Mutter im Hinblick auf die Wahl ihres Mannes zu halten, die in der rhetorischen Frage mündet, ob es denn pervers sei, dass sie diesen Mann geheiratet habe. Dazu will M. sich nicht äußern, woher soll er das schließlich wissen, aber C. beharrt auf Antwort und M. entschließt sich zu einem kleinlauten "wohl nicht", bereitet seinen Rückzug vor, wird aber noch weiter von Sätzen verfolgt, deren Sinn sich bei zunehmendem Abstand glücklicherweise verflüchtigt, womit nicht gesagt sein soll, dass er in der kurzen Distanz vorhanden gewesen wäre.
Di 17.06.03 11:28
Noch Monate langem Streit im Bundestag und wachsender Unruhe in der Bevölkerung käme es heute zu spontanem Aufruhr im Land. Man wäre nicht länger bereit, die Kosten der Globalisierung, die auf den Schultern der Arbeitnehmer lägen und sie von Tag zu Tag mehr belasteten und bedrohten, zu tragen. Man wolle sich auch nicht länger als feige diffamieren lassen, falls man nicht bereit sei, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und Ich-AG's und ähnliches zu gründen. Man begreife nicht mehr, wo all das Geld bliebe, das doch offenbar vorhanden sei. Auf der Stelle müsse Schluss sein mit der schamlosen Bereicherung einiger Weniger, auf der Stelle müssten Wege gefunden werden, das Vermögen, das die Bevölkerung der BRD in über fünfzig Jahren geschaffen habe, neu zu verteilen. Man werde daher so lange in den generellen Ausstand treten, bis für alle vertretbare Lösungen gefunden worden wären. Man fordere zudem die sofortige Entmilitarisierung. Man fordere den Sieg der Träumer und Idealisten, man fordere zweifelsfreie und endgültige Abschaffung des Kapitalismus, der in seiner Geschichte von Unterdrückung, Krieg und Ausbeutung begleitet worden sei und Millionen Menschen das Leben gekostet habe und immer noch koste. Man sei sicher, dass es möglich ist, die Menschen dieser Erde zu ernähren, alle. Bis auf alle Ewigkeit solle Gerechtigkeit herrschen. Amen.
13:24
Angenommen, jemand fragte, welchen Beruf üben Sie eigentlich aus, er könnte antworten: Angler. Sitzen, die Angel ins Meer der Geschichten halten und Sätze herausziehen. Was für kontemplativer Beruf! dachte er beglückt über die neue Sicht seiner Dinge.
Mi 18.06.03 13:09
Der Auserwählte, Morpheus, Trinitiy, das Orakel, der Merowinger, der Architekt, der Mann mit den Schlüsseln, sie alle sagen tiefschwere Sätze über die Ausweglosigkeit ihrer Bestimmung, sie sagen, dass nichts Zufall wäre, dass jedem sein Schicksal bestimmt sei und alles komme, wie es kommen müsse.
So ausgestattet mit den Grundbinsenweisheiten der Weltreligionen ging der Kampf der Matrix gegen die sich im Erdkern verbergenden letzten Menschen in der Stadt Zion unter Hauen und Stechen vor sich.
Die spektakulärsten Stunts wurde belacht, was Hoffnung macht, denn was nutzt alle sichtbar gemachte Fantasie, wenn die Fantasie, die in uns wohnt, dennoch nie erreicht werden kann.
Trotzdem hat es Spaß gemacht zu sehen, wie sich zwei 60 Tonnen LKW bei frontalem Zusammenstoß auffalten wie Wellpappe, um dann in einem Flammenmeer zu verschwinden, während der Auserwählte (Keanu Reaves) wie seinerzeit Supermann selig mit vorgestreckter Faust davon fliegt.
Ist das nun ein guter Film, könnte man ihn fragen, und er würde antworten, er habe ihn belustigt angeschaut und sich gefragt, was das für Wahnsinnige sein müssen, die hunderte von Millionen Dollar in so ein Projekt stecken. Amerikanische Kapitalisten wahrscheinlich, die das Undenkbare denkbar machen. Wie sie eben so sind, diese Amerikaner - grundgütig und optimistisch.
Deshalb haben sich die Geldgeber auch gleich ausbedungen, dass es eine dritte Folge geben müsse, dass man den ratlos zurückgelassenen Kunden erneut melken könne, wenn man nur ein nebulös offenes Ende konstruiere.
Und so ist es dann auch. Der Auserwählte scheint tot, ist es aber wohl nicht, und die einzige Sexszene im ersten Drittel des Films weist darauf hin, dass - wie immer die Dinge auch ausgehen werden - hier neues Leben heranwächst - Leben, das der Auserwählte und Trinity gezeugt haben.
Und so weiter und so weiter.
Ein grandioses Hollywood Projekt, präzis getimete Kampfchoreographien, aber wie vieles von jenseits des großen Teiches mehr Schein als Sein. So liebt man sie, die transatlantischen Partner, liebt und hasst sie und erfreut sich ihrer Banalitäten. (Matrix Reloaded)17:27
Er hatte die Umschläge mit dem ihm zugesteckten Geld in einem großen Karton fortgetragen, diesen im Kofferraum deponiert, wollte dann noch einen Kaffee trinken, aber die Sorge um das Geld zwang ihn, sofort nach Hause zu fahren. Er trug den Karton in die Wohnung, zog die Jalousien herab und begann, Umschlag für Umschlag zu leeren. Die Arbeit gefiel ihm. Scheine und Münzen begannen sich auf dem Tisch zu mehren, er wühlte darin und fühlte sich endlich einmal bestätigt. Vielleicht ging es Onkel Dagobert ähnlich, wenn er vom Sprungbrett kopfüber in seine Taler sprang. Als schließlich alle Umschläge entleert waren, begann er zu zählen. Legte Strichlisten an, häufte die verschiedenen Münzen zu überschaubaren Einheiten, bündelte die Scheine, notierte Zahlenreihen und addierte sie. Prüfte, gelangte zum gleichen befriedigenden Ergebnis, ging in die Küche, holte Tuppadosen, füllte sie nach Scheinen und Münzen getrennt und brachte diese sie zur Bank.
Do 19.06.03 13:44
Heute trugen seltsam verkleidete Männer unter von vier Abhängigen getragenen Baldachinen silbern glänzende Monstranzen über Landstraßen zu kleinen, von steinernen jungen Frauen bewohnten Häusern, die an entlegenen Plätzen, über und über mit Blumen geschmückt, wohl nur zu dem Zweck existieren, dass die Menschen, die hinterm Baldachin liefen, sich vor ihnen versammelten und im Chor unverständliche Worte sprachen, offenbar, um diese junge Frau und noch andere, nicht physisch Anwesende zu loben, zumindest aber, ihnen für ihre Nicht-Anwesenheit zu danken, möglicherweise aber auch nur, um nach all dem Fernsehkonsum mal wieder ein wenig in der Natur unterwegs zu sein. Umweht vom Duft verbrannter, halluzinogener Substanzen gerieten manche in einen Taumel, der sie hier und dort dazu brachte, nicht physisch Anwesende zu sehen, zumindest aber zu spüren, was die seltsam verkleideten Männer zwar honorierten, aber nicht an die große Glocke gehängt haben wollten. Nach weiteren, schwer verständlichen Worten lösten sich die Gruppen meist älterer Menschen auf. Manche verspürten Linderung. Andere waren froh, endlich die Beine hoch legen zu können. Die steinernen jungen Frauen blieben - über und über geschmückt und leicht verwundert - allein zurück. Ob sie nun ungeduldig auf eine Wiederkehr dieser eigenartigen Wallfahrt warten, weiß man nicht. Es könnte jedoch auch sein, dass sie von all dem gar nichts mit bekommen haben.
Fr 20.06.03 11:27
Als er das Staatsarchiv passierte, glaubte er noch, jeden Augenblick umzufallen, typisch, dachte er, wieder einmal nicht die Grenze beachtet, wieder getan als wäre noch damals und man hätte zu beweisen, wie widerstandsfähig man ist. Zum Glück lief er nicht allein. Zum Glück war sie neben ihm, der er aber verschwieg, wie es ihm ging. Genügte es nicht, dass er selbst beunruhigt war? Atmen! Atmen war wichtig. Sich nur nicht verrückt machen lassen. Sie überquerten die Allee, gingen stadteinwärts, tranken auf der Terrasse am Brunnen einen Campari, danach ordnete sich wieder alles. Stellte sich auf, fragte nicht mehr, hatte das Beunruhigende der jederzeit möglichen allerletzten Sekunde verloren und Zukunft gewonnen. Ein Taxi brachte sie nach Hause. Die Nacht war ungewöhnlich ruhig, Westwind trieb den Autobahnlärm davon. Er berauschte das Grün, dieses von Menschen gedachte Grün mit Bäumen und Pflanzen aus aller Welt, die ringsum in den Gärten gediehen, dann kam Regen auf, vereinzelnd platschend zuerst, schüttend fadenlang dann, getrieben von heftiger werdenden Böen. Sie ging ins Bett. Er legte sich eine warme Decke um, dachte an die brütenden Tauben in dem Busch links vorm Balkon, der in weiten Bögen hin und her gerissen wurde, wich noch ein wenig weiter zurück, weil der Regen nun halbschräg fast bis ins Wohnzimmer trieb, saß so und schaute dem Wetter zu, einem seiner liebsten Unterhalter. Als er sich schließlich schlafen legte, war das Schlimmste vorüber und er dachte, dass es nicht schlecht ist, ab und an auszuprobieren, ob man überlebt oder nicht.
20:25
Sie lieben sich wie die Heiden.
Sa 21.06.03 8:49
dämliches aus dem hause men-sing:
heißa sprach der hängebauch, ich will essen, ess doch auch...11:33
Das Kind der lieben Nachbarin X. stand im Garten. Schaute ihm in die Augen, kaute auf einem Brot, sein Blick war kalt und verächtlich. Es schrie, wenn es Hunde sah. Es kreischte, wenn ihm etwas gegen den Strich ging. Es war Mittelpunkt und als Mittelpunkt war es gewohnt, dass man es beachtete. Nichtbeachtung trieb ihm Tränen in die Augen. Die Wohnung seiner Eltern ist in Flur, Küche und Bad bis auf Kopfhöhe gefliest. Alles ist klinisch. Vom ersten Tag ihres gemeinsamen Lebens in dieser Wohnung war alles so, wie es sein sollte und bleiben wird bis ans Ende. Still wird jeder Wunsch zu Grabe getragen, eh er gewünscht werden kann. Zukunft ist der Name für Angst und man soll nicht drüber sprechen. Gegenwart ist mühsames Überstehen. Samstag ist ein Tag, an dem man sich etwas ausdenken muss, damit es nicht langweilig wird. Standardantwort der Mutter ist "richtig". So kann sie der Welt ihren Stempel aufdrücken. Richtig. Falsch. Was erleben wir? Nichts.
17:01
In der Regel fuhr er ein paar Radlängen voraus. Wie das kam, war ihm unerklärlich, denn mit diesem konstant bleibenden Abstand hatten sie schon hunderte von Kilometern zurückgelegt. An Ampeln, Kreuzungen, bei sonstigem Halt aber hatte sie stets zu ihm aufgeschlossen, wenn es dann jedoch weiterging, verlor sie auf den ersten hundert Metern schon wieder an Boden, und wenn er sich dann irgendwann nach ihr umsah, waren es wieder die Radlängen Abstand. Es schien aber, dass ihre Art über Land zu fahren die ergiebigere war, denn wann immer sie ihn nach einer Etappe fragte, ob er dieses oder jenes gesehen hatte, musste er passen. Und so erzählte sie ihm, was er passiert, aber wohl nicht gesehen hatte. Woraus er schloss, dass sein Hauptaugenmerk beim Radfahren das zu erreichende Ziel sein musste, wenngleich er das nicht gern zugab. Ihres hingegen war das Durchqueren und Wahrnehmen der Landschaft. Sie sah mehr. So sind sie, die Frauen, dachte er neidisch.
So 22.06.03 16:47
Kurz bevor der Kampf begonnen hatte, fielen ihm die Augen zu. Er war zu Bett gegangen. Hatte bis in den frühen Nachmittag geschlafen, war ins Wohnzimmer gekommen, war auf den Balkon getreten, wo seine Eltern saßen. Sein Vater hatte gefragt, willst du den Kampf sehen? Er hatte genickt. In der Küche ist ein Stück Kuchen, hatte sein Vater gesagt. Darauf hatte der Sohn sich aus der Küche einen Florentiner geholt, sich aufs Sofa gesetzt und die Schlacht hatte begonnen.
Männer, die wie Tiere übereinander herfielen. Wütend und ohne erkennbare Strategie.
Sein Vater verriet nicht, wie das ausgehen würde. Auch nicht auf Nachfrage. Der Sohn fieberte mit dem Herausforderer. Er kommentierte dessen Schläge. Er schlug mit. Als der Kampf abgebrochen wurde, sprang er wütend auf, verfluchte den Titelverteidiger, deckte ihn mit Schimpfnamen ein, nannte ihn "britischer Pisser", schlug das Tetra-Pack Apfelsaft, das zum Glück leer war, auf dem Wohnzimmertisch flach, schleuderte ein Sofakissen fort, war den Tränen nahe, schrie "dieser Scheißmillionär", während sein Vater versuchte, ihn zu beruhigen. Ihn hinzuweisen auf die merkwürdige Wende, die die Ereignisse nun nehmen würden. Wie der Ruhm des Titelverteidigers, des Weltmeisters, vor aller Augen plötzlich zerfiele. Wie man ihn ausbuhen würde, und er, der sich siegreich fühlte, vor aller Augen als Verlierer dastand, jemand, der den Sieg nicht verdient hatte, der nach Punkten zurück lag. Sieh doch, hör doch zu, forderte sein Vater ihn auf, doch er stampfte, fluchte und wollte diese dramatische Wende nicht sehen. Wollte nicht sehen, dass sich Verhältnisse so plötzlich umgekehrt hatten, dass der Verlierer moralisch Gewinner war und der Gewinner Verlierer, geschockt von den Schlägen des Herausforderers, geschockt, weil der Mythos seiner Unbesiegbarkeit nun nichts mehr wert war.
All das wollte der Sohn nicht hören, es rumorte ihn ihm, und so stellte sein Vater schließlich den Videorekorder ab, während der Sohn aufgewühlt in der Wohnung herumlief und forderte, der Herausforderer und sein Bruder sollte einfach alle zusammen schlagen.
Mo 23.06.03 12:15
Er hatte in seinem Leben schon sehr viel Wäsche gewaschen. In der Regel mit ein- und demselben Programm, wenn nötig mit "Wolle" oder "Feinwäsche", aber davon, dass man ein empfindliches Kleid in einen Kissenbezug steckt, um es vor Beschädigungen durch die Rotation der Trommel zu schützen, hatte er noch nie gehört. So war besagtes Kleid als Kopfkissenbezug unter die Weißwäsche gelangt und mit 50 Grad gewaschen worden. Ist es nun, da die Wäsche beendet ist, etwa so klein wie ein T-Shirt? Ist sein Gewebe zerstört? Hat es alle Farbe verloren? Die Antwort lautet: nein. Das Fazit: Hausfrauenwissen ist älter als Hausmannwissen.
Di 24.06.03 8:09
Die Wahrheit über den Schriftsteller M.
Hallo Frau ...
wir haben diese Woche Hermann Mensing (wohnt in Münster) zu Gast (Sackgasse13, eigentlich so ab 10 Jahre).
Er hat aber auch mindestens 1 Titel für etwas ältere Kinder/Jugendliche geschrieben.
Er ist unheimlich gut angekommen, die Kinder waren durchweg begeistert UND er selber ist völlig unkompliziert !! Hat also allen Beteiligten Spaß
gemacht.
Informationen zu ihm (und Anfragen an ihn) sind möglich über seine Homepage.
www.hermann-mensing.de12:40
Obwohl er keinerlei Veränderungen am System vorgenommen hatte, spielte es heute von Beginn an verrückt. Behauptete, die zu bearbeitenden Dokumente wären nicht zur Bearbeitung freigegeben, man solle es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versuchen. Da er - wie viele - nur zu den dummen Nutznießern dieser Technologie gehört, gelang es ihm nicht, das System neu zu konfigurieren. Bis in den Mittag hinein meldete es ständig die gleiche verwirrende Nachricht. Erst mit Hilfe des Nachbarn gelang schließlich ein Neustart und nun scheint der Fehler behoben. Ein Glück, dass er nicht auf dem Weg zu einem fernen Planeten war, out of space, ohne Nachbarn. Ein Glück, dass die zu drückende Tastenkombination, die im Hintergrund arbeitende Programme schließt und erneuten Zugriff auf abgespeicherte Dokumente möglich macht, leicht zu merken ist. Vielleicht wäre alles leichter von der Hand gegangen, wenn nicht auch der Verstärker, der ihm hilft, mit Musik gegen den Morgen anzugehen, den Dienst verweigert hätte. So blieben Flüche. Da das System wieder bereit war, dachte er, es könne nicht schaden, die Festplatte zu defragmentieren. Während dies geschah öffnete er den Verstärker und säuberte ihn gründlich. Danach funktionierte auch er wieder. Und so kann der Tag nun endgültig beginnen. Wir sind nicht auf dem Mond. Wir haben erste Spuren gelegt. Es bleibt abzuwarten, ob wir heute neue hinzufügen können.
14:48
Beim letzten Grillfest hatten alle Nachbarn unter eine Plane gesessen, gespannt, um den plötzlich aufziehenden Regen fernzuhalten, alle, bis auf die, die nicht teilnehmen wollten oder konnten. Die nicht teilnehmen wollten, weil sie die Anwesenheit des Einen oder Anderen nicht guthießen, sind fortgezogen. Danach gab es ein Aufatmen allerseits, dann aber zogen hier und nebenan neue Nachbarn ein und seitdem haben sich die Gewichte seltsam verlagert. Der Klatsch hat Ausmaße angenommen, die es vorher nicht gab. Hinterm Rücken des jeweils anderen erzählt man sich täglich Widersprechendes, so dass er sich mehr und mehr zurück zog. Nun überlegt er, ein neues Grillfest zu initiieren, denn die vergangenen hatten sehr zum Zusammenhalt der Nachbarn beigetragen. Man saß, aß Verbranntes, redete, trank, die Kinder tobten herum, vielleicht trank er eine zu viel und der andere nichts, man lachte und ließ die Nacht herauf ziehen. Ja. Er war entschlossen. Er würde von Tür zu Tür gehen und ausnahmslos alle einladen. Mal sehn, was das würde....
Mi 25.06.03 9:50
Hi, ich bin's, der unkomplizierte Hermann. Habe mich eine Weile hinter der dritten Person Singular (DPS) versteckt, die, die immer schon auf der Toilette sitzt, wenn man herein kommt oder vorm Spiegel steht und sich rasiert. Heute würde ich es ihr zeigen. Hatte das lang verschollen geglaubte Hi-Man-Schwert meiner Kinder reaktiviert. Wenn alle Welt auf den Zauber Potters hereinfiel, würde es ein Leichtes sein, ihn mit so einem Schwert zu beeindrucken. Schließlich leuchtete es und machte geheimnisvolle Geräusche. Woher sollte DPS wissen, dass das Tricks sind. Nie käme er auf diesen Gedanken.
So präpariert betrat ich also an diesem Morgen den Balkon, auf dem, wie man sich denken kann (muss, soll), die DPS schon seit Stunden (Tagen, Wochen, man weiß das nie so genau) saß, an einer Tasse Tee nippte, die Schlagzeilen der Zeitung überflug und dabei Acht gab, nicht von der wahnsinnigen Nachbarin C. mit unkontrolliert hervorgestoßenen Sätze zur Strecke gebracht zu werden.
Hi, ich bin's, der unkomplizierte ... etc. pp. rief ich gut gelaunt, aber da war er schon auf den Beinen. Hatte geahnt, dass ich gegen ihn vorgehen würde. Hatte schon eine Hand auf der Balkonbrüstung, schwang sich hinüber, landete fluchend im Blumenbeet, fiel hin, rappelte sich auf und flüchtete.
Ich präsentierte voll Stolz mein Hi-Man-Schwert, als die liebenswerte Nachbarin C. auf der Bildfläche erschien. Mit in die Hüften gestemmten Armen stand sie vor meinem Balkon, fleckig hochrot im Gesicht, der blonde Damenbart aufrecht zitternd, und stieß empört hervor: So früh schon, Hermann?
Mir war nicht recht klar, worauf sie hinaus wollte? Glaubte sie, es sei zu früh, um auf dem Balkon zu stehen, oder bezog sich ihr nur schlecht getarnter Vorwurf auf die Tatsache, dass ich ein Hi-Man-Schwert schwang und durchaus bereit war, meine Wiedersacher damit wie weiland die Ritter der Kokosnuss in Teile zu hauen?
Ihr wahnsinnig liebenswerter Blick verwirrte mich derart, dass ich ebenfalls über die Balkonbrüstung sprang. Offenbar aber hatte ich die Rechnung ohne den Wirt gemacht, der in meinem Fall 54 Jahre alt heißt. Ich verstauchte mir den rechten Fuß, geriet ins Stolpern, fuchtelte mit dem Hi-Man-Schwert, und da der Schmerz mir für Augenblicke die Besinnung nahm, haute sich meine Nachbarin in vier kleine Teile.
Im gleichen Augenblick kehrte DPS zurück.
Halb so schlimm, sagte er. Stell dich einfach hinter mich. Sag, ich war's.
Er war's, sagte ich, als die Polizisten kamen. Nehmen sie ihn fest.
So kam es, dass ich wieder einmal gerettet wurde. Leider habe ich nun kein Hi-Man-Schwert mehr.
Do 26.06.03 10:21
erdmöbel konzert, münster, gleis 22
guten tag ekki,
wie schnell der fan vergisst, habt ihr vielleicht gespürt, als ihr dreierbahn spieltet und niemand yippee rief.
das heißt, einer rief. ich war's.
ich war sehr gespannt auf dieses konzert.
die cd hatte es mir nicht leicht gemacht, aber wie das so ist: gute musik braucht länger, und gerade in den letzten wochen ist mir das alte gasthaus immer lieber geworden.
gestern abend also (nach all den guten kritiken, die ich seit beginn eurer tour gelesen habe) die erdmöbel live:
ich konnte spüren, dass es nicht leicht ist, ein so ausgefeilte studioproduktion auf die bühne zu bringen. die elektronischen beats mit den tatsächlichen zusammen zu bringen, das alles für den hörer klar zu trennen, sie so aufzuführen, dass er nicht immer die cd hört.
ich war zu nah an der cd, die live gespielt wenig möglichkeiten zur spontaneität bietet, fand ich. bei den etwas älteren stücken schien das einfacher. ich schätze, da schwankt es immer zwischen den polen der reproduktion (cd präsentieren) und der anarchie (rock 'n' roll).
aber 'ne rock 'n' roll band seid ihr ja nun schon lange nicht mehr.
ich wünsche euch viel erfolg.
schönen gruß
hermann
11:31
Traute meinen Augen kaum, als ich diesen Klassiker (Marcel Breuer Nachbau) auf dem Spermüll sah. Trug ihn heim, reinigte und polierte ihn. Nun hat er den Tigersessel verdrängt.
13:22
g'tag hermann
hab dich gar nicht gesehn...
deine sensible künstlerseele hat natürlich alle vibrations aufgefangen, die nicht für den normalfan gedacht sind. zum glück sind nicht alle so empfänglich. war nicht unser abend, wir waren unkonzentriert, die leichtigkeit fehlte, die für uns so eminent wichtig ist. kein wunder bei einer kompletten reihe eltern und grosseltern direkt vor der nase. auch hassen wir es, vorbands zu haben, sogar nette amerikanerinnen aus frankfurt mit wanderklampfen sind da echte konzentrationskiller. reproduzieren tun wir eigentlich nur dem sinn nach und arnachie ist sicher nicht unser ding, da erwartest du irgendwas von früher, was uns längst langweilig geworden ist. ich würde das, was gestern fehlte spontaneität nennen. ist aber für gewöhnlich genug da.
gewundert haben wir uns genau wie du, dass wenig fans von früher da waren, das ist ungewöhnlich, vielleicht sind die alle inzwischen aus münster weggezogen. komische stadt, voller möglichkeiten, die keiner nutzen will. sogar ein wenig lokalpatriotismus ist dort verboten, bescheuert. aber vielleicht ist es schwer, stolz auf eine stadt zu sein, wo alle konzerthäuser schliessen.
ich glaube du musst mal nach köln zum hochhauskozert am popkomm-donnerstag kommen, da hast du dann hoffentlich unbeschwerteren spass.
grüsse
ekki
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Fr 27.06.03 9:25
Als ich gestern ins Bett ging, war plötzlich alles viel deutlicher als vorher. Mit bisher knapp fünfzehn Seiten des neue Romans lässt sich leichter planen als ohne jede Notiz. Im Vorstadium zum Traum reihten sich die Personen so auf, dass ersichtlich wurde, wer wofür steht, und wohin sich jeder einzelne entwickeln könnte. Ich bin optimistisch. Ich habe ein Bild. Ich könnte es noch nicht in Worte fassen, aber ich sehe es. Um es in Geschehen zu verwandeln, werde ich die übliche Zeit benötigen. Viel Zeit, in der ich nichts weiter tue, als darauf zu warten, dass mir der Fortgang einfällt, einige Zeit, um ihn aufzuschreiben, Zeit, ihn zu verwerfen und es erneut zu versuchen. Das ist an einem Freitagmorgen keine schlechte Erkenntnis. Sie könnte mich sogar dazu bewegen, heute einen Faultag einzulegen. Den Garten aufzusuchen und dort im Schatten zu schlummern. Mal sehn.
15:07
Die Gäste eines 5. Kindergeburtstages, der im Garten vorm Fenster meines Arbeitszimmers gefeiert wird, skandieren den Namen eines amerikanischen Brauseimperialisten, dessen Produkte sie trinken wollen. Sie skandieren derart fordernd, dass man sich nicht wundern muss, dass es mit der menschlichen Zivilisation rapide bergab geht und wir kaum noch Chancen haben. Trinkt doch, ihr kleinen Monster, die ihr es nicht besser wisst und von euren Eltern nicht aufgeklärt werdet, weil sie selbst es nicht besser wissen. Und so weiter und so fort, bis ins (Achtung, wir werden biblisch) siebte Glied. Oder ging das noch weiter?
Sa 28.06.03 14:19
Grau überzogen das Land. Erhebliche Müdigkeit in den Gliedern. Unter Umständen verursacht durch dies und das. Andererseits wäre aber auch jenes denkbar.
So 29.06.03 12:25
Die Ebene und der Wald sind die Landschaft der Routine. Das heißt Arbeit, Dörfer, Städte. Das heißt Menschen, die sich versammeln, Feste veranstalten, sich quer über eine Dorfstraße hinweg streiten, sonntags Gottesdienste abhalten. In Kriegszeiten ziehen gewaltige Armeen gegeneinander auf, und kaum einer weiß, worum gekämpft wird.
In den Bergen leben die Menschen abgesondert, und sie sprechen ungern miteinander. Die Männer sind oft bewaffnet und kämpfen aus persönlichen Gründen. Keiner hält Gottesdienste ab, hier spricht der einzelne mit seinem Gott. Hierher kommt man nicht, um die Mühen der Arbeit mit anderen zu teilen, sondern um einen Ausblick zu haben, um jemand anderem eine Landschaft zu zeigen, zu sagen: "Ab diesem Augenblick, an diesem hohen Aussichtspunkt, wird sich alles verändern." Ein Vater spicht mit seinem Sohn über die Berufung, nicht über die Einteilung der Arbeit oder die Aufteilung des Erbes. Er spricht nicht vom Wachstum der Pflanzen, sondern von Leben und Tod.
In der Ebene treten sich Erzfeinde in Zwisten und Prozessen gegenüber. Auf dem Berg treten sie sich mit der Waffe in der Hand gegenüber, und nur einer von beiden kommt wieder herunter. In der Ebene sinniert der Mensch darüber, was aus seinem Leben wohl werden soll. Auf dem Berg sinniert er darüber, was das Leben ist. Die Ebene kann im besten Fall Menschen hervorbringen, die Mitgefühl haben, die Verständnis zeigen für den, der anders ist, die imstande sind, so etwas wie Demokratie aufzubauem, im schlechtesten Fall Menschen, die von der Tyrannei der Diktatur gelähmt sind. Solche Menschen sind in den Bergen selten. Dorthin flüchtet einer, der sich der Ordnung der Ebene versagt. (1)20:50
Immer um diese Jahreszeit dröhnt die Eins und die Drei durch das Dorf, während Eingeborene in schwarzen Hosen, weißen Hemden, mit grünen Jägerhüten und Gehstöcken, an deren Enden sie kleine Blumensträuße gebunden haben, sich dem Komasaufen hingeben. Diese besondere Form der Getränkezuführung ist statthaft und wird nicht strafrechtlich verfolgt. Selbst angesehene Eingeborene sieht man an Tagen wie diesem völlig entseelt, mit vernebeltem Blick, lallend in Straßenbegleitgrüns hocken, in aller Öffentlichkeit urinieren oder in Vorgärten brechend. Nur noch etwa zwanzig Prozent der in diesem Stadtteil lebenden Menschen sind Eingeborene, die aber sind ausnahmslos unterwegs, schon seit dem Morgen treiben sie sich in einschlägigen Lokalen herum, einige schießen unter seltsamen Vorwänden auf Vogelnachbildungen, die anderen trinken. Voller Staunen beobachte ich dieses Schauspiel seit meiner Kindheit. Immerhin verdanke ich ihm meine Liebe zum Schlagzeugspiel, denn es geschah auf der Festwiese, dass mich der Feuerwehrmann Juppi (ich sprach an anderem Ort schon einmal davon) auf die große Pauke hauen ließ. So hat alles zwei Seiten.
Das übertriebene Interesse an der Sexualität macht die Menschen unglücklich. Es wäre besser, sie wären einmal im Jahr eine Woche lang heiß und im übrigen frei von dieser exaltierten und überschätzten Intimität. Nur der idiotische Mensch konnte auf diese blödsinnige Idee kommen, der Paarungsakt hätte etwas mit Liebe zu tun. (2)
13:49
Heute neu: Chicago, Colorado, San Diego, Huyancayo. Wo? Hier!!!
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1. Lennart Hagerfors "Der Sarekmann" Rowohlt 1993 // 2. ebd. //(aktuell) - (download) - (galerie) - (in arbeit) - (notizen) - (start)